25.2.07

Lübkes Erbe

Was man an so manchen Politikern hat, merkt man bisweilen erst, wenn sie von der Bildfläche verschwunden sind. Nicht selten hinterlassen jedenfalls einige von denen, die man Zeit ihres aktiven Wirkens verflucht hat, nachgerade schmerzliche Lücken – weniger deshalb, weil sie Großes und Bleibendes vollbracht hätten, sondern hauptsächlich, weil ihre Demissionen den Unterhaltungswert der politischen Bühne doch arg minderten. Noch zu Kohls Zeiten standen haufenweise Kabarettisten in Lohn und Brot, die den Dicken besser parodieren konnten als er sich selbst, und auch eingefleischte CDU-Parteigänger übten sich in Nachmachereien, wenn sie unter Ihresgleichen waren. Dass heute einer gänzlich humorfreien Gesundheitsministerin und ihrem kleinen Sprachfehler komödiantische Sendungen gewidmet werden, zeigt die ganze Not, die inzwischen herrscht. Es gibt einfach kaum noch jemanden, den aufs Korn zu nehmen sich lohnte. Und das lässt Rückschlüsse zu auf die Qualität der Berufspolitik und ihre Protagonisten: Das meiste ist – und die meisten sind – ziemlich austauschbar, konturlos und langweilig, mithin noch nicht einmal satiretauglich.

Muss man da nicht eigentlich dankbar sein für einen wie den Edmund Rüdiger Stoiber (Foto), geboren kurz nach dem Beginn des Wehrmachts-Überfalls auf die Sowjetunion als Sohn eines Oberpfälzers und einer Rheinländerin (!), verheiratet – und damit dem Zeitgeist widerstehend – seit 1968, noch dazu mit einer Heimatvertriebenen, Wehrdienst bei den, sagen wir, traditionsbewussten Gebirgsjägern in Mittenwald, promovierter Jurist und, nun ja, Polit-Profi seit Menschengedenken? Versorgt er ein geneigtes Publikum nicht seit Jahren regelmäßig mit Zoten und Grotesken, von denen man noch lange spricht? Von wie vielen seiner Kolleginnen und Kollegen kann man das sonst noch sagen? Wer hat heute noch die Nonchalance, mit derart mangelhaften, jederzeit peinlichkeitsgefährdeten rhetorischen Fähigkeiten zum – meist erfolgreichen – Sturm auf die höchsten Ämter zu blasen? Und wer würde es noch schaffen, nicht nur Amigo-Affären behände zu trotzen, sondern sogar die dreiste Observation einer parteiinternen Widersacherin noch in eine feurige Anklage gegen letztere zu verwandeln – die in der Forderung nach deren Ausschluss wegen „parteischädigenden Verhaltens“ gipfelte – und sich für diesen Aufruf zur Geschlossenheit auch noch feiern zu lassen? „Der Hausfriedensbruch im Lichte aktueller Probleme“ war seinerzeit das Thema von Stoibers Dissertation, und in Verbindung mit der Causa Pauli ist das schon richtig großes Kino.

Der Noch-Ministerpräsident hatte aber – wenn auch gewiss völlig unfreiwillig – noch ganz andere Humoresken in petto. Und er ist in dieser Hinsicht auf den politischen Brettern der legitime Nachfolger Heinrich Lübkes, Bundespräsident von 1959 bis 1969. Stoibers Gestammelte Werke findet man inzwischen auf zahllosen Internetseiten – Spiegel Online hat einige der Perlen nun sogar in einem Best of zusammengestellt –, und ein Vergleich mit Lübkes Schätzen, von denen nicht wenige ebenfalls im Netz aufbewahrt sind, unterstreicht die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Was Lübke beispielsweise die Tiefkühlketten waren, ist Stoiber der Transrapid. Der Bundespräsident wusste damals sorgfältig abzuwägen zwischen gefrorenen und frischen Fischen:
„Ich habe in Frankfurt ein Essen, ein Fischessen mitgemacht, wo also die Fische aus den Truhen sofort in die Küche kamen. Und die waren dann von den zuständigen Köchen oder Hausfrauen waren die entsprechend behandelt. Und ich kann nur sagen, es ist zwischen dem und den nicht in, durch die Truhen und die Tiefkühlketten herangebrachten frischen Fische, ’s ist gar nicht zu vergleichen. Man behauptet nun, die Hausfrauen beziehungsweise die Fischesser hätten sich an die etwas angegangenen, oder äh, Hautgout ausgegangenen Fische besser gewöhnt, sie wären das gewohnt und liebten das, die, dieses mehr als die Frischen. Ich muss nur sagen, wer das sich nebeneinander hält, der kann überhaupt keine andere Wahl, Wahl, wählen, das. Ohne die, ohne die Tiefkühlketten werden wir uns späterhin nicht mehr die Ernährung verbessern können.“
Das bayerische Freistaatsoberhaupt wiederum brachte prägnant und unmissverständlich auf den Punkt, was die Vorzüge der Schnellbahn in der süddeutschen Metropole sind und inwieweit sich letztere ergo von anderen Fleckchen der Erde abhebt:
„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten, ohne dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen, am ... am Hauptbahnhof in München starten Sie ihren Flug zehn Minuten – schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an, wenn Sie in Heathrow in London oder sonstwo meine ’s Charles de Gaulle in, äh, Frankreich oder in, äh, in... in Rom, wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen, dann werden Sie feststellen, dass zehn Minuten Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen, um ihr Gate zu finden. Wenn Sie vom Flug – äh vom Hauptbahnhof starten Sie, steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen, in, an den Flughafen Franz-Josef Strauß, dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München – das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern, an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“
Die Schnittmenge erweitert sich noch, wenn man Lübkes Ansprache in Madagaskar aus dem Februar 1966 Stoibers neuester Überraschung gegenüberstellt: Während der Sauerländer (Foto) das Präsidenten-Ehepaar Tsiranana als „Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Tananarive“ adressierte, ihm also kurzerhand den Namen der Hauptstadt ihres Landes verpasste, exhumierte der in Wolfratshausen lebende Oberpfälzer pünktlich zum Karnevalsende ein früheres sowjetisches Staatsoberhaupt und machte es mal eben zu dem der Vereinigten Staaten: „Ich habe es für wohltuend empfunden, dass die Bundeskanzlerin gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Breschnew Guantanamo kritisiert hat und nicht mit dem Rechtsstaat in Übereinklang beurteilt hat.“ (Es ist wohl keine allzu gewagte Annahme, dass Stoiber hier einen durchaus profunden Einblick in seine Assoziationswelten gewährt hat: Vermutlich hat er bei „Guantanamo“ an „Gulag“ gedacht, und für den Rest war dann Freud zuständig.) Bemerkenswert darüber hinaus die Kenntnis der beiden Staatsmänner in Sachen Fußball. Wo Lübke nach dem Wembley-Tor 1966 kurz und knackig wusste: „Der Ball war drin“ – die Niederlage der Deutschen gegen England im WM-Finale also neidlos anerkannte –, verschlug es Stoiber angesichts der Überlegenheit eines anderen Gegners um ein Haar sowohl die Sprache als auch die Arithmetik:
„Wer ein Trio vorne hat wie Ronaldo, Ronaldinho und, äh... die and’ren Brasilianer, Carlo... äh, Roberto Carlos, das ist, äh, das ist, äh, Rivaldo dazu noch, Rivaldo, äh, äh, – äh, äh... Rivaldo und, äh, Ronaldinho und Ro... und Ronaldo also, das dann verloren zu haben, das ist zwar bitter, aber nicht so bitter.“
Doch auch jenseits dieser auffälligen Parallelen ist beiden gemein, dass sie immer wieder mit unvergesslichen semantischen und syntaktischen Sottisen aufwarten konnten respektive können: Lübke etwa mit seinem Gedächtnisverlust im Zonenrandgebiet, seiner Expedition nach Kanada auf den Spuren Karl Mays oder seinem etwas lückenhaften Gartenschau-Märchen; Stoiber nicht zuletzt mit Problembruno, hingerichteten Blumen und einem Gärtner als Bock oder echten gynäkologischen Sensationen. In einem Punkt gibt es jedoch gravierende Unterschiede: Als dem Bundespräsidenten allmählich immer mehr Hohn entgegenschlug, entschied der Bayerische Rundfunk, die entsprechenden Vorstellungen der Münchner Lach- und Schießgesellschaft nicht länger live zu übertragen. Ein solches Spaßverbot ist im digitalen Zeitalter schlicht nicht zu bewerkstelligen; Harald Schmidts Spottkübel etwa sind bundesweit zu empfangen. Und auf Originaltöne ihres Ministerpräsidenten wollen die Vorälpler ohnehin nicht verzichten.

Wenn der nun geht, wird die Welt auch nicht besser. Aber definitiv weniger komisch. In dem, was gewöhnlich als Sachfragen daherkommt, wird sich Stoibers Nachfolger nicht von seinem Vorgänger unterscheiden. Doch er wird nicht das Talent haben, mit schrägen Volten ein ums andere Mal für annehmbare Unterhaltung zu sorgen. Und das ist dann, ja doch, ein herber Verlust.

23.2.07

Polnische Kontinua

Dass Antisemitismus in Polen nicht eben eine Randerscheinung ist, um es zurückhaltend zu formulieren, dürfte sich nur schwer bestreiten lassen. Vielmehr hat der Hass gegen Juden in dem osteuropäischen Land eine ausgesprochen lange Tradition, und er mobilisiert bis heute die Ressentiments. Bereits 1267 beschloss das Konzil von Wroclaw, gesonderte, von den Christen getrennte Wohnviertel für Juden zu schaffen, und es zwang letztere zudem, besondere Kennzeichen zu tragen. Während der polnischen Kriege gegen die Ukraine, Russland, Schweden, die Türkei und die Tataren zwischen 1648 und 1717 wurden über 700 jüdische Gemeinden ausgelöscht. Auch in den Jahrzehnten danach kam es immer wieder zu antijüdischen Ausschreitungen und Pogromen, denen Zehntausende Juden zum Opfer fielen. Und als sich Ende des 19. Jahrhunderts in Europa allenthalben nationalistische Ideologien entwickelten und verbreiteten, waren es Roman Dmowski und seine panslawistische und stramm antisemitische Nationaldemokratie (endecja), die vor allem im polnischen Kleinbürgertum auf Resonanz stießen, was insbesondere in den Städten zu antijüdischen Schmierereien, Boykotten jüdischer Geschäfte und Übergriffen führte. Etliche polnische Juden emigrierten daraufhin in westliche Staaten, allen voran in die USA. Doch in der zweiten polnischen Republik setzte sich der Antisemitismus fort, sowohl auf Regierungsebene als auch in der Bevölkerung. Allein in den Jahren 1918 und 1919 gab es rund 130 antijüdische Ausschreitungen, nicht zuletzt das Pogrom von Lvov mit weit über einhundert Toten. Weitere Massenauswanderungen waren die Folge.

Heute leben in Polen etwa 5.000 bis 10.000 Juden. 1939 – bevor die Wehrmacht das Land überfiel – waren es 3,35 Millionen, 1945 noch 50.000. Im von den Deutschen besetzten Polen befanden sich die großen Vernichtungslager: Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Chelmno und Belzec. Dort ermordeten die Nationalsozialisten etwa die Hälfte der insgesamt sechs Millionen Juden. Doch die Shoa habe „im kollektiven Bewusstsein Polens vierzig Jahre lang kaum Spuren hinterlassen, und der Antisemitismus ist von diesem Ereignis nahezu unberührt geblieben“, konstatiert der Historiker Lutz Eichler, und Raul Hilberg erläutert: „Aus der Sicht des Großteils der Polen waren die Juden, obwohl sie immer wieder ihre Loyalität zum polnischen Staat beteuerten, nicht fähig, den Geist und die Sehnsüchte des polnischen Volks zu verstehen. Mit Beginn der Okkupation vertiefte sich die Kluft.“ Diese Sehnsüchte und ihre Hintergründe beschreibt der Münchner Historiker Chaim Frank so:
„In der polnischen Bevölkerung mischte sich stets der religiöse Antisemitismus mit dem Antikommunismus, der in enger Verbindung zur polnisch-russischen Geschichte stand: War das unterdrückende Regime früher das zaristische, später das stalinistische, so wurde die Schuld an der feudalistischen wie kommunistischen Herrschaft den Juden zugeschrieben, die überdies auch den Christensohn ‚ermordetet’ hatten. Dieses stereotype Judenbild hat [...] – ungebrochen aller Geschehnisse – bis heute seine Gültigkeit in Polen und wurde im Verlauf der Nachkriegsjahre weiter manifestiert. In ihrer judäo-kommunistischen Phobie betrachten sich die meisten Polen als ‚Opfer’ eines anti-polnischen Komplottes und sehnen sich in jene Zeit der Großpolnischen Ära zurück, wo die polnische Grenze noch weit bis in die heutige Ukraine hineinreichte.“
Lutz Eichler benennt weitere Gründe, warum selbst die Shoa an all dem nichts zu ändern vermochte:
„Während im Land der Täter der Antisemitismus gewissermaßen ‚durch Auschwitz hindurch muss’ und sich dabei zu dem spezifischen sekundären Antisemitismus transformierte (‚Die Deutschen verzeihen den Juden Auschwitz nie’), blieb er im polnischen öffentlichen Diskurs stets präsent. Das lag zunächst an der anderen symbolischen Aufladung von Auschwitz, das von den Staatskommunisten als Ort des Martyriums des polnischen Volkes und insbesondere seines antifaschistischen Widerstandes umgedeutet wurde und der Legitimation des volksrepublikanischen Staatsprojekts diente. Noch in dem 1988 erschienenen offiziellen Standardwerk der Gedenkstätte Auschwitz (Interpress Verlag) heißt es: ‚Die KZ waren das Hauptinstrument zur [...] Vernichtung der unterjochten Völker, vor allem der slawischen, darunter besonders des polnischen Volkes und der Völker der UdSSR, sowie der Juden und der Menschen, die nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden angesehen wurden’.“
Und die nationalen Mythen des katholischen Landes bestehen auch nach dem Ende des Realsozialismus fort, der seinerseits mit militanten Kampagnen gegen „Zionisten“ und „Agenten des Weltjudentums“ die antisemitischen Traditionen in Polen konsequent weiterentwickelt hatte. Bei diesen Mythen spielt der Katholizismus eine tragende Rolle, wie Eichler weiß:
„Der polnische Nationalismus speist sich aus der Überzeugung einer kollektiven Märtyrer- und Messias-Rolle, die ein Opfer neben sich nicht duldet. Das nationalistische Sendungsbewusstsein hat eine religiöse Tiefe, die die lange Zeit verzögerte Nationenbildung mythisch auflädt. Die Dreiteilung Polens durch die Großmächte wird als heilige Dreifaltigkeit interpretiert, der polenfeindlichen Politik der Teilungsmächte wird der ehrenvolle Märtyrertod entgegengesetzt, der über den Widerstand zur ‚Auferstehung’ des ‚Christus der Völker’ führen müsse. Die Vorstellung, zum auserwählten Volk zu gehören, wird durch die schiere Präsenz ‚der Juden’, aber darüber hinaus durch die vermeintliche jüdische Reklamierung von Auschwitz als Martyrium, empfindlich gestört.“
Deshalb war die Entrüstung auch groß, als 2002 der von polnischen Antisemiten ins Werk gesetzte Massenmord an den jüdischen Einwohnern der polnischen Kleinstadt Jedwabne bekannt wurde, denen Kollaboration mit der Sowjetunion gegen Polen vorgeworfen worden war – eine Verbindung aus traditionellen antisemitischen Feindbildern mit dem des „jüdischen Kommunisten“ – und die man in einer Scheune zusammengetrieben und verbrannt hatte. Die deutschen Besatzer hatten dabei fraglos erst die Voraussetzung für das Pogrom geschaffen: Ihre Herrschaft war unumschränkt; sie hätten es daher jederzeit stoppen können. Durch die Zusicherung der Straffreiheit ermunterten die Nationalsozialisten die polnischen Täter; alles Weitere lag in deren Händen. Es handelte sich also weniger um Kollaboration im engeren Sinne, sondern um eine originär polnische antisemitische Tat. Das Pogrom von Jedwabne gehört weniger zur Geschichte der Shoa als vielmehr zur Geschichte des Antisemitismus in Polen.

Der wiederum ist beständig bis in die Gegenwart – auch in personeller Hinsicht. Und hier ist nicht zuletzt die Familie Giertych zu nennen, die „mit ihrem publizistischen Werk ein ideologisches Kontinuum“ bildet, wie Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) feststellte, „das zwar unterschiedliche Ausprägungen aufweist, aber klar als Einheit wahrnehmbar ist. Großvater, Vater und Sohn Giertych berufen sich in ihrem politischen Credo vor allem auf zwei Autoren: auf den nationaldemokratischen Politiker Roman Dmowski“ – samt seiner „endecja“ und auf den katholischen Historiosophen Feliks Koneczny“. Letzterer lebte von 1862 bis 1949 , „propagierte eine reine polnische Zivilisation, die sich vom ‚byzantinischen’ Deutschland und vom ‚turanischen’ Russland abzugrenzen hätte“, und hielt Juden für Parasiten. Daran knüpften die Giertychs an; im Zentrum ihres Denkens „stehen der Katholizismus, der Antieuropäismus und Verschwörungstheorien“, befand Schmid. Großvater Jedrzej (1903–1992, Foto) habe Adolf Hitler für eine ambivalente Figur gehalten, denn dieser habe einerseits „das für Polen gefährliche Preußentum gemildert, außerdem seien nun die beiden Hauptfeinde Polens, die Deutschen und die Juden, getrennt“; darüber hinaus habe er „die Nation geeint, seine Heimat ‚entjudet’ und für bürgerlichen Wohlstand gesorgt“. Andererseits, so befürchtete Jedrzej Giertych, könne der Erbfeind Deutschland Polen in jedem Augenblick überfallen. „In literarisierter Form lassen sich Jedrzej Giertychs Angstfantasien in einem Roman mit dem reißerischen Titel ‚Der Anschlag’ (1938) nachlesen“, schrieb der NZZ-Journalist:
„Die Handlung ist einfach gestrickt: Jüdische Verschwörer führen in Polen eine Revolution durch und verüben Anschläge auf Universitäten, Bischofssitze und Kirchen. Die Revolutionäre bilden eine provisorische Regierung, errichten eine Föderation nach Schweizer Vorbild und nennen den neuen Staat ‚Judaeo-Polonia’. In letzter Minute gelingt es allerdings, die Revolutionäre aus dem Land zu vertreiben. Giertychs Roman endet mit einer hehren Glücksvision: ‚Und plötzlich erblickten wir das wahre Polen. Dies wurde möglich durch die Befreiung Polens von den Juden.’“
Jedrzejs 1936 geborener Sohn Maciej Giertych wiederum (Foto unten, links), Biologieprofessor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, feiere den faschistischen Diktator Francisco Franco als Verteidiger des katholischen Spaniens und glaube, Polen werde heute von Freimaurern bedroht:
„Die EU sei nur der Anfang des freimaurerischen Projekts der Errichtung einer Weltherrschaft. Als einzelne Elemente dieser Verschwörung nennt er die Bedrohung der lateinischen Zivilisation, die Vermischung der Rassen, den Atheismus, den Bevölkerungsrückgang und schließlich die Verlockungen der Sozialfürsorge. In der Homosexualität erblickt Maciej Giertych, der sich beruflich mit der Genetik von Bäumen befasst, eine ernsthafte Gefahr für die polnische Bevölkerung, da sie die Fortpflanzung der Nation behindere. Homosexualität stelle eine Aberration dar, die aber therapierbar sei.“
Auch Roman Giertych (Foto, rechts), Jahrgang 1971, polnischer Vizepremier, Bildungsminister und Maciejs Abkömmling, ist dieser Ansichten. Wie sein Vater gehört er der rechtsradikalen Liga der polnischen Familien (LPR) an; beide bezweifeln wie ihre Partei öffentlich die Evolutionstheorie und plädieren für eine Integration des Kreationismus in die Lehrpläne polnischer Schulen – was insbesondere bei vielen Schülern und deren Lehrern für heftige Proteste sorgt. Und damit nicht genug: Eine Vorfeldorganisation der katholischen Kirche darf auf Geheiß Roman Giertychs seit kurzem die Internetfilter in den Schulcomputern installieren; darüber hinaus wird mit einem neuen Schulfach namens „Patriotische Erziehung“ an der nationalistischen Indoktrination der Schülerschaft gearbeitet. Und sogar körperliche Züchtigungen von renitenten Schülern werden von der LPR ernsthaft in Erwägung gezogen. „Alle Giertychs verfolgen eine fundamentalistische Linie und lehnen die Liberalisierung des Priesteramts, eine ökumenische Öffnung, Verhütung, Fristenregelung, Scheidung und Homosexualität kompromisslos ab“, fasste Ulrich M. Schmid einige familiäre Gemeinsamkeiten zusammen.

Zu denen gehört wesentlich aber auch der Antisemitismus, und zum Beweis dessen hat Maciej Giertych nun neuerlich für einen Skandal gesorgt. Der 70-jährige, der für die LPR im Europaparlament sitzt, stellte just dort vergangene Woche eine 32-seitige Broschüre mit dem Titel „Civilisations at war in Europe“ („Zivilisationen im Krieg in Europa“) vor, in der es unter anderem heißt: „Die jüdische Zivilisation lässt sich bei anderen Zivilisationen nieder, mit Vorliebe bei reichen. Sie tendiert dazu, von ärmeren in reichere Länder auszuwandern“ und sei „auf Trennung und Differenzierung von den umgebenden Gemeinschaften aufgebaut“. Juden zögen es vor, „ein getrenntes Leben in Apartheid von den umgebenden Gemeinschaften zu leben“: „Sie bilden ihre eigenen Gemeinden (Kahals), sie regieren sich selbst nach ihren eigenen Regeln, und sie achten darauf, auch eine räumliche Trennung beizubehalten. Sie bilden ihre Ghettos selbst, als Bezirke, in denen sie zusammen wohnen, vergleichbar den Chinatowns in den USA.“ Durch all dies hätten sie „biologische Unterschiede“ entwickelt; Polen und andere Teile Europas mit einem „katholischen Herzen“ könnten daher nicht mit einer „Torah-basierten Zivilisation“ koexistieren.

Der Europäische Jüdische Kongress (EJC) verurteilte Maciej Giertychs Schrift als „antisemitisches Pamphlet“, in dem „die Rassentheorien der Vorkriegszeit verwendet werden, die zum Holocaust geführt haben“; der EJC drohte mit rechtlichen Schritten und forderte, dass die Kosten für die Publikation rückvergütet werden, sofern sie aus Mitteln der Europäischen Union bestritten wurden. Auch die polnische Organisation Nigdy Wiecej (Nie wieder) protestierte scharf, und die Sozialdemokraten im Europaparlament forderten eine Untersuchung. Maciej Giertych jedoch hat nichts zurückzunehmen. Zwar drücke die Broschüre nicht seine eigenen Gedanken aus, sondern die Philosophie des – bereits erwähnten – Feliks Koneczny; gleichwohl unterstütze er dessen Lehren: „Sie sind sehr gute Ideen, und man sollte ihnen folgen. Ich schließe mich seinen Methoden an“, sagte der ältere Giertych.

Noch Fragen?

19.2.07

Deutsche Selbstbeehrung

Lebte der große Publizist Eike Geisel noch, er hätte dieser Tage ziemlich sicher in die Tasten gegriffen, um die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität Berlin an Marcel Reich-Ranicki gebührend zu kommentieren. Und er hätte dazu nur bei sich selbst abzuschreiben brauchen, denn das, was er schon vor fünfzehn Jahren anlässlich der Monumentalausstellung Jüdische Lebenswelten im Berliner Gropiusbau in konkret ausführte, fasst auch 2007 noch immer punktgenau zusammen, was die Deutschen in der Regel leitet, wenn sie Juden respektive deren Wirken zu Ehren kommen lassen: „Alle beteuern, wie groß der Verlust durch die Austreibung und Ermordung der Juden sei“, stellte Geisel damals, im März 1992, fest. Doch diesen Verlust habe nicht nur nie jemand verspürt, „es ist gar keiner. Denn in Wahrheit hat die Massenvernichtung bewiesen, erstens, dass man sie veranstalten kann, und zweitens, dass ein derartiges Verbrechen langfristig gut ausgeht und sich nicht nur in Exportquoten, sondern auch in Kultur auszahlt.“ Wenn heute, 62 Jahre (!) nach der Befreiung von Auschwitz, einem jüdischen Literaturkritiker, also Kulturschaffenden, die Ehrendoktorwürde jener Hochschule zuteil wird, die ihn 1938 nicht aufnahm, weil er Jude ist, sind wirklich alle ergriffen und empfinden – wie der Präsident der Humboldt-Universität, Christoph Markschies„unendliche Wehmut und ungeheuere Ironie“. Doch dabei gilt, was schon Geisel wusste:
„Die Klage über den Verlust ist nicht ernst gemeint. Es handelt sich dabei um eine weinerliche Selbstbezogenheit, nicht um Trauer über andere, sondern um Mitleid mit der eigenen Banalität, kurz: um die Behauptung, die Deutschen hätten sich mit ihren Verbrechen selbst etwas angetan.“
Die Ironie, die Markschies beschwor, ergibt sich daraus wie von selbst. Mit ihrer Hilfe möge man „eine feierliche Erstarrung vermeiden“ und sich „der ständigen Bedrohung von Wahrheit und Freiheit in der Wissenschaft bewusst bleiben“, sagte er. Magnifizenz haben begriffen, dass man hierzulande nicht mehr einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit fordert, sondern das Bekenntnis zu ihr perpetuiert und es offensiv für ein anderes Deutschland nutzt, das seine Geschichte inklusive dem „Nie wieder!“ längst gewinnbringend einzusetzen versteht. Anders gesagt: Ohne Vernichtungslager kein größtes Mahnmal der Welt mitten in Berlin, ohne Treblinka und das Warschauer Ghetto keine Ehrendoktorwürde für Reich-Ranicki. Und deshalb ist es nur konsequent, dessen Auszeichnung als „eine Ehrung für uns alle“ zu begreifen, wie es der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher tat, der darüber hinaus befand: „Dieser Tag heute, das sei gesagt, ist wichtiger für uns als für ihn.“ Und zwar deshalb:
„Geehrt wurde der Mann, der das alles durchlitt und die tiefste Kränkung empfand und doch, Jahrzehnte später, mit unendlichem Witz und Humor, mit Scharfsinn und Temperament, die deutsche Literatur belebte und befeuerte, ‚drüben und hüben’, wie eine seiner ersten Kolumnen hieß. Wir können unseren Kindern davon erzählen, weil, das ist keine Übertreibung, einer wie er nicht mehr ist und nicht mehr kommt. Marcel Reich-Ranicki ist die letzte Erscheinungsform (!) jener literarisch-kosmopolitischen Intelligenz, die die Weimarer Republik prägte. Er lässt uns ahnen, was hätte sein können, wenn sie geblieben wären und nicht ermordet oder in Tod und Exil getrieben worden wären: Menschen wie Walter Benjamin und Joseph Roth, Schönberg und Einstein, Wassermann und Kerr.“
Mit der Vernichtung der europäischen Juden haben die Deutschen demzufolge ein Menschheitsverbrechen begangen, unter dem zuvörderst sie selbst zu leiden haben, weil es nicht zuletzt ihr Selbstverständnis als Kulturnation nachhaltig desavouierte. Stärker noch als das Bedürfnis der Sieger, sich als Opfer einer kulturellen Selbstverstümmelung zu fühlen, ist indes ihr unersättliches Verlangen, die einst Ausgestoßenen sich auf jede nur denkbare Weise einzuverleiben“, resümierte Eike Geisel schon vor anderthalb Jahrzehnten den deutschen Versuch, die „Eigenschaften zu verzehren“, die man in die Juden als Schirrmachersche Erscheinungsformen hineinprojiziert: „Im Unterschied zur selbstlosen Niedertracht der Nazis gehorcht diese frivole Kommunion dem ganz eigennützigen Zweck jener ‚erwachsenen Form nationaler Identitätssuche’, deren heimliche Devise lautet: am jüdischen Wesen soll Deutschland genesen.“ Und nun, wo sie unheilbar gesund sind, lassen die Deutschen, hier vertreten durch den Präsidenten der ältesten Universität ihrer Hauptstadt, jemandem verbindlichen Dank ausrichten, den ihre Vorfahren 1938 ausgewiesen hatten und der – im Unterschied zu seinen Eltern, die in Treblinka ermordet wurden – mit knapper Not die Shoa überlebte: Dass Sie die Ihnen angetragene Ehrendoktorwürde angenommen haben und dieses von seiner Geschichte gezeichnete Haus nach so vielen Jahren wieder betreten haben, [...] bewegt uns sehr.“

Denn damit wäre ein weiterer Schritt getan, den Nationalsozialismus letztlich als Betriebsunfall abhaken zu können, der am deutschen Ruf als Land der Dichter und Denker zwar vielleicht ein bisschen kratzte, ihn aber eigentlich nicht dauerhaft zu ruinieren vermocht haben soll. Deshalb durfte Kulturstaatsminister Bernd Neumann auch sagen, mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Reich-Ranicki komme „etwas zum Ende, das vor langer, sehr langer Zeit“ begonnen habe. Und deshalb durfte er auch betonen, kaum einer habe „in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr für die deutsche Sprache und die Literatur getan als Sie, dem die Deutschen so viel Leid zugefügt haben“ und der diesen Deutschen die Sprache und Literatur „dennoch als Geschenk zurückgegeben“ habe. Als Präsent also – vermutlich aus lauter Dankbarkeit für die harte Schule, durch die der Geehrte gehen musste, die ihn jedoch nur noch stärker und reifer hat werden lassen, wie auch sein Laudator Peter Wapnewski (Foto) fand: „Er hat durch Zielsicherheit und Charakter und Entschiedenheit dazu beigetragen, dieses Unheil für sich und seine Frau zu überwinden.“

Dabei verzeiht man Reich-Ranicki hierzulande inzwischen offenbar auch die vermeintlichen Um- und Irrwege seines (Über-) Lebens, für die man ihn vor kurzem noch heftig gescholten hatte: Als 1994 bekannt wurde, dass der Literat kurz nach seiner Befreiung durch die Rote Armee zeitweilig erst für den kommunistischen Geheimdienst in Schlesien und danach für den polnischen Auslandsnachrichtendienst gearbeitet hatte – bevor er wegen „ideologischer Entfremdung“ entlassen, inhaftiert und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde –, brach in den Feuilletons ein Sturm der Entrüstung los. „Hinter dem ‚gnadenlosen Richter’ war plötzlich der jüdische Rächer zu sehen“, beschrieb Eike Geisel im Februar 1995 in konkret die kaum verhohlen antisemitischen Reaktionen, die dem Publizisten entgegenschlugen:
„Reich-Ranicki ist den Kommunismus losgeworden, nicht aber sein Judentum. Das hängt an ihm wie eine Zielscheibe, auf die sich seit Beginn der Affäre alle eingeschossen haben. ‚Jude und Kritiker’, so wird er seitdem ausgestellt. Im Verlauf dieser neuen Vergangenheitsbewältigung durch das Feuilleton wurde er zur fantastischen Wunschfigur des ideellen Gesamtantisemiten: Intellektueller, Jude, Kommunist. Erst im Geheimdienst, dann Verräter; übt Macht aus, sinnt auf Rache.“
Und noch 2002 – parallel zum Erscheinen von Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, der gegen Reich-Ranicki gerichteten literarischen Vernichtungsfantasie eines Lieblingsdichters der Deutschen also, der sich wiederum als Sprachrohr der von diesem Kritiker hart beurteilten oder, schlimmer noch, ignorierten deutschen Schriftsteller verstand – bezichtigte ihn nicht nur der Fernsehsender 3.sat in der Sendung Kulturzeit „der fixen Ausrede, der autobiografischen Lüge“ und empfahl ihm nassforsch eine Erweiterung seiner Memoiren: „Vielleicht nutzt Marcel Reich-Ranicki die Zeit bis zum nächsten Aktenfund für ein kleines Zusatzkapitel, das die fatalen Jahre im Dienst der polnischen Staats-Sicherheit nicht länger selbstgerecht vertuscht.“ Denn im Aufarbeiten von Diktaturen macht den Deutschen so schnell keiner etwas vor, am wenigsten ein überlebender Jude, der angesichts der Bekanntwerdung seiner Tätigkeiten für den polnischen Staat noch einmal deren Hintergründe deutlich zu machen sich gezwungen gefühlt hatte:
„Vergessen Sie nicht, wir, meine Frau und ich, haben den Holocaust überlebt. Vergessen Sie nicht, Auschwitz war noch nicht befreit. Sie dürfen nicht vergessen, dass die deutschen Behörden in Polen alle Schulen verboten hatten. Und vergessen Sie nicht: Ich verdanke der Roten Armee mein Leben.“
Der konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza kommentierte dies im August 1994 so:
„Sie haben es, wenn je gewusst, längst vergessen, die Redakteure der Bürgerpresse, die der Delinquent anlässlich der Interviews genannten Verhöre, denen sie ihn unterzogen, so flehentlich beschwor. Was, Reich-Ranicki, haben Sie gemacht damals, als unser Herausgeber, ein Leutnant des Führers, tief in Russland jene Front hielt, hinter der die Gasöfen friedlich brannten? Und als wir im Westen Deutschlands mit den alten Kameraden wieder Staat zu machen begannen, verdiente Männer der SS und der Gestapo zu ziviler Tätigkeit in der Regierung oder auch in der Redaktion eines bekannten deutschen Nachrichten-Magazins umerzogen? Wie bitte, Sie haben die Rote Armee herbeigesehnt? Sind Kommunist geworden und Capitan des polnischen Geheimdiensts? Und haben uns, die wir Sie, den polnischen Juden, dennoch aufgenommen und befördert haben, diese Verbrechen sechsunddreißig Jahre lang verheimlicht?“
„Bin ich als Jude, der ich 1938 nach Polen deportiert wurde und jahrelang im Warschauer Ghetto und später außerhalb des Ghettos unter deutscher Bestialität gelitten habe, bin ich ausgerechnet der deutschen Öffentlichkeit Auskunft und Rechenschaft schuldig darüber, was ich noch während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren als polnischer Staatsbürger in der polnischen Armee und in polnischen Behörden getan habe?“, fragte Reich-Ranicki seinerzeit jene, denen immer schon daran gelegen war, die Opfer möglichst zu Tätern zu machen und dort, wo das nicht ohne Weiteres möglich war, doch zumindest eine gewisse Plausibilität für deren Verfolgung zu behaupten. Das ist auch heute nicht anders; mittlerweile verspricht die Verleihung der Ehrendoktorwürde an einen vormals Verfolgten allerdings deutlich mehr moralischen Gewinn abzuwerfen als das Insistieren darauf, dieser sei, den Deutschen entkommen, auch nicht besser gewesen als seine Peiniger. Wie man dennoch einen Seitenhieb verteilt, ohne einen Affront zu riskieren, demonstrierte der bereits erwähnte Kulturstaatsminister Bernd Neumann (Foto) bei der Zeremonie in der Humboldt-Universität. Denn in Anspielung auf das im dortigen Foyer noch immer zu lesende Marxsche Diktum von den Philosophen, die die Welt verschieden interpretiert hätten, wo es doch darauf ankomme, sie zu verändern, sagte Neumann, an den Geehrten gewandt:
„Ihr Leben war über Jahrzehnte geprägt von dem, ja, mörderischen Versuch, diesem Postulat Geltung zu verschaffen. Wenn auch der Sozialismus mit dem Zusatz ‚National’ sich natürlich nicht auf den Juden Marx berief, so hat er aber doch damit ernst gemacht, die Welt nicht mehr nur zu interpretieren, sondern mit äußerster und brutalster Gewalt nach seinen Vorstellungen zu ändern. Jedenfalls vergaben sich weder die stalinistischen noch die nationalsozialistischen Weltveränderer etwas in ihrer gnadenlosen Verfolgung von freiem Geist und seiner Schwester, der Kritik.“
Der erste Satz dieses Statements lässt, wörtlich genommen, durchaus die Interpretation zu, Reich-Ranicki habe über einen nicht unerheblichen Zeitraum hinweg Tötungsabsichten verfolgt. So wird es der Minister vermutlich aber nicht gemeint haben. Was er sagen wollte, war wahrscheinlich eher, dass der neue Ehrendoktor das Opfer zweier Diktaturen geworden sei. Dieser totalitarismustheoretische Ansatz ist jedoch nicht nur aus mehreren Gründen falsch, sondern er führt darüber hinaus auch zu einer Entsubjektivierung Reich-Ranickis und zu einer Verurteilung oder zumindest Missachtung von dessen politischen Aktivitäten. Dabei bedient er sich auch noch faktisch der Nürnberger Rassegesetze: Denn vom „Juden Marx“ zu sprechen, wie Neumann es tat, folgt nolens volens der Definition der Nationalsozialisten; für Marx selbst spielte sein Jüdischsein bekanntlich keine nennenswerte Rolle. Dessen Forderung nach einer Veränderung der Welt wiederum als etwas zu sehen, das der Sozialismus mit dem Zusatz ‚National’“ erst materialisiert habe – womit gleichzeitig gesagt ist, dass jeder Wunsch nach etwas grundlegend anderem als dem Status Quo notwendig „mit äußerster und brutalster Gewalt“ einhergehe und daher per se abzulehnen sei, die Welt sich also nicht wandeln dürfe, und wenn alles in Scherben fällt –, macht ihn ohne Umschweife und ohne jede Begründung zum Vordenker der Judenvernichtung, blendet geflissentlich aus, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen den Marxschen Vorstellungen einerseits und dem deutschen Wahn andererseits zugrunde lagen, und verschweigt darüber hinaus das Fortwesen des Nazismus und des für ihn konstitutiven Antisemitismus in Nachkriegsdeutschland – eines Antisemitismus, den nicht zuletzt Reich-Ranicki immer wieder zu spüren bekam.

Der hatte sich entschlossen, vor der sicheren Vernichtung zu fliehen, sich dem Geheimdienst und dem Nachrichtendienst eines Staates anzuschließen, der von den Deutschen überfallen worden war, und dabei selbstbewusst eine Idee zu vertreten, die jedenfalls eine Gewähr dafür zu bieten versprach, nicht noch einmal zur Zielscheibe eines antisemitischen Ausrottungswahns zu werden. Wenn Neumann den Literaturkritiker nun den Opfern der „stalinistischen Weltveränderer“ zuschlägt und die Realsozialisten dabei in ihrer gnadenlosen Verfolgung von freiem Geist“ den Nationalsozialisten gleichstellt, spricht er ihm jegliche Subjektivität ab, jegliche Fähigkeit, selbstständig und aus eigenem Antrieb heraus gehandelt zu haben, wie es ihm notwendig erschien. Das ist an Paternalismus kaum noch zu überbieten; zudem unterstreicht es, wie unbedingt es Neumann darum geht, zu bestimmen, wie Reich-Ranicki hierzulande eingestuft zu werden hat – als einer nämlich, den die Nationalsozialisten sozusagen zu Unrecht nicht als Verdienstjuden behandeln wollten –, und nicht, wie dieser sich selbst sieht.

Eine Faszination übe Berlin immer noch aus, sagte Reich-Ranicki dem Deutschlandfunk nach der Ehrung. „Aber Berlin heute ist eine ganz andere Stadt als damals. Wollen Sie den wichtigsten Unterschied kennen?“, fragte er den Interviewer und gab, als der bejahte, zur Antwort: „Die Juden sind nicht da. Die Juden, die die Philharmonie füllten und die Theater und die Opernhäuser, die sind nicht da. Deswegen wird Berlin solche Opern- und Theaterhäuser wie einst wohl kaum in absehbarer Zeit haben.“ Auch Reich-Ranicki drückt also seine Trauer über einen Verlust aus – aber es ist ein Verlust, den er, seine Familie und seine Freunde erleiden mussten und nicht diejenigen, die ihn erst ins Werk setzten und darüber nun Krokodilstränen vergießen. Und als er gefragt wurde, ob „das Fehlen der Juden in Berlin und ja auch in anderen deutschen Städten“ auch „ein Fehlen in der Literatur“ sei, bemerkte er: „Das kann sich jetzt ändern. Es sind ja Juden aus Russland gekommen, und unter denen sind nicht wenige literarisch begabte. Das kann man nicht voraussagen, was das bringen wird.“

Man merkt diesen Sätzen an, wie sehr sich Reich-Ranicki gegen Vereinnahmungen wehrt und dass er nicht gewillt ist, den Deutschen die Opferrolle zu gestatten. Über die Ehrendoktorwürde hat er sich gefreut; sie sei für ihn „mit Sicherheit etwas Besonderes“. Denn: „Es ist schließlich die Universität der Stadt, die auf mich den stärksten prägenden Einfluss ausgeübt hat, und das ist schließlich jene Universität, die mir den Zugang zum Studium in Deutschland verweigert hat.“ Aber sie war nicht die erste, die ihm eine solche Anerkennung zuteil werden ließ; 1972 machte die Universität im schwedischen Uppsala den Anfang, und für Reich-Ranicki war es „eine Genugtuung, dass mir der Ehrendoktor nicht in Deutschland verliehen wurde. Später zahlreich, später habe ich den Ehrendoktor in München und Düsseldorf, Bamberg und Augsburg bekommen, verschiedene Universitäten. Aber damals war es der erste, und das war eben ein ausländischer“.

Dreizehn Jahre vor Reich-Ranicki, also 1994, hatte die Berliner Humboldt-Universität einen gewissen Wilhelm Krelle mit der nämlichen Auszeichnung bedacht, für dessen Aktivitäten bei der Abwicklung von Ost-Professoren. Zwei Jahre später entdeckten Studenten der Hochschule Dokumente, die zeigten, dass just dieser Krelle ab August 1944 bei der Waffen-SS und ab Januar 1945 sogar 1. Generalstabsoffizier der für ihre Kriegsverbrechen berüchtigten SS-Panzergrenadierdivision Götz von Berlichingen war. Die Humboldt-Universität sah jedoch trotz massiver Proteste keine Veranlassung, Krelle die Ehrendoktorwürde wieder abzuerkennen. Und 1999 lehnte sie einen ersten Vorstoß, Marcel Reich-Ranicki für die Ablehnung seiner Immatrikulation um Entschuldigung zu bitten, ab. Dieser steht nun, weitere acht Jahre später, in einer Reihe mit einem SS-Mann. Das gereicht aber nicht ihm zum Nachteil, sondern der akademischen Bildungseinrichtung. Die glaubt jedoch, mit ihrem jetzigen Schritt aus dem Schneider zu sein. Und fast alle glauben mit.

Die Textauszüge aus konkret sind nur in der Printausgabe bzw. auf einer CD dieser Zeitschrift verfügbar. – Hattips: Gesine, barbarashm

15.2.07

Fiat iustitia!

Solidarität ist eine Waffe, lautet ein schon etwas älterer Slogan der Linken – doch er kann auch jenseits dieser politischen Herkunft gehaltvoll und richtig sein: Es gibt hierzulande zwar nur wenige Aktivitäten für Israel, aber deren Gewicht wird dadurch nicht geringer, im Gegenteil. Denn wer an ihnen teilnimmt, wird von nicht wenigen seiner Mitmenschen günstigstenfalls mitleidig belächelt und sieht sich ansonsten nicht selten heftig-ablehnenden Reaktionen ausgesetzt. Besonders aggressiv reagieren Gegner und selbst ernannte Kritiker des jüdischen Staates dabei auf das öffentliche Zeigen der israelischen Fahne; in Saarbrücken beispielsweise stürzten sich im vergangenen Sommer knapp fünfzig Personen unter Rufen wie „Israel – Kindermörder“, „Juden raus!“ und „Judenhuren“ auf drei einsame Leute, die ihren Protest gegen eine „Friedensdemonstration“ durch das Zeigen des nämlichen Symbols zum Ausdruck gebracht hatten. Die Polizei schritt nicht ein und ließ die Angreifer unbehelligt; dafür erhielt einer der Attackierten Mitte September 2006 eine Vorladung des Landeskriminalamtes wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz; Ende Oktober wurden dann sogar seine Wohnung durchsucht und mehrere Computer beschlagnahmt. Die schriftliche Erlaubnis des Amtsgerichts Saarbrücken, das Privateste des Angeklagten mittels einer Razzia nachhaltig durchkämmen zu dürfen, erging dabei auf Antrag der Staatsanwaltschaft mit der folgenden, wirklich bemerkenswerten Begründung:
„D[er] Beschuldigte ist [...] verdächtig, mit weiteren Personen [...] während einer genehmigten Demonstration des Vereins ‚Albatoul’ durch Hochheben israelischer Flaggen und Rufen ‚hoch lebe Israel’ bei einem Teil der, wie ihm bekannt, antiisraelisch eingestellten Demonstranten emotionsgeladene Wutausbrüche und infolge dessen von diesen ausgehende Handgreiflichkeiten und volksverhetzende Äußerungen wie ‚Tod den Juden’ verursacht zu haben, wobei er beabsichtigte, dass infolge der durch seine Provokation ausgelösten und von ihm durch seine Aktion allein bezweckten Tumulte und Straftaten die Demonstration gesprengt und die weitere Durchführung vereitelt wurde.“
Noch einmal zum Mitschreiben: Wer sich einer Zusammenrottung von Judenhassern entgegenstellt und dabei eine israelische Fahne präsentiert, kann keine lauteren Motive, sondern nur eins im Sinn haben: Randale. Denn er nötigt den Mob vorsätzlich zu antisemitischen Hassausbrüchen und körperlicher Gewalt – darauf muss man erst einmal kommen. Ende November kassierte das Landgericht Saarbrücken zwar den Durchsuchungsbeschluss und veranlasste die Rückgabe des entwendeten Eigentums an seinen Besitzer. Eingestellt ist das Ermittlungsverfahren jedoch immer noch nicht. Einstweilen gilt deshalb weiterhin die nur noch absurd zu nennende Rechtsauffassung von Polizei und Justiz, die das eingangs zitierte Motto augenscheinlich besonders eigenwillig interpretierten – indem sie nämlich ein Stück Tuch in blau und weiß zu einer Waffe erklärten, mit der sich eine Versammlung sprengen lässt.

Doch man kann mit diesem offenbar mordsgefährlichen Utensil noch mehr anstellen: Gefangene befreien beispielsweise, fahrlässige und versuchte gefährliche Körperverletzung begehen und Widerstand gegen die Staatsgewalt leisten. Das behauptet zumindest das Amtsgericht München (Aktenzeichen Cs 113 JS11982/06), den Aussagen zweier Beamter einer Einheit des Unterstützungskommandos der Polizei (USK) folgend, die am 25. April letzten Jahres in der bayerischen Landeshauptstadt eingesetzt waren. An diesem Tag inszenierten dort nämlich rund 20 Neonazis der NPD München und Oberbayern eine so genannte Mahnwache zum „Gedenken an den Ostfrontkämpfer Reinhold Elstner“, der sich 1995 an der Feldherrnhalle selbst verbrannt hatte, „um ein Fanal gegen die Verleumdung und Verteufelung des deutschen Volkes“ zu setzen. Gegen diese ungeheuerliche Manifestation (Foto) – die auch noch an Yom haShoah stattfand, dem Holocaust-Gedenktag also – demonstrierten knapp einhundert Menschen; einer von ihnen war der Politologe David Goldner (28), der seine Beweggründe so schilderte:*
„In Israel läuteten um 10 Uhr morgens zum Gedenken an sechs Millionen von den Nationalsozialisten ermordeten Juden landesweit die Sirenen. Menschen stiegen sogar aus ihren Autos und verharrten in stiller Erinnerung. Die traditionellen Gedenkveranstaltungen begannen direkt im Anschluss daran. Im israelischen Parlament wurden die Namen jüdischer Opfer verlesen. Neben Gedenkveranstaltungen in Israel fand an jenem Tag unter anderem auch der Marsch der Lebenden ins ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau statt. 8.000 Menschen gingen den drei Kilometer langen Todesweg vom einstigen Konzentrationslager Auschwitz bis zum Vernichtungslager Birkenau. An genau diesem 25. April 2006 veranstalte die neofaschistische NPD eine so genannte ‚Mahnwache’ [...] – sanktioniert von deutschen Behörden, geschützt durch die deutsche Polizei. Um meinem Protest gegen diesen Affront Ausdruck zu verleihen, trug ich die Fahne des Staates Israel mit mir.“
Das wiederum gefiel den eingesetzten Polizeibeamten offenbar gar nicht: Es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen und Festnahmen. Goldner beschreibt, was ihm widerfuhr:
„Während einer dieser [...] Rangeleien stürzte sich [...] mindestens ein USK-Beamter von hinten auf mich und würgte mich. [...] Mir wurde schwindelig, ich ging zu Boden, wurde ohnmächtig und verlor Fahne und Fahnenstange aus den Händen. [...] Mir wurde [...] Gefangenenbefreiung vorgeworfen. Da ich nicht freiwillig aufstand bzw. nicht aufstehen konnte, trugen mich die USK-Beamten nach etwa drei bis vier Minuten in eine Seitenstraße weg, um meine Personalien aufzunehmen. Während dieser Zeit [...] drohten sie mir Gewalt an: ‚Steh auf, sonst tut’s weh!’, rief einer mehrmals. [...] Während der Aufnahme meiner Personalien, [...] die knapp zwei Stunden dauerte, [...] bekam ich trotz wiederholter Bitten und meinem Hinweis, dass ich bei der Festnahme ohnmächtig geworden sei, nichts zu trinken. Nachdem ich noch mehrere Tage nach diesem Vorfall starke Schmerzen an meinem Hals und an meinem Rücken verspürte, begab ich mich in die ärztliche Notaufnahme, [...] um mich untersuchen zu lassen. Es wurden unter anderem Strangulation, HWS-Distorsion und Spannungskopfschmerzen festgestellt.“
All dies berichtete er gestern in der Verhandlung vor dem Amtsgericht München, in der er die gegen ihn gerichteten Anschuldigungen als „unverschämte Lüge und Verleumdung“ zurückwies und betonte: „Ich habe an besagtem Tag niemanden mit der Fahnenstange geschlagen oder gestoßen, weder absichtlich noch unabsichtlich, und ich bin gerne bereit, dies unter Eid auszusagen. [...] Ich leistete während meiner Festnahme keinen Widerstand und wäre dazu auch gar nicht in der Lage gewesen. Während meiner Festnahme lag meine Israel-Fahne längst am Boden, und Beamte des USK hatten offensichtlich kein Problem, auf ihr herumzutrampeln.“ Doch es half nichts, genauso wenig wie das Gutachten des Krankenhauses, in dem sich Goldner nach den polizeilichen Maßnahmen behandeln ließ: Zwar wurden die Vorwürfe der Gefangenenbefreiung und gefährlichen Körperverletzung gegen Vollstreckungsbeamte aufgrund widersprüchlicher respektive ungenauer Angaben der beiden USK-Beamten fallen gelassen; dennoch glaubte Richterin Girnghuber den Darstellungen der beiden Polizisten, nach denen Goldner sich generell des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gemacht habe, und verurteilte den Münchner zu 60 Tagessätzen à 30 Euro. Das war zwar weniger als die 90 Tagessätze, die der ursprüngliche Strafbefehl vorgesehen hatte, aber immer noch erklecklich und zudem ein Vielfaches dessen, was dem derzeit arbeitslosen Angeklagten monatlich an Einkommen zur Verfügung steht. Doch das focht den Staatsanwalt Goldner zufolge nicht an; vielmehr ließ er lakonisch verlautbaren, der Verurteilte könne doch mit seinem abgeschlossenen Hochschulstudium „einmal etwas Anständiges tun“ und sicher „auch viel verdienen“, anstatt „ein Praktikum nach dem anderen“ zu absolvieren. Deshalb sei die hohe Geldstrafe angemessen.

Und David Goldner, der Berufung gegen den Urteilsspruch eingelegt hat, war nicht der einzige, der wegen seines Protests gegen die NPD-Kundgebung vor Gericht erscheinen musste: Zuvor war unter anderem bereits die 29-jährige Julia R. mit 80 Tagessätzen zu je 40 Euro bedacht worden, weil sie es beim angeblichen Versuch, Goldner nach seiner Festnahme zu befreien, mit gleich zehn Polizisten gleichzeitig aufgenommen und einige von ihnen verletzt haben soll. Die Frau, die ebenfalls in die Berufung geht, bestreitet die Vorwürfe energisch, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete:**
„Sie habe sich damals nur nach der [israelischen] Fahne gebückt, die in den Schmutz gefallen sei und auf der alle herumgetrampelt seien. ‚Das fand ich unsittlich.’ Die Staatsanwaltschaft hat drei Zeugen aufgeboten, alle Polizisten. Der erste kann sich an nichts mehr erinnern, obwohl er (nach Aussagen seines Kollegen) direkt daneben stand. Der zweite hat dagegen eine sehr gute Erinnerung, er will genau gesehen haben, wie Julia R. ‚den Herrn durch massive Gewaltanwendung aus der Mitte herauszuziehen’ versuchte. Der dritte schließlich ist nur der Sachbearbeiter. Er hat einen Videofilm des Tumults ausgewertet, doch auf dem ist nach seinen Angaben nichts zu sehen.“
Es war in der jüngeren Vergangenheit nicht das erste Mal, dass die Ordnungsmacht in der Bayernmetropole mit solcher Vehemenz gegen Nazigegner und Freunde Israels vorging. Bereits im September 2003 etwa verurteilte das Amtsgericht den heute 82-jährigen Martin Löwenberg zu einer Strafe von 20 Tagessätzen, weil dieser im November 2002 dazu aufgerufen hatte, sich in der Weltstadt mit Herz einem Neonazi-Aufmarsch in den Weg zu stellen. Löwenberg – der in Breslau als Sohn eines jüdischen Vaters geboren wurde, miterleben musste, wie fünfzehn seiner Angehörigen deportiert wurden, selbst zur Zwangsarbeit nach Lothringen verschleppt wurde, dort tote jüdische Zwangsarbeiter aus den Stollen herausholen musste und zu den wenigen überlebenden Breslauer Juden gehört – begründete vor Gericht, warum er in seiner Rede eine Blockade der nazistischen Demonstration gefordert hatte: „Es ist legitim, ja, es ist legal, sich den Totengräbern der Demokratie entgegenzustellen.“ Das sahen die Verfolgungsbehörden jedoch völlig anders; besonders beachtlich war dabei das Einsatzprotokoll der Polizei, das „voller peinlicher Fehler“ steckte, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Da wird aus dem NS-Propagandachef Goebbels ein Herr ‚Göppel’, und die Abschrift der Rede eines anderen Nazi-Opfers wird eingeleitet mit diesem Satz: ‚Es folgt die Rede eines in die Kluft eines Insassen Kfz-Häftlings bekleideter Mann.’“

Ein ähnlich profundes historisches Bewusstsein offenbarte auch der Münchner Oberstaatsanwalt August Stern, als er mit einer Kundgebung von Neonazis am 9. November 2005 partout kein Problem haben mochte: Der gescheiterte Hitlerputsch – dessen die Ultrarechten in der früheren Hauptstadt der Bewegung „gedenken“ wollten, noch dazu an einem Tag, an dem sich auch die Reichspogromnacht jährte – habe bereits 1923 stattgefunden; eine Erinnerung an ihn sei deshalb keine Verharmlosung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, denn die habe schließlich erst zehn Jahre später begonnen. Stern sorgte sich gar um „das geistige und politische Klima“, wenn man das Strafrecht zu strikt anwende – und stellte folgerichtig im vergangenen Sommer auch das Verfahren gegen Ottmar Mühlhauser ein. Mühlhauser hatte 1943 ein Massaker-Kommando zusammengestellt und die Erschießung von 4.000 kriegsgefangenen italienischen Soldaten und Offizieren auf Kephallonia befehligt. Oberstaatsanwalt Stern fand jedoch, dieses Wehrmachtsverbrechen stehe „nach sittlicher Wertung nicht notwendig auf tiefster Stufe“, denn es sei ohne „politische Beweggründe“ erfolgt: „Es ging vielmehr um militärische Belange, die zur Erschießung führten“; zudem könnten die Täter „menschliche Schwäche“ in Anspruch nehmen, weshalb sie des Mordes unverdächtig seien.

Und wenn es dann doch mal einer ein bisschen übertrieben hat, kann er im Zweifelsfall darauf zählen, dass seine Taten nicht mehr geahndet werden. So verweigerte kürzlich das Oberlandesgericht (OLG) in der bayerischen Kapitale die Auslieferung des in Kempten lebenden SS-Angehörigen Søren Kam (Foto) an Dänemark, wo dieser wegen Mordes gesucht wird, begangen 1943 an einem Journalisten in Lyngby bei Kopenhagen. Zur Begründung für die Nichtauslieferung hieß es von Seiten des Gerichts, der Angeklagte habe sich nicht des Mordes, sondern nur des Totschlags schuldig gemacht, und der sei verjährt. Efraim Zuroff, Direktor des Wiesenthal-Centers in Jerusalem, sprach daraufhin von „einem weiterer Fall von unangebrachtem Wohlwollen der deutschen Justiz für einen verachtenswerten Nazi-Kollaborateur“; die deutsche Justiz habe „alles in ihrer Macht stehende unternommen, ihn seiner gerechten Strafe zu entziehen“.

Man darf nun gespannt sein, wie just dieses Münchner OLG in einem seiner nächsten Fälle entscheiden wird – dem Revisionsprozess ausgerechnet gegen David Goldner nach dessen erstinstanzlicher Verurteilung im Zuge der Tragikomödie von Garmisch-Partenkirchen. Dort war er vom Richter wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zur Zahlung einer Geldstrafe verpflichtet worden, weil er Flugblätter im Gepäck hatte, mit denen für eine Buchvorstellung gegen Nazismus und Islamismus geworben werden sollte und deren Vorderseite ein Foto mit arabischen Islamisten zeigte, die den Hitlergruß entbieten. Eine bayerische Provinzposse, sollte man eigentlich meinen – doch wie es scheint, sind auch Polizei und Justiz in der Landeshauptstadt kein bisschen klüger. Das ist allerdings erst recht ein Grund, den von ihnen in die Mangel Genommenen Solidarität zu erweisen – auch wenn man bisweilen den Eindruck haben kann, als bräuchte es dafür einen Waffenschein.

* Verteidigungsrede von David Goldner in seinem Gerichtsprozess am 14. Februar 2007 (nicht online abrufbar, liegt Lizas Welt jedoch vor)
** Süddeutsche Zeitung vom 30. November 2006 (nur Printausgabe)

13.2.07

Schmockierende Urteile

Wenn ein Preis verliehen wird, ein bedeutender noch dazu, ist das normalerweise eine feierliche Angelegenheit. Leider geschieht es jedoch allzu oft, dass entweder die völlig Falschen eine Trophäe ausgehändigt bekommen – Annemarie Schimmel und Martin Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels beispielsweise oder Günter Grass den Nobelpreis für Literatur – oder über würdige Preisträger hergefallen wird, weil ihre Auszeichnung angeblich unangemessen ist. Die zuletzt genannte Option zog kürzlich Alfred Grosser (Foto) in der taz, als er schrieb, die Verleihung des Börne-Preises an den Publizisten Henryk M. Broder sei eine „falsche Wahl“, ja eine „Beleidigung des Humanismus“. Broder habe die Ehrung „nicht verdient“, fand Grosser, denn mit ihr würden nun „jene Grundwerte“ beleidigt, „aufgrund derer Ludwig Börnes Name 1832 beim Hambacher Fest mit Begeisterung gefeiert wurde. Diese Werte bildeten die Basis der ersten deutschen Verfassung, die 1848 in der Frankfurter Paulskirche beschlossen wurde. Mit der diesjährigen Feier zur Verleihung des Börne-Preises in der Paulskirche wendet man sich von ihnen ab“.

Der Mann meint es tatsächlich bierernst: „Henryk M. Broder brandmarkt ständig alle und jeden, die sich um das Leiden der Anderen sorgen“; zudem „bekämpft [er], im Einklang mit fanatisch pro-israelischen Internetseiten wie ‚Honestly Concerned’, so aggressiv wie möglich alle, die nicht so denken und handeln wie er“, behauptete – ohne jede Begründung übrigens, dafür jedoch sekundiert vom notorischen Ludwig Watzal – der deutsch-französische Autor und Soziologe, der seinerseits anbot, was man nicht nur in der Alternativpresse gerne liest: „Als Jude [sic!] fühle ich mich verpflichtet, dieses Leid nicht zu ignorieren“ – das der Palästinenser zuvörderst, aber auch „das erlittene deutsche Leid der Bombennächte und der Vertreibungen“. Wenn fast die Hälfte der Deutschen meint, der Nationalsozialismus habe „auch seine guten Seiten gehabt, können sie wirklich reinsten Gewissens dieser Ansicht sein: Immerhin hat das Massenmorden wenigstens im Nachhinein großes Verständnis für ihre Kümmernisse und Beengungen bewirkt.

Vielleicht war Grosser aber auch nur neidisch und musste dieser Gefühlsregung in einer Tirade Luft verschaffen. Dabei müsste er ganz ohne Weihung gar nicht bleiben: Er wäre vermutlich ein hoch gehandelter Kandidat für den Schmock der Woche, den Henryk M. Broder in unregelmäßigen Abständen vergibt. Und durchaus ein denkbarer Nachfolger etwa des „größten Verlegers aller Zeiten“, Abraham Melzer, oder auch von Y. Michal Bodemann, Soziologe in Toronto und selbst ernannter Experte für deutsch-jüdische Geschichte. Letzterer hatte Broders Würdigung Ende November 2004 erhalten, als Belohnung für einen Beitrag mit dem Titel „Unter Verdacht“, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 19. November 2004. Darin erklärte Bodemann die Muslime sozusagen zu den Juden von heute und beklagte eine grassierende „anti-islamische Hetze“, die sich „für Migranten reformulierter alter Antisemitismen“ bediene und in „Gruselgeschichten“ münde. In seiner Laudatio nannte Broder den Geehrten daraufhin einen „promovierten Schwachkopf“, „Tor“ und „selbstgerechten Trottel“, denn:
„Er kennt nicht die Artikel, die in deutschen Zeitungen erschienen sind, über die Probleme bei der Integration russischer Juden bis zu den Gaunereien in den früheren DDR-Gemeinden, er weiß nicht, dass die jüdische Gemeinde bei jedem Anlass öffentlich geröntgt und gescreent wird, mal zu Recht, mal zu Unrecht. Es ist ihm auch entgangen, dass man die zugewanderten Juden nicht dazu anhalten muss, ihre Kinder in die Schulen zu schicken und dass die jüdischen Gemeinden, im Gegensatz zu den moslemischen, Deutschkurse anbieten, um den Einwanderern den Einstieg zu erleichtern. Es ist auch noch kein Fall bekannt geworden, dass ein Jude, der von Sozialhilfe lebt, seinen drei Kindern Sprengstoff-Attrappen umgebunden und sie auf eine Demo mitgenommen hätte. Und obwohl sich die Juden ständig untereinander zoffen und krachen, ist es noch nicht passiert, dass ein Gemeindevorsitzender zum Mord an einem anderen Gemeindevorsitzenden aufgerufen hätte, der dann tatsächlich auch ermordet wurde.“*
Broder resümierte schließlich: „Bodemann ist so blöd, dass verglichen mit ihm ein Kuhfladen noch als Pizza Margarita durchgehen könnte.“ Das war vielleicht nicht nett, kam aber von Herzen. Bodemann war gleichwohl beleidigt und verlagerte das Problem von der politischen auf die juristische Ebene. Dort bekam er zuerst Recht und stritt danach gewissermaßen auch noch um ein angemessenes Honorar für seinen Orden, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete: Der Richter am Landgericht München jedenfalls war der Ansicht, „dass Broder – wie auch immer man zum Bodemann-Text stehe möge – Grenzen überschritten habe. Würde man das zulassen, gäbe es kein Halten mehr. Das müsse Broder spüren“. Fünftausend Euro stehen nun im Raum – als Schmerzensgeld für einen, der etwa die Misshandlung muslimischer Frauen unter der Rubrik „Grausig-Anekdotisches“ einordnet und sie im Übrigen mit „Anpassungsproblemen vor allem von Menschen aus traditionellen Milieus“ erklärt, die nach der ersten oder zweiten Generation“ verschwänden. Derlei – und Ähnliches – zu formulieren überschreitet hierzulande augenscheinlich keine Grenzen, weshalb jene, die somit von jeder Verantwortung für ihr Tun faktisch freigesprochen werden, kein Halten mehr kennen müssen. So viel zum Thema „anti-islamische Hetze“.

* Der Beitrag ist aufgrund eines Gerichtsurteils nicht mehr online aufzurufen, liegt Lizas Welt jedoch vollständig vor.

Noch mehr zu Alfred Grosser findet sich in einem sehr lesenswerten Beitrag von Hector Calvelli.

12.2.07

Bunzls Mythen-Mekka

Man darf gespannt sein, welche Konsequenzen die Vereinbarungen des „Versöhnungsgipfels“ (FAZ) zeitigen werden, auf die sich die Fatah und die Hamas unlängst in Saudi-Arabien geeinigt haben. Mag der Bürgerkrieg in den palästinensischen Gebieten auch vorerst ruhen – andere Konstanten verdienen erwartungsgemäß weiterhin ihre Namen. Eine Anerkennung Israels etwa kommt namentlich für die Hamas selbstverständlich nicht in Frage. Man wolle die Vereinbarungen mit dem jüdischen Staat lediglich „respektieren“, verlautbarte es von Seiten der Gotteskrieger. Denn die Tilgung Israels ist und bleibt ihr Zweck und Ziel; allenfalls über den Weg dorthin lässt die Hamas mit sich reden. Mit dem, was nun zwischen ihr und der Konkurrenz ausgehandelt wurde, kann sie deshalb ganz grundsätzlich sehr zufrieden sein: „Wir haben zehn Prozent gegeben, Fatah musste 90 Prozent der Zugeständnisse machen“, resümierte Hamas-Sprecher Rhasi Chamed nach dem Treffen unwidersprochen, und die Tageszeitung Die Welt konstatierte nüchtern: „Während der trauten Verhandlungsrunde in Mekka fielen die Worte ‚Israel’ und ‚Friedensprozess’ kein einziges Mal.“ Auch ein Verzicht auf terroristische Gewalt stand – wen wundert’s? – nie zur Debatte. Gleichwohl fand der neue UN-Generalsekretär Ban Ki Moon das Abkommen der palästinensischen Parteien begrüßenswert; er hoffe, „dass der Vertrag die Gewalt eindämmen und der palästinensischen Bevölkerung eine bessere Zukunft bringen wird“. Und aus Frankreich war zu vernehmen, die Abmachung sei ein „Schritt in die richtige Richtung“.

Ausgesprochen zufrieden mit der Einigung zeigte sich auch John Bunzl, notorischer Nahostexperte des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP), in einem Gespräch mit dem österreichischen Radiosender Ö1. Nun müsse dafür gesorgt werden, dass die Vereinbarungen „eine substanzielle Verbesserung der Lebensbedingungen“ der Palästinenser zur Folge haben, und das sei – „Inschallah!“ – der Job Israels, der USA und Europas. Denn die trügen die Hauptschuld an dem palästinensischen Bandenkrieg und seinen Folgen; schließlich hätten sie ihn erst angeheizt, darüber hinaus für „Verzweiflung“ gesorgt und bewirkt, „dass die Lebensbedingungen sich dermaßen verschlechtert haben und die Isolation so groß ist und die israelische kontinuierliche Gewaltanwendung, Siedlungspolitik, Landnahme usw. weitergegangen ist“. Nicht zuletzt deshalb könne man von den Palästinensern auch nicht erwarten, dass sie den jüdischen Staat anerkennen. Mehr über Bunzls neueste Expertisen und inwiefern sie dem englisch-irischen Schriftsteller Jonathan Swift Recht geben, weiß Karl Pfeifer.


Karl Pfeifer

„Es gibt nichts, was sich Israel nennt“


Die Philosophen interpretieren die Welt auf verschiedene Weise, der „Nahostexperte“ Dr. John Bunzl jedoch hat sich darauf spezialisiert, die jeweilige Mythen palästinensischer Intellektueller zu propagieren. Beispiel gebend dafür ist ein etwas mehr als sieben Minuten dauerndes Gespräch, das Werner Löw mit ihm am 9. Februar im Mittagsjournal des Radiosenders Ö1 führte.* Darin sagte Bunzl unter anderem:
„Die Forderung an die Palästinenser, sie mögen das Existenzrecht Israels anerkennen, ist insofern problematisch, als von Israel keine gegenseitige Anerkennung der palästinensischen Interessen und Staatlichkeit gefordert wird. Aber auch in den früheren Verträgen, es ist ein ziemlich einmaliger Vorgang, auch Jordanien musste nicht das Existenzrecht Israels anerkennen, oder Ägypten musste nicht das Existenzrecht Israels anerkennen, sondern einfach die faktische Existenz. Das ist ein kleiner Unterschied, denn im Grunde wird verlangt, dass die Palästinenser die Legitimität Israels anerkennen sollen, und das ist schwer von den Palästinensern zu verlangen. Aus europäischer Perspektive ist es eine Selbstverständlichkeit aufgrund der europäischen Geschichte, die Legitimität Israels anzuerkennen. Aber aus palästinensischer Sicht, die eigentlich den Preis bezahlen mussten für das Ganze und auf deren Rücken Israel entstanden ist und sich betätigt, ist es problematisch, die Anerkennung einzufordern, wenn man im Gegenzug nicht Gleiches anbieten kann.“
Hier fälscht der „Nahostexperte“ die Realität. Israel hat sich aus dem Gazastreifen zurückgezogen, und im Programm des israelischen Premierministers Ehud Olmert wurde auch der Abzug aus den meisten anderen 1967 besetzten Gebieten festgeschrieben. Israel hat in der Regierungserklärung zudem klipp und klar betont, dass es für eine Zwei-Staaten-Lösung ist. Die palästinensische Antwort darauf war das Abfeuern von Raketen und die Entführung eines israelischen Soldaten von israelischem Gebiet. Wider besseres Wissen vergleicht Bunzl jedoch Jordanien und Ägypten mit der Palästinensischen Autonomiebehörde. In den beiden Staaten gibt es im Gegensatz zur letztgenannten Institution eine Regierung, mit denen Israel bereits 1949 einen Waffenstillstand und seither einige weitere Abkommen geschlossen hat. Die Autonomiebehörde jedoch hat in Wirklichkeit keine Regierung, sondern befand sich von Beginn an in einem Zustand der Anarchie, für die nicht zuletzt zahlreiche bewaffnete Gruppen sorgen. Daher auch die Forderung des Nahost-Quartetts, die palästinensische Regierung müsse sich für Gewaltfreiheit, die Anerkennung Israels und die Respektierung früherer Vereinbarungen und Verträge einsetzen.

Israel existiert natürlich unabhängig von den Mythen, an die extremistische Palästinenser weiterhin glauben wollen. Nur hat es keinen Sinn, die Hamas zu legitimieren, die sich in ihrer Charta auf die Protokolle der Weisen von Zion beruft und deren Sprecher immer wieder – auch nach dem jüngsten Treffen in Mekka – erklären, den jüdischen Staat nicht anerkennen zu wollen. Ihre Beteiligung an einer Regierung der nationalen Einheit ändere nichts an dieser Haltung: „Es gibt nichts, was sich Israel nennt, weder in der Realität noch in der Vorstellung“, sagte beispielsweise Nisar Hajjan, ein ranghoher Hamas-Funktionär. Und das, obwohl die israelische Regierung – im Gegensatz zu den Behauptungen von John Bunzl – das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat anerkannt hat. Doch Bunzl begnügt sich nicht damit, Verständnis für die Terroristenbande – er nannte sie selbst so, als er von „gang-war“ sprach – zu wecken, sondern er wiederholt noch einmal die palästinensische Lebenslüge, die Palästinenser hätten den Preis für den von Europäern begangenen Holocaust zu bezahlen gehabt. Tatsächlich spricht er ihnen dadurch konsequent ab, ein Akteur zu sein. Sie kommen immer nur als arme Opfer vor und können angeblich gar nichts für die Lage, in die sie sich jedoch selbst hereinmanövriert haben. In wahrhaft eurozentrischer Sicht entlässt Bunzl die Palästinenser aus jeglicher Verantwortung, wenn er von Europa und den Vereinigten Staaten Signale einfordert, ohne darüber nachzudenken, dass diese die Palästinenser mit Milliarden unterstützt haben, während letztere mutwillig eine Intifada begannen, die ihre Lage nur verschlechterte.

John Bunzl sagt implizit das, was man hierzulande gerne hört: dass letztlich die Palästinenser die Opfer des Holocausts seien. Über palästinensische Verantwortung wird man bei Ö1 selten ein Wort vernehmen, denn einige Journalisten dort haben anscheinend eine politische Agenda, auf der steht, palästinensische Mythen zu verbreiten und zu rechtfertigen. Dabei kann man beobachten, wie Intellektuelle – solche gibt es nämlich auch beim österreichischen Rundfunk – die Realität außer Acht lassen. Der Schriftsteller Jonathan Swift hatte Recht, als er dereinst bemerkte: „There is nothing so extravagant and irrational which some philosophers have not maintained for truth.“ Nichts ist so überspannt und unsinnig, dass einige Philosophen es nicht als Wahrheit behauptet hätten.

Es ist ja nicht so, dass Bunzls Analysen jeder Realität entbehrten; seine Schlussfolgerungen jedoch sind oft nicht stimmig. Jonathan Swift meinte in seinem Aufsatz über die politische Lüge: „Er hat sich noch nie darum geschert, ob eine Behauptung richtig oder falsch war, sondern nur, ob es zum gegenwärtigen Zeitpunkt oder in der jeweiligen Gesellschaft zweckdienlich wäre, zuzustimmen oder abzulehnen.“ Swift sah auch die natürliche Veranlagung „weit größerer Mengen zur Leichtgläubigkeit“ und geriet deshalb „in Verlegenheit“ über die Frage, was er „mit der so häufig von jedermann im Munde geführten Sentenz ‚Die Wahrheit obsiegt doch letzten Endes’ anfangen soll. [...] Die Wahrheit, von der man behauptet, dass sie in einem tiefen Brunnen verborgen liegt, wurde dort nun offenbar unter einem Haufen Steine begraben“. Wenn man so manchen Nahostbericht von Ö1 hört, kann man die Richtigkeit dieses Satzes nur bestätigen.

* Nach Mekka: Warten auf internationale Signale. Ö1-Mittagsjournal, 9. Februar 2007. Nachfolgend die Transkription des Interviews von Karl Pfeifer.

Der Moderator Werner Löw beginnt das Gespräch mit einer Frage zum durch Druck von außen zustande gekommenen Abkommen von Mekka.
John Bunzl (Foto): Die Einigung ist nicht nur auf Druck von außen zustande gekommen, sondern vielleicht sogar noch mehr durch Druck von innen, denn der Schock der innerpalästinensischen Auseinandersetzungen ging tief. Er hat auch nicht die Dimension eines Bürgerkriegs erreicht. Es war doch ein gang-war [Bandenkrieg, K.P.]. Die Bevölkerung im großen Ganzen war angewidert und entsetzt über dieses Blutvergießen und ist sicher froh, dass dieses Abkommen zustande gekommen ist, nicht so sehr wegen des Inhalts nach außen, sondern wegen der möglichen Beruhigung nach innen. Das scheint zumindest von den Protagonisten der Hauptzweck gewesen zu sein.
Moderator: Glauben Sie, dass ein Ende der Gewalt – Sie sagen dieser Milizenkämpfe –, dass das ein Ende der wechselseitigen Gewalt wirklich bringen kann?
Bunzl: Die Ursachen der Gewalt gehen natürlich tiefer, als in so einem kurzen Abkommen behandelt werden kann. Es gibt hausgemachte Probleme, die Heterogenität der Palestinian Authority, nicht nur Hamas und Fatah als Gegner, sondern auch die alteingesessenen Bewohner und die Fatah- und PLO-Kader, die von außen zurückgekommen sind, die verschiedenen Beziehungen zur Außenwelt, zum Westen, zu Europa usw. Das Hauptkriterium wird sein, ob diesem Abkommen eine substanzielle Verbesserung der Lebensbedingungen folgen kann. Das hängt in erster Linie davon ab, ob die mächtigen Akteure Israel, Europa, Vereinigte Staaten ein Signal setzen können, das den Menschen dort Hoffnung gibt.
Moderator: Ein Signal ganz handgreiflich sozusagen ist der Geldhahn. Es sind ja die Finanzflüsse gesperrt der internationalen Gemeinschaft inklusive EU an die palästinensische Autonomieverwaltung. Glauben Sie, dass diese Vereinbarung von Mekka international jetzt ausreichen wird? Einen Schönheitsfehler hat sie ja, nach Meinung vieler Beobachter, das Grundproblem oder ein Grundproblem, die ausdrückliche Anerkennung Israels, hat man vermieden.
Bunzl: Der erste Aspekt, die Geldflüsse, da muss man unterscheiden zwischen Quantität und Qualität. Es ist nicht unbedingt so, dass die Summe, das Volumen der Geldflüsse zurückgegangen ist. Denn die Frage war eher, wofür wird dieses Geld verwendet. Und im Falle einer bürgerkriegsähnlichen Situation, wo der Westen bzw. USA Israel in erster Linie, aber auch Europa, auf Abu Mazen und die Fatah setzen und das dazu beiträgt, dass die Bewaffneten und die Milizen der Fatah sich verstärken einerseits und eine Situation, wo die Hamas, die eben boykottiert wird, sich auf anderen Wegen über Iran und andere arabisch-islamische Länder mit Koffern über die Grenze von Sinai zu Gaza das Geld ins Land bringt. Diese Situation hat auch dazu beigetragen, dass die vorhandenen Geldmittel so verteilt wurden, dass sie nicht den Bedürftigen wirklich zugute gekommen sind. Es kann so eine Einigung theoretisch dazu beitragen, dass die Prioritäten der Geldverteilung sich verschieben und dass es dann doch den Bedürftigen eher zugute kommt. Was den anderen Aspekt betrifft, ist es tatsächlich die Grundfrage. Die Forderung an die Palästinenser, sie mögen das Existenzrecht Israels anerkennen, ist insofern problematisch, als von Israel keine gegenseitige Anerkennung der palästinensischen Interessen und Staatlichkeit gefordert wird. Aber auch in den früheren Verträgen, es ist ein ziemlich einmaliger Vorgang, auch Jordanien musste nicht das Existenzrecht Israels anerkennen, oder Ägypten musste nicht das Existenzrecht Israels anerkennen, sondern einfach die faktische Existenz. Das ist ein kleiner Unterschied, denn im Grunde wird verlangt, dass die Palästinenser die Legitimität Israels anerkennen sollen, und das ist schwer von den Palästinensern zu verlangen. Aus europäischer Perspektive ist es eine Selbstverständlichkeit aufgrund der europäischen Geschichte, die Legitimität Israels anzuerkennen. Aber aus palästinensischer Sicht, die eigentlich den Preis bezahlen mussten für das Ganze und auf deren Rücken Israel entstanden ist und sich betätigt, ist es problematisch, die Anerkennung einzufordern, wenn man im Gegenzug nicht Gleiches anbieten kann.
Moderator: Würden Sie sagen, dass die internationale Gemeinschaft sich da etwas zurücknehmen sollte mit dieser Forderung?
Bunzl: Ich bin ganz sicher: Die israelische Regierung wird dieses Abkommen als unzureichend und wird nach wie vor Forderungen stellen, von denen sie hofft, dass die Palästinenser sie ablehnen, um sozusagen die Argumente auf seiner Seite behalten zu können. Die USA werden wahrscheinlich die israelischen Argumente unterstützen.
Moderator: Herr Bunzl, mit meiner letzten Frage komme ich noch einmal zurück, zu unserem Ausgangspunkt. Sie haben selber gesagt, von einem Bürgerkrieg hätten Sie ungern gesprochen über die Gewalt in Palästina. Eher ein gang-war, ein Krieg der Banden, der extremen Milizen vielleicht. Warum sollte sich das für diese Leute durch dieses Abkommen ändern?
Bunzl: Dieser gang-war ist angeheizt worden dadurch, dass viele Angestellte der palästinensischen Behörden kein Geld bekommen haben, dass es auch Gründe gegeben hat der Verzweiflung und dass die Lebensbedingungen sich dermaßen verschlechtert haben und die Isolation so groß ist und die israelische kontinuierliche Gewaltanwendung, Siedlungspolitik, Landnahme usw. weitergegangen ist, dass sich da genug Frustration angesammelt hat, um – abgesehen davon, dass auch die Palästinensergesellschaft immer mehr zerfleddert, zersplittert, dadurch dass es keinen territorialen Zusammenhang gibt und solche local warlords entstehen, wo man auch beobachtet hat, dass alte Stammesbeziehungen eine größere Bedeutung bekommen haben. All das sind ziemliche Rückschritte im Vergleich zu dem, was sie an nationaler Entwicklung schon erreicht hatten.
Moderator: Insofern der vorsichtige Optimismus, dass es jetzt am Westen liegt, auf die Palästinenser zuzugehen.
Bunzl: Inschallah!
Moderator: So Gott will, der Nahostexperte des OIIP.

8.2.07

Urdeutsche Projektionen

Mal ehrlich: Ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die vor kurzem noch nicht mal ahnten, dass hierzulande gerade eine Handball-WM im Gange ist, sich jetzt kollektiv als Weltmeister fühlen? Ist es nicht merkwürdig, dass Leute, die bislang allenfalls ahnten, wie viele Spieler bei diesem Wettkampf zu einer Mannschaft gehören und wie lange eine Partie eigentlich dauert, nun ausgewiesene Experten sind? Ist es nicht grotesk, dass Abertausende, die vor zwei Wochen keinen einzigen deutschen Spieler mit Namen kannten, spätestens seit dem vergangenen Sonntag das Team besser aufstellen zu können glauben als der Trainer? Die urplötzlich entstandene Leidenschaft hat jedenfalls, so viel ist sicher, wenig mit dem Handball als solchem zu tun – für den sich zuvor nur vergleichsweise wenige begeistern konnten –, dafür jedoch umso mehr mit der allfälligen Reaktion auf deutsche Erfolge. Mag sein, dass auch in anderen Ländern aus dem Nichts ein Boom entsteht, wenn in einer vormals kaum beachteten Sportart überraschend Siege für die Einheimischen zu verzeichnen sind; mag zudem sein, dass dem Massentaumel fast überall ein politischer Mehrwert abgepresst wird. Aber die entsprechende Ideologisierung ist in Deutschland stets besonders fulminant. Sie war es bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer, und sie ist es auch jetzt wieder. Und Spiegel-Leser wissen, wie immer, noch ein bisschen mehr.

Als „Sieg der Werte“ feierte in besagtem Wochenmagazin nämlich Achim Achilles den Triumph der Deutschen; „Werdet Handballer!“ lautete dementsprechend seine Aufforderung, denn: „Handball ist bodenständig wie kaum etwas, Deutschland war wie Gummersbach in dieser wundervollen Woche. Kein Marketing-Schnickschnack, kein Fanmeilen-Hype, sondern Fernsehen in stickigen, engen, urwüchsigen Soziotopen.“ Das reinste und ursprünglichste Wohlfühlen also: Ländliche Idylle fernab des kalten und hektischen Molochs namens Großstadt, eine natürliche Nische in der künstlichen Welt des Kapitalismus, ein Unter-sich-Sein in der hermetischen Dorfgemeinschaft ohne störende Fremde, Volks- und Heimattümelei gegen das feindliche Außen; alles ganz romantizistisch-autochthon, eng und vermeintlich widerspruchsfrei. „Und dazu dieses gute Gefühl, nichts geschenkt bekommen zu haben“ – wie dereinst die Trümmerfrauen und Kriegsheimkehrer. Der ideale Nährboden also für echte deutsche Lauterkeiten: „Diese Mannschaft hatte den Sieg verdient wie keine andere. Sie kämpfte, sie ackerte, gab niemals auf.“ Wäre da nicht eine Vorrundenniederlage gewesen, hätte man glatt sagen können: Im Felde unbesiegt.

Was den Handball zusätzlich gegenüber der weitaus beliebteren Lederkugel-Sportart auszeichnen soll, formulierte Achilles am Beispiel des Bundestrainers Heiner Brand: Der sei nämlich „der Prototyp des deutschen Handballers: keine millionenschweren Werbeverträge, kein dröhnendes Vertragsgefeilsche, keine esoterische Philosophie, keine Film- und Foto-Sessions, kein übermächtiger Personenkult.“ Also nix mehr mit unsteten Emporkömmlingen wie Klinsi, Schweini & Poldi, soll das heißen, sondern lieber mit Heini, dem Heimatverwurzelten aus dem Bergischen Land. Denn der ist für Achilles auch und vor allem der prototypische Deutsche: Er „macht einfach nur das, was er kann – seinen Job. Und den macht er gut. Millionen Deutsche sind wie Brand: Ingenieure, Installateure, Briefträger. Keine Genies, sondern Männer im Getriebe. Solider Mittelstand. Jeden Tag aufs Neue halbwegs zuverlässig, ernst, bis zur Langeweile akribisch, aber oftmals erfolgreich“. Solche vermeintlichen oder tatsächlichen „Männer im Getriebe“ – die es wohlgemerkt ölen und nicht mit Sand bestreuen sollen – mochte man in deutschen Landen schon immer besonders gerne: Sie tun die Dinge um ihrer selbst willen, sie leben, um zu arbeiten, und nicht umgekehrt, und sie zetteln keine Skandale an. Kurz: Sie verrichten ihre Pflicht und fragen nicht weiter.

Und daher gelte: „Weit mehr als das Pop-Business Fußball verkörpern Brand und seine Jungs deutsche Kernwerte.“ Das musste ganz offensichtlich dringend mal raus: „deutsche Kernwerte“, vulgo: Tugenden. Zwei davon sind die Bodenständigkeit und die Treue, die der Spiegel-Autor nachgerade mustergültig bei den deutschen Spielern verwirklicht sieht; hinzu kommt eine veritable Standortromantik: „Einer wie Florian Kehrmann betreibt ein Sportgeschäft, Holger Glandorf, geboren in Osnabrück, hat Speditionskaufmann gelernt. Sie spielen in Flensburg oder Göppingen, in Kiel oder Magdeburg, weder abhängig von russischen Milliardären noch italienischen Halbseidenschals. Zum Sponsorenkreis gehört immer noch der lokale Bauunternehmer.“ Woraus folge: „Handballer versuchen nicht, irgendeine lässig-alberne amerikanische Profi-Mentalität zu imitieren.“ Sondern als kernige deutsche Männer daherzukommen, die Sport noch arbeiten und eine verschworene Gemeinschaft bilden, die niemand trennen kann: „Hat man je die Spielerfrauen der Handballer irgendwo gesehen? Nein. Und das ist gut so.“ Zwar hat man die Genannten sehr wohl deutlich gesehen; beim Finale etwa trugen sie, wie das Fernsehen mehrfach zeigte, T-Shirts mit den Rückennummern ihrer Freunde und Ehemänner. Ganz so unter sich waren die Herren also durchaus nicht, übrigens auch nach dem Endspiel nicht. Aber was kümmert’s den Baum, wenn die Sau sich an ihm reibt und die Botschaft lauten soll: Hier sind noch echte Kerle am Start, rau, unverweichlicht und mit unbändiger Ausdauer.

Das riecht nicht nur alles nach Blut, Schweiß und Tränen, das ist auch so gemeint, denn: „Handball in seiner Bodenständigkeit ist ein urdeutscher Sport, dessen hochspannende Inszenierung sich aus dem Spiel selbst heraus entwickelt.“ Und nicht durch irgendeinen Pomp zum Event aufgeblasen wird wie bei den Amis oder seit ein paar Jahren auch im Fußball, soll das vermutlich bedeuten. Kein Wunder: „Die traditionsreichen Clubs wie Gummersbach oder Lemgo liegen in der Peripherie, in Klein- und Mittelstädten, dort, wo zwei Drittel aller Deutschen wohnen, dort, wo die Welt nach den Maßstäben der Normalbürger noch halbwegs in Ordnung ist, dort, wo der Mittelstand zu Hause ist.“ Wo also, folgt man dem Spiegel-Kolumnisten, noch gepflegte Friedhofsruhe herrscht, den Vorgärten jedwede Wucherung streng untersagt ist, abends um zehn die Bürgersteige hochgeklappt werden und Frauen auch im Dunkeln auf die Straße gehen können – kurz: wo es deutsch bis auf die Knochen zugeht, auch und gerade beim Sport: „Ehrliche Fans schätzen ehrliche Kämpfer und brüllen ehrliche Beleidigungen. Auf dem Feld wird solider Fleiß- und Kampfsport geboten, der manchmal auch ins Brachiale spielt. Da kann kein Brasilianer, Argentinier, Italiener mithalten. Viel Dekor, Kabinett und Kabarett stören beim Handball nur.“ Denn als guter Deutscher schätzt man das Unverfälschte und Archaische; am liebsten hätte es Achilles wohl gehabt, wenn die deutschen Spieler im Lendenschurz und mit großen Keulen aufgelaufen wären: „Es ist ja kein Zufall, dass von allen Mannschaftssportlern die Handballer in den hässlichsten Trikots stecken, wie diese deutsche Nationalmannschaft eindrucksvoll bewies. Die Schale ist ihnen eben vergleichsweise wurscht; der metrosexuelle Style-Terror der Großstadt-Weicheier erst recht, die es für intellektuell halten, aus dem Tragen von Flechtslippern Weltbilder zu entwickeln.“ Denn auf dem Dorf und in der Kleinstadt geht es vielleicht ein bisschen hart, dafür aber umso herzlicher, weil einfacher und aufs Wesentliche reduziert, zu: „Über Hierarchie wird entschieden auf dem Platz. Und hinterher an der Theke.“

Es ist nicht einmal auszuschließen, dass Achilles mit seinem Beitrag tatsächlich den Nerv und die Motivation vieler getroffen hat, die ihre schwarz-rot-goldenen Fahnen wieder auspackten, in den Hallen den Gegnern der deutschen Mannschaft mit ihrem bornierten Gepfeife zusetzten und in den Kneipen kollektiv das Vaterland hochleben ließen. Wie wenig die nationale Euphorie mit einem tatsächlichen Interesse am Handball zu tun hat, zeigten jedenfalls auch zwei Begebenheiten im Zuge des Endspiels in der KölnArena: Das Fernsehen fing – selbstverständlich unkommentiert – ein überdimensional breites, selbst gemaltes Transparent ein, auf dem, an den Finalgegner Polen gerichtet, geschrieben stand: „Unsere Autos könnt ihr haben, aber der Titel bleibt hier“. Die osteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik als vereinigte Schieberbande – es lebe das Ressentiment! Und auch das Verhalten der Zuschauer während der Siegerehrung sprach Bände: Während der Drittplatzierte mehr als freundlich mit „Dänemark! Dänemark!“-Rufen gefeiert wurde, rührte sich bei der Vergabe der Silbermedaillen an die unterlegenen Polen kaum eine Hand; vereinzelt waren sogar Pfiffe zu hören. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Stimmung gewesen wäre, hätte die Truppe von Trainer Heiner Brand den Weltmeisterpokal nicht gewonnen.

Ihr selbst tut man vermutlich übrigens Unrecht, wenn man sie, wie Achilles, mit Projektionen bedenkt, die stark an das nationalsozialistische „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie Windhunde“ erinnern. Denn sowohl die Spieler als auch ihr Trainer hätten wohl kaum etwas dagegen, wenn der Handball sich professionalisierte und dadurch größere Sponsoren einstiegen, bessere Gehälter in Aussicht stünden und die Infrastruktur ausgebaut würde. Urdeutsch ist es demgegenüber, den Amateurismus für einen Wert an sich zu halten und das Ideal des Sportlers zu konservieren, der, bitteschön, seinen Körper unentgeltlich zur Mehrung des vaterländischen Ruhms einzusetzen hat und nicht, um damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder sich gar Luxus leisten zu können. Schon im deutschen Fußball hielt sich dieser Gedanke der zutiefst antisemitischen Turnerbewegung viel zu lange: Während es andernorts längst Profiligen gab, deren Kicker für ihr Können bezahlt wurden, hielt man diesen Sport hierzulande noch für englische „Fußlümmelei“ und jedenfalls nicht für einen Beruf; die Bundesliga wurde im europäischen Vergleich dementsprechend extrem spät, nämlich erst 1963, gegründet. Sollte der Handball – was allerdings nicht sehr wahrscheinlich ist – einen ähnlichen Popularisierungsschub inklusive der damit zusammenhängenden Entwicklung erfahren, wäre das für Achilles und seine Anhänger vermutlich so eine Art Vaterlandsverrat.

Was der Spiegel-Kolumnist hier verfasst hat, ist deutsche Ideologie in Reinkultur. Denn wenn völlig affirmativ von „deutschen Kernwerten“ die Rede ist, die darin bestehen sollen, in „stickigen, engen, urwüchsigen Soziotopen“ zu leben, aufopferungsvoll für die Sache zu kämpfen und niemals aufzugeben – die Dinge also um ihrer selbst willen zu tun und nicht für Geld –, Bodenständigkeit, Fleiß und Heimatverbundenheit als Tugenden zu preisen und ehrliche, harte körperliche Arbeit als Nonplusultra zu verehren – dann ist das eine Kampfansage an all das, was seit jeher als undeutsch gilt: Urbanität und Kosmopolitismus, Mobilität und Weltläufigkeit, Faulheit und Hedonismus, Individualität und eigenes Fortkommen. All dies wird vom Antisemitismus bekanntlich auf Juden projiziert, und auch wenn Achilles das nicht explizit tut, ist sein Beitrag von genau diesen Ressentiments durchtränkt. Ersatzweise zieht er gegen die „lässig-alberne amerikanische Profi-Mentalität“, „russische Milliardäre“ oder „italienische Halbseidenschals“ vom Leder, spricht vom „metrosexuellen Style-Terror der Großstadt-Weicheier“ und rühmt den brachialen Kampf seiner Landsleute bis zum Letzten: „Da kann kein Brasilianer, Argentinier, Italiener mithalten.“ Kurt Tucholsky bemerkte dereinst: „Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.“ Achilles jedenfalls ist schon dort – und dabei längst nicht ohne Gesellschaft.