30.6.08

Der neue Sophismus

Mit wem „multilaterale“ deutsche Friedensforscher für eine „raketenfreie Zone Nahost“ kämpfen, wie man Israel moderat und pragmatisch aus der Welt schafft, wer derlei großzügig unterstützt und was das alles mit deutschen Tugenden zu tun hat – darüber gab eine Konferenz Aufschluss, die kürzlich in Berlin vonstatten ging. Christian J. Heinrich hat sich für Lizas Welt mit ihr auseinander gesetzt und begreift nun besser als je zuvor, was man im „Land der Ideen“ unter „Einfallsreichtum“, „schöpferischer Leidenschaft“ und „visionärem Denken“ versteht.

VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Es ist üblich geworden, unsere Zeiten als „postideologisch“ oder „postmodern“ zu bezeichnen und das als Fortschritt zu verstehen. Wir haben, so wird behauptet, die Ideologien und die Moderne hinter uns gelassen; aus der angestrengten Suche der Aufklärer nach der einen Wahrheit ist der Reichtum vieler, jeweils kulturell bestimmter Wahrheiten geworden. Diese Vielfalt kultureller Wahrheiten trifft auch das politische Feld. Einige der ehemaligen Bundeskanzler beispielsweise (nach eigenem Verständnis: Demokraten) bemühen sich redlich, der Demokratie ihren universalen Wert abzusprechen. Gerhard Schröder bezeichnet Putin als „lupenreinen Demokraten“, und Helmut Schmidt nimmt China in Schutz: „Ich halte nichts davon, mit westlicher Überheblichkeit von außereuropäischen Staaten mit ganz anderer Geschichte und kultureller Prägung Demokratie zu verlangen.“ Statt solcher „Überheblichkeit“ wird – nicht zuletzt zum eigenen Nutzen – der respektvolle „Dialog“ anempfohlen.

Derlei Anschmiegsamkeit an Despotie und Barbarei ist nichts Neues unter der Sonne. Schon der Aufklärer Christoph Martin Wieland ließ in seiner „Geschichte des Agathon“ den altgriechischen Sophisten Hippias sich selbst preisen: „Der Weise hingegen ist der allgemeine Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle Verfassungen und Stellungen anstehen; und er ist es eben darum, weil er keine besondere Vorurtheile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er gefällt allenthalben, weil er, wohin er kommt, die Vorurtheile und Thorheiten gefallen läßt, die er antrifft. Wie sollte er nicht geliebt werden, er, der immer bereit ist sich für die Vortheile andrer zu ereifern, ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln?“*

Hippias im Land der Ideen

Die Kulturrelativisten dieser Tage scheinen sich an Hippias ein Vorbild zu nehmen. Denn die alte Idee des Sophismus erlebt eine neue Blüte, derweil im verschlammten Bewusstsein für Wielands Kritik kein Ort mehr ist. Und Deutschland, das war und ist das Land der Kultivierung ganz besonderer Ideen; „wesentliche Eigenschaften der Deutschen“ sind – so stellte es eine Initiative unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler fest – „Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaft und visionäres Denken“. Diese Initiative mit dem tönenden Titel „Deutschland – Land der Ideen“ fand heraus, dass insbesondere die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main ein Ort ist, an dem die vorbenannten deutschen Tugenden zu finden sind. So viel Lorbeer will verdient sein.

Wenn die Frankfurter Friedensforscher nach Frieden forschen, so tun sie dies zum Beispiel im Rahmen einer „Multilateralen Studiengruppe raketenfreie Zone Nahost“. Was da klingt wie das ambitionierte Projekt der Linkspartei, Ortsgruppe Neu-Isenburg Süd, ist in Wirklichkeit eine Unternehmung der erwähnten Hessischen Stiftung und als solche der Bundesregierung, der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und nicht zuletzt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau „großzügige Unterstützung“ wert. Denn die Studiengruppe macht schon mit ihrem Namen alles richtig. Wer wollte auch etwas gegen Multilateralismus und einen raketenfreien Nahen Osten einwenden? Nur die Amerikaner setzen bekanntlich eher auf Unilateralismus und die Israelis eher auf atomare Abschreckung.

Um diese „raketenfreien Zone Nahost“ zu befördern, lud man am 24. und 25. Juni in die Vertretung des Landes Hessen nach Berlin. Es kamen ausgewiesene Experten zusammen, darunter neben dem etwas glücklosen einstigen Chef der Internationalen Atomenergieorganisation, Hans Blix, auch der ehemalige Vizeaußenminister des Iran, Mohammad Javad Ardashir Laridjani. Diese Einladungspolitik ist konsequent: In einem Strategiepapier der hessischen Friedensfreunde wurden gerade erst „pragmatische“ respektive „moderate“ iranische Politiker gelobt; man solle – so die Empfehlung an die deutsche Außenpolitik – auf ein Comeback „des pragmatisch-konservativen Rafsandjani oder des moderaten Chatami“ setzen, denn ihre „zurückhaltendere Wortwahl dürfte die Voraussetzungen für konstruktive Gespräche wie überhaupt für Direktdiplomatie zwischen Washington und Teheran [...] merklich verbessern“.

Zu Gast bei Freunden

Wie eine solche „zurückhaltende Wortwahl“ aussieht, war schon an dem als „pragmatisch-konservativ“ gelobten Hashemi Rafsandjani auszumachen, der als Vorgänger Mahmud Ahmadinedjads im Amt des iranischen Präsidenten bereits 2001 spekulierte, dass sein Land in einer nuklearen Auseinandersetzung mit Israel vielleicht 15 Millionen Menschen verlöre, was nur ein kleines Opfer für die eine Milliarde Muslime weltweit im Tausch für das Leben von fünf Millionen israelischen Juden sei. So viel vornehme Reserviertheit qualifiziert natürlich für „konstruktive Gespräche“ (und deutsche Stiftungen haben sich bekanntlich noch keinem „Dialog“ verweigert), denn die Vernichtung Israels kann dann – quasi direktdiplomatisch, aber mit Sicherheit unter Umgehung Washingtons – ganz „pragmatisch“ und „moderat“ angegangen werden. Eine ebenso „zurückhaltende Wortwahl“ wählte auch einer der most distinguished guests auf der Berliner Konferenz der HSFK, nämlich der erwähnte Mohammad Laridjani (Foto), als er die Tagungsteilnehmer zur Annullierung des „zionistischen Projekts“ aufrief, das in den vergangenen 60 Jahren zu einem „fehlgeschlagenen Plan“ geworden sei und „nur Gewalt und Grausamkeiten“ geschaffen habe.

Die deutschen Gastgeber reagierten darauf, wie gute Gastgeber eben reagieren, insbesondere dann, wenn sie dem neuen Sophismus anhängen: gar nicht. Antiisraelische Ausfälle werden als Teil der politisch-kulturellen Eigenart islamischer Gelehrter und Politiker durchaus akzeptiert und nicht selten auch goutiert. Einer der Organisatoren – Bernd W. Kubbig, seines Zeichens PD Dr. habil. – bat nach Laridjanis Rede darum, Nachfragen ausschließlich zum unmittelbaren Thema der Konferenz („Raketenabwehr, Russland und der Nahe Osten“) zu stellen, so, als wünschte er geradezu, dass Laridjani sich ohne Widerworte über Israel echauffieren kann. Einige für israelische Tageszeitungen arbeitende Journalisten hielten sich aber nicht an dieses Gebot und empörten sich, weshalb Laridjani nachlegte: Die Leugnung des Holocaust in der muslimischen Welt habe nichts mit Antisemitismus zu tun; darüber hinaus habe Präsident Mahmud Ahmadinedjad niemals die Judenvernichtung geleugnet. Außerdem dürfe der Holocaust nicht Begründung für einen „neuen Holocaust“ sein – wie er derzeit im Gazastreifen geschehe. Und last but not least dirigiere Israel eine internationale „Kampagne“ gegen den Iran.

Selbst diese Attacken Laridjanis waren den Veranstaltern kein Anlass, den „Dialog“ abzubrechen und Laridjanis Ausführungen als indiskutabel zu verurteilen. Das wiederum verstanden syrische, libanesische und saudi-arabische Teilnehmer der Konferenz ganz recht – sie fühlten sich nun ihrerseits ermuntert, gegen Israel zu Felde zu ziehen. So nahm die ins offen Antisemitische gekippte Konferenz ungehindert ihren „diskursiven“ Verlauf. Es war an Stephan J. Kramer, dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Konferenz mit der nötigen Deutlichkeit zu skandalisieren: „Antiisraelische Äußerungen und die erneute Leugnung des Holocausts auf einer mit deutschen Steuergeldern, von FES, Auswärtigem Amt, SPD und EKD geförderten und in Berlin ausgerichteten Konferenz, stellen im 70. Jahr der Erinnerung an die Reichspogromnacht die regierungsamtlichen Solidaritätsbekundungen mit Israel in Frage. [...] Dass weder das Auswärtige Amt noch Außenminister Frank-Walter Steinmeier persönlich den kruden Vergleichen Laridjanis energisch widersprochen haben, zeigt die Doppelmoral und Gleichgültigkeit im Umgang mit dem Mullah-Regime. [...] Die deutsche Regierung hofiert das Mullah-Regime, indem sie ihm unkritische Plattformen bietet, seine menschenverachtende Propaganda und Hetze zu verbreiten, von der erodierenden Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik gar nicht zu reden.“

Kollateralschäden der Friedensforschung

Nun erst, da neben der Stiftung auch ihre Finanziers unter anderem in Steinmeiers Außenministerium in die Kritik gerieten, reagierten die Veranstalter der Tagung mit einer Pressemitteilung, um die Kollateralschäden der Friedensforschung zu begrenzen. Diese Erklärung aber ist in ihrer dreisten Argumentation prototypisch für den neuen Sophismus: „Mit großer Bestürzung hat die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) Medienberichte aufgenommen, in denen im Zusammenhang mit ihrer Nahost-Konferenz vom vergangenen Mittwoch von Antisemitismus die Rede ist. Wir bedauern es außerordentlich, dass Äußerungen von Mohammad Laridjani, dem früheren iranischen Vizeaußenminister, auf dieser Konferenz die Gefühle einzelner israelischer Teilnehmer verletzt haben.“

Was auf der eigenen Konferenz los war, will man also erst aus „Medienberichten“ erfahren haben. Deshalb bedauerte die HSFK auch mit einiger Verspätung, dass „die Gefühle einzelner israelischer Teilnehmer verletzt“ wurden – und verlor kein Wort darüber, dass die Auslassungen Laridjanis nicht auf die Kränkung von Empfindungen, sondern schlicht und ergreifend auf die Existenz Israels und seiner Bürger zielten. Die Stiftung gab sich bestürzt über die Medien, in denen „von Antisemitismus die Rede ist“, nicht aber über den Antisemitismus, dem sie selbst ein Podium gab. Vielmehr wiegelte man routiniert ab: „Es gibt bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung keinen Antisemitismus.“ Wer würde das auch zugeben? Denn die Vernichtungsdrohungen, die der „pragmatische“ respektive „moderate“ Laridjani bei der Stiftung ausstieß, hat man im deutschen Wissenschafts- und Politikbetrieb noch selten als antisemitisch interpretiert.

Außerdem wollte man doch nur miteinander reden, und so folgte auch noch eine Lektion in Sachen Demokratie: „Keine der Reden wurde vorab kontrolliert oder zensiert. Das Veranstaltungsformat ermöglicht es, Kontroversen auszutragen.“ Und genau dies sei geschehen: „Eine unabhängige Organisation stellt ein Diskussionsforum zur Verfügung, auf dem Politiker und Experten ohne die Einschränkungen des diplomatischen Verkehrs Positionen austauschen können – durchaus auch kontrovers.“ Nur die israelische Regierung, so die hessischen Friedensforscher, war wohl nicht recht dialogbereit: „Die wiederholten Bemühungen der HSFK, Minister der israelischen Regierung für einen Redebeitrag zu gewinnen, waren leider erfolglos.“ Dennoch gab man sich generös: „Wir sind und bleiben mit Israel eng verbunden.“ Zweifelsohne war die Konferenz Ausdruck dieser Verbundenheit, und selbst Mohammad Laridjani ist – wie jeder Antisemit und jeder Antizionist – den Juden und ihrem Staat in recht eigener Art und Weise eng verbunden.

Der geschäftsführende Stiftungsvorsitzende Harald Müller, Professor selbstredend, betonte in der Presseerklärung, indem er abschließend sich selbst zitierte, gar nichts gegen Juden zu haben, ja, ihnen vielmehr dankbar zu sein, dass die deutschen Väter und Großväter den Holocaust an ihnen verüben durften: „Mit einer furchtbaren Vergangenheit konfrontiert, leiten wir heute unseren Stolz und Patriotismus daraus ab, uns dieser Vergangenheit gestellt zu haben.“ Auf den sekundären Antisemitismus, der den Juden Auschwitz nicht verzeihen wollte (so der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex), folgt nun also der tertiäre, der den Juden für Auschwitz aus patriotischen Gründen geradezu dankbar ist. So färbt sich der Sophismus der Friedensfreunde schwarz-rot-gold, und es entfalten sich die „wesentlichen Eigenschaften der Deutschen“: „Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaft und visionäres Denken.“ Der weise Hippias, er hat wirklich gute Schüler.

* Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon, in: ders.: Sämtliche Werke, Erster Band, Leipzig 1794 (Göschen), S. 159. Rechtschreibung und Grammatik wie im Original.

Bildmontagen: Lizas Welt

29.6.08

Mies gemacht (VII)

Lieber Philipp Lahm! Dass Sie den Verdammten dieser Erde „breit gefächert“ helfen wollen, auf der Autobahn Ihrem Namen stets die Ehre erweisen und auch ansonsten der Traum aller Schwiegermütter sind, wissen wir schon länger. Dass Sie nun aber auch noch unter die Veget-Arier gegangen sind und in letzter Sekunde mit einer Art finalem Rettungsschuss einen Massenmord an unschuldigen Vierbeinern verhindert haben – das war uns dann doch neu. Sehen wir Sie demnächst auch auf den Plakaten von „PETA Deutschland e.V.“?

Liebe Sachsen! Da bemühen sich nicht zuletzt die TV-Anstalten vor dem Spiel eurer Landsleute gegen die Türkei mit betriebsamer Hektik um Deeskalation – und dann haucht ihr der alten Zote aus Zonenzeiten – „Zentrales Deutsches Fernsehen Außer Raum Dresden“ (ZDF/ARD) – neues Leben ein. Hat der Bildausfall im Tal der Ahnungslosen eine Woche früher eingesetzt als im Rest der Republik? Oder habt ihr am Ende nur den gleichen Ernährungsberater wie Oliver Bierhoff?

Liebe Deutschlandfans! „Wien ist das Ziel unserer Reise“, verkündete ein unbescheiden großes Transparent vor dem Halbfinalkick eurer Eleven in Basel; „Ein Land, ein Team, ein Ziel“, kannte dort eine etwas kleinere Stoffbahn von euch keine Parteien mehr, sondern nur noch die Fußballvolksgemeinschaft. An welches historische Spiel hat uns das bloß erinnert?

Lieber Béla Réthy! Wir wollen gar nicht lange drum herum reden: Als Wahrsager auf dem Jahrmarkt würden Sie mutmaßlich eine weitaus bessere Figur abgeben denn als Kommentator von Fußballspielen. Auch wenn Semih Sentürk das 2:2 nicht, wie von Ihnen Sekunden vorher prophezeit, „durch die Unterhose“ von Jens Lehmann erzielt hat, sondern an dessen linkem Knie vorbei.

Liebes Zentralkomitee des Zweiten Deutschen Fernsehens! Euer Kommuniqué zum „Abschneiden des ZDF bei den Übertragungen von der Fußball-Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz“ hat uns sowohl hinsichtlich der Sprache als auch mit Blick auf den Wahrheitsgehalt schwer an die historischen Leistungen des längst verblichenen Genossen Erich Honecker erinnert: „Mit einer hervorragenden Aufstellung, glänzender Technik, mit Herz und Verstand hat der Sender alles gegeben“, lässt sich euer Generalsekretär Nikolaus Brender zitieren, bevor er resümiert: „Rekordzahlen bei den Einschaltquoten, viel Lob und Anerkennung für Moderatoren, Reporter, Experten und Kommentatoren und eine Bildschirmpräsentation auf hohem Niveau zeichnen die Euro 2008 im ZDF aus.“ Kurzum: Das Zweite in seinem Lauf hält weder Ochs’ noch Esel auf. Dafür ein recht herzliches Rot Front!

Liebe „Bild“-Zeitung! „Schlagt die Spanier in der Luft“, gebt ihr die Taktik für die finale Offensive vor. Und wir dachten immer, die Deutschen seien auch im Felde unbesiegt. Aber nix da: Mythen in Tüten.

Lieber Günter Netzer! Alle Schmerzen zu vergessen, wenn das Vaterland ruft – das haben Sie in Ihrem Plädoyer für den Exportschlager „deutsche Tugenden“ doch glatt zu fordern verabsäumt. Letzte Chance: am Sonntagabend.

Liebe Uefa! 24 Länder sollen also künftig an der EM-Endrunde teilnehmen dürfen. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an Zeiten, da waren es gerade mal überschaubare vier. Andererseits: So hat auch Berti wieder eine Chance. Sofern er seine Spieler dazu bringt, vorwärts schneller zu laufen als die Russen rückwärts.

Liebe Erika Holbein und lieber Günther Kleiner! Sie wissen schon, was Sie Ihrem „EM-Baby“ („Bild“) da angetan haben, oder? Den frisch geschlüpften Nachwuchs zu Ehren der Herren Schweinsteiger und Podolski „Bastian Lukas“ zu benamsen, wird dereinst von den Mitschülern nämlich ohne jeden Zweifel und ohne jede Nachsicht mit dem in der Regel wenig freundlich gemeinten Kürzel „Balu“ bestraft werden. Und das dürfte noch die harmloseste Hänselei sein.

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

24.6.08

Mies gemacht (VI)

Lieber Luca Toni! Dass Sie sich ausgerechnet in Ihrer derzeitigen Situation einen Pornobalken wachsen lassen, bis Sie das nächste Mal die Bude getroffen haben – ist das wirklich nur eines dieser albernen Aberglaubensrituale, an denen Fußballer kleben wie Ihre Gegenspieler bei der Euro an Ihnen? Oder eher eine spezielle Form katholischer Selbstgeißelung? Und jetzt schnell wieder runter mit dem Ding; wir sind nicht mehr in den Achtzigern und auch nicht beim Handball.

Lieber Oliver Bierhoff! „Liegt’s an Schweinis Freundin, dass er so gut drauf ist?“, wollte ein „Bild“-Konsument von Ihnen wissen, und da blieben Sie eine kompetente Antwort natürlich nicht schuldig: „Sie hat bestimmt ihren Anteil an seinem Wohlbefinden. Man spürt, dass er nach der Roten Karte total ehrgeizig ist.“ Wir möchten nicht indiskret sein, aber der Herr Schweinsteiger schlägt doch nicht etwa seine Liebste?

Lieber Thomas Hitzlsperger! „Sie sind erst besiegt, wenn sie in den Bus steigen“, entfuhr es Ihnen, auf Ihren Halbfinalgegner Türkei angesprochen. Darf man fragen, was Sie da am Mittwoch mit den Jungs von Fatih Terim vorhaben? Um Fußball scheint es jedenfalls nicht zu gehen.

Lieber Torsten Frings! Ganz im Ernst: Das „Ripp, Ripp, Hurra“ der Balkenpresse anlässlich Ihrer nahenden Genesung schmerzt noch mehr als die Verletzung, nicht wahr? Im Kopf zwar, aber es schmerzt. Da hilft auch kein gepanzerter Spezialverband.

Lieber Michael Ballack! Scheiß aufs Halbfinale! Oder doch ins Halbfinale?

Lieber Sönke „Sommermärchen“ Wortmann! Ein „Integrations-Spot“ soll es also sein, was Sie da im Auftrag des DFB mit einigen Spielermüttern und -vätern gedreht haben. Aber mal ehrlich: Ein bisschen zu grillen (ganz stark: der Auftritt von Maria-Theresia Metzelder und ihrem Kartoffelsalat!) und sich anschließend zu einem Länderspiel der DFB-Elf vor der Glotze zu versammeln, verlangt doch niemandem Konzessionen ab, die ihren Namen verdient hätten. Deshalb ein kleiner Tipp: Werfen Sie den Herrschaften beim nächsten Take einfach einen Fußball hin. Wenn sich Bärbel Mertesacker und Beatrice Kemper-Asamoah anschließend gegenseitig mit Blutgrätschen traktieren, ohne dass es hässliche Revanchefouls setzt, dann kommt das mit der Integration noch viel glaubwürdiger rüber.

Liebe „Tagesthemen“! Da habt ihr sowohl dem Tom Buhrow als auch eurem Publikum aber einen hinreißend schönen Streich gespielt und die Grüne Jugend klar auf Platz zwei verwiesen. Oder ging es nur um ein bisschen gut Wetter gegenüber den Anhängern des Halbfinalgegners?

Liebes ZDF! Jürgen Klopp und Urs Meier sind wir nach der Europameisterschaft ja endlich los. Wie wär’s denn damit, gleich Tabula rasa zu machen und auch den Dritten im Bunde aus dem Studio zu fegen? Alles andere wäre nämlich nur ein fauler Kompromiss, denn: „Niemand ist der Wahrheit ferner / als Johannes Baptist Kerner.“ (Wiglaf Droste)

Liebe „Bild“-Zeitung! „Kugelrund sind diese Bäuche und die Frauen voller Freude, denn sie sind“ – na klar – „schwarz-rot-schwanger“, brachten sie uns in puncto Pflichterfüllung für das Vaterland auf den neuesten Stand. Was kriegen die engagierten und kreativen Damen denn von Ihnen, wenn’s so weit ist? Nur eine Gebärprämie oder gleich das Mutterkreuz?

Lieber Sprecher von „ArcelorMittal“ (Eisenhüttenstadt)! Ihre Angestellten lassen Sie am Mittwochabend also arbeiten statt Fußball gucken. Aus der Perspektive eines Unternehmers ist das sicher irgendwo verständlich. Nur Ihre Begründung kommt uns dann doch verdächtig, um nicht zu sagen geradezu historisch deutsch vor: „Man kann ja nicht einfach einen Hochofen abstellen.“

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

22.6.08

Mies gemacht (V)

Lieber Günter Netzer! Im Zeitalter von Lean-Production und Outsourcing hat es selbst der Exportweltmeister nicht immer leicht, sein „Made in Germany“ an die Kundschaft zu bringen. Da ist der Rückgriff auf, sagen wir mal, Bewährtes und Vertrautes zweifellos hilfreich. „Deutsche Tugenden haben wir immer noch am besten“, warben Sie also nach dem Flick-Kick gegen Portugal für den geschundenen Standort, denn „dafür fürchtet man uns, und damit verbreiten wir Angst und Schrecken“. Beruhigend immerhin, dass notfalls die US-Army am Ende wieder leistet, woran andere zuvor gescheitert sind.

Lieber Fußballgott! Tschechien raus, Portugal raus, Kroatien raus, Holland raus – was ist es, das dich zürnen lässt? Das Turnierreglement der Uefa? Oder sollte es am Ende gar so sein, dass das Martyrium deines Jüngers Gary Lineker – „Fußball ist ein Spiel, bei dem 22 Spieler hinter einem Ball herjagen, und am Ende gewinnt immer Deutschland“ – von der Botschaft zum Gebot geworden ist? Dem Himmel sei Dank sind wir Atheisten.

Lieber Slaven Bilić! Hat vor dem vergeigten Viertelfinalspiel Ihrer Kroaten bloß der CD-Player die Grätsche gemacht? Oder hat Ihnen die humorlose Uefa verboten, in der Kabine weiterhin Faschomucke aufzulegen? Jedenfalls viel Erfolg beim Elfmeter-Schießen gegen die Jungs von der Ustaša!

Lieber Josef Hickersberger! Wissen Sie, was das Beste am Ausscheiden Ihrer Mannschaft ist? Dass uns, um es mit Ihren Worten zu sagen, Ihr Eierkopf nicht mehr auf den Sack geht. Ungelogen.

Liebe Uefa! Die Begründung für die zurückgenommene gelb-rote Karte im Spiel zwischen den Niederlanden und Russland glaubt ihr doch nicht mal euch selbst, oder? Falls aber doch, solltet ihr Luboš Michels Helfer an der Seitenlinie schnellstmöglich befördern, bevor der gute Mann mit dem Röntgenblick von der NASA abgeworben wird.

Liebe deutsche Autokorsofahrer! Mit zweieinhalb Promille und dem Ranzen auf der Hupe stundenlang Smogalarm spielen – aber die Türken reiten den Globus zuschanden, ja? Wir erinnern euch daran, wenn ihr das nächste Mal die Benzinwut kriegt oder die Bullen euren Lappen kassieren.

Liebes Schweizer Fernsehen! Den Text der ersten Strophe einzublenden, wenn Deutsche und Österreicher anlässlich eines Ereignisses von schicksalhafter Tragweite gemeinsam stramm stehen – das hatte was. Ihr habt euren durchaus geschichtsbewussten Mitarbeiterinnen jetzt aber nicht etwa angekündigt, zur Strafe nach Bautzen zu müssen?

Liebe Kollegen von „sportal.de“! Eine Frage: Wenn die Nazis das Hoffmannsche „Deutschland über alles“ bloß „missbraucht“ haben, wie ihr meint – wie sähe dann die reguläre Umsetzung dieser überaus bescheidenen Forderung zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt aus? Na?

Liebe deutsche Privatflieger! Bevor es in Vergessenheit gerät: Die „Legion Condor“ gibt es gar nicht mehr, und was aus dem „Unternehmen Barbarossa“ wurde, könnt ihr eure in solchen Dingen recht auskunftsfreudigen Vorfahren fragen. Spielt doch einfach mit Mathias Rust eine Runde Poker. Dann stellt ihr in dieser Zeit wenigstens keinen anderen Unsinn an.

Liebe Fanmeilen-Besucher! Irgendein schlauer Kopf hat kürzlich den Euphemismus „Public Viewing“ mit der Erfindung des Wortes „Rudelgucken“ zur Kenntlichkeit entstellt. Und wir setzen mit Jürgen Roth gerne noch einen drauf: „Der einzige Ort, an dem sich das unvergleichliche Spiel Fußball würdevoll und adäquat verfolgen lässt, ist die Quartierskneipe alten Stils, in der, unbesehen ihres Standes, ihrer Kleidung, ihres Gebarens, Einzelgänger so beheimatet sind wie Ansprachebedürftige und Dauerunterhalter. Alles andere gehört zum Teufel und nach der EM für alle Zeiten wieder abgeschafft.“

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

18.6.08

Mies gemacht (IV)

Liebe Österreicher! Es ist echt zum Narrischwerden: Immer dann, wenn ihr den Piefkes bei euch daheim eine historische Pleite bescheren könntet, streicht ihr die Segel oder fraternisiert. Unter uns Pastorentöchtern: Wahrscheinlich habt ihr sowieso nur darauf spekuliert, dass die Deutschen ein zwonull vorlegen und ihr euch kurz darauf für den Anschluss-Treffer feiern lassen könnt.

Lieber Manuel Mejuto González! Wir sehen ja ein, dass Schiedsrichter schon von Amts wegen Spaßbremsen sein müssen. Aber hätten Sie mit den Bankverweisen für Joachim Löw und Josef Hickersberger nicht trotzdem noch einen Moment warten können? Dann wären wir nämlich in den Genuss des schönen Spektakels gekommen, wie die beiden sich gegenseitig auf die Glocke geben. Und Sie hätten vom „kicker“ auch keine fünf minus verpasst bekommen, sondern eine eins mit Sternchen gekriegt. Next time!

Lieber Joachim Löw! Erst den Coach der Gastgeber verbal abgegrätscht, dann den Vierten Offiziellen formatiert und schließlich auch noch kackfrech das Unschuldslamm gespielt – manchmal ist das mit der „högschden Disziplin“ gar nicht so einfach, was? Oder haben Sie am Ende doch an der Mannschaftssitzung teilgenommen, die nach Angaben Ihres Kapitäns ohne Sie stattfand?

Lieber Josef Hickersberger! „Der vierte Schiedsrichter hat die Nerven verloren“, sagten Sie dem ZDF, nachdem Sie die Nerven verloren hatten. Und setzten noch eins drauf: „Wie die Spanier halt so sind.“ Der vermeintliche Spanier an der Seitenlinie war allerdings in Wahrheit ein Slowene namens Damir Skomina. Aber wie die Tschusch’n halt so sind: Nutzen schamlos jede sich bietende Gelegenheit, um die braven Österreicher nach Strich und Faden zu verarschen. Jörg Haider, das Opfer, wird’s Ihnen gewiss bestätigen.

Lieber „Express“! Rache ist nun mal Blutwurst. Bzw. Uefa strikes back.

Liebe „Bild“-Zeitung! Jetzt, wo eure Deutschländer- den „Ösi-Würstchen“ in deren Hauptstadt „Auf Wienersehen“ gesagt haben, wie von euch prophezeit: Was macht ihr eigentlich, wenn die Portugiesen nun in Basel Löws Rumpelfüßler übers Rheinknie legen? Zum Galão-Boykott aufrufen? Oder doch nur Fado tanzen?

Lieber Alexander Duszat alias „Elton“! „Ich hasse die Holländer immer noch“, bekannten Sie in „Nachgetreten“ freimütig, nachdem die niederländischen Spieler es gewagt hatten, ihren grandiosen 4:1-Triumph über den Vizeweltmeister Frankreich gemeinsam mit ihrem Nachwuchs auf dem Spielfeld zu feiern. „Sind die etwa sympathischer, nur weil sie Kinder auf den Arm genommen haben?“, fragten Sie bloß rhetorisch, um sodann eine gar profunde Parallele zu ziehen: „Hitler hat auch Kinder auf den Arm genommen!“ Was jedoch nicht heißen solle, „dass ich die Holländer mit Nazis vergleiche“. Natürlich nicht. Sie wollen als guter Deutscher bloß den Anfängen wehren, bevor die Oranjes einen Vernichtungskrieg vom Zaun brechen und Konzentrationslager bauen lassen.

Liebes ZDF! Hat Nicolae Ceauşescu sein Comeback gegeben? Oder war bloß der Chef eurer Requisite früher IM bei der Securitate?

Liebe Merle! Könntest du bitte auch „Mario Pommes“ als Klingelton aufnehmen lassen? Falls nein, stellen wir hiermit Strafanzeige gegen „Duplo“, „Hanuta“, deine Mutter und Opa Heinrich. Wegen Verführung Minderjähriger. Und gegen die „Hannoversche Allgemeine“. Wegen öffentlicher Ruhestörung. Olé, olé!

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

16.6.08

Antisemitismus ohne Antisemiten

Dass Gremienarbeit in der Regel eine sterbensöde Angelegenheit ist, weiß jeder, der schon einmal selbst mit ihr befasst war oder sich auch nur der Mühe unterzogen hat, eine öffentliche Ausschusssitzung zu verfolgen. Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages bildet da keine Ausnahme, denn er beschäftigt sich zumeist mit so überaus weltbewegenden Dingen wie der Neuordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechtes, der Reform der Bundespolizei oder den Gesetzen zur Umsetzung von EU-Richtlinien. Heute jedoch versprach etwas mehr Leben in die Bude zu kommen, denn auf der Tagesordnung stand eine mehrstündige Anhörung zum Thema „Kampf gegen Antisemitismus“. Dazu waren zehn Sachverständige geladen, die ihre Erkenntnisse und Vorschläge unterbreiten sollten.

Doch von High Life in Tüten keine Spur: Die meisten Redner legten ihren Schwerpunkt auf eine Betrachtung des rechtsextremistischen Antisemitismus’, wie er sich etwa in neonazistischen Hetzschriften, Friedhofsschändungen und Übergriffen äußert; der muslimische Judenhass hingegen kam nur am Rande zur Sprache, wie auch der hierzulande höchst mainstreamfähige Antizionismus oder die allgegenwärtige „Israelkritik“ nebensächlich waren. Viel war von „Vorurteilen“ und „sozialen Hintergründen“ die Rede, von „Prävention“ und „Aufklärung“, von „Menschenrechtserziehung“ und „zivilgesellschaftlichem Engagement“. Die Vorträge wirkten oft seminaristisch; sie hatten wenig von einem entschlossenen Kampf gegen den Judenhass, sondern rankten sich de facto weit stärker darum, wie der Antisemitismus sich möglichst effektiv verwalten lässt. Symptomatisch dafür war die Forderung von Julius Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam, ein „vom Bund zu beauftragendes Expertengremium“ einen „wissenschaftlich fundierten jährlichen Expertenbericht“ erstellen zu lassen – auf dass die Problematik auch ja eine von Akademikern bleibe.

Aus dem schläfrigen Konsens-Einerlei ragte jedoch ein Beitrag heraus, nämlich der des Publizisten Henryk M. Broder. Broder machte gleich zu Beginn deutlich, dass es sich beim Antisemitismus nicht um ein simples Vorurteil handelt, sondern um ein handfestes Ressentiment, bevor er die Wandlungsfähigkeit und Modernisierung des Judenhasses analysierte – eines Judenhasses, der heute als Antizionismus oder „Israelkritik“ verkleidet daherkomme und damit Ausdruck eines (nur vermeintlichen) Paradoxons namens „Antisemitismus ohne Antisemiten“ sei: „Der moderne Antisemit findet den ordinären Antisemitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbefangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglichkeit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten Form auszuleben. Denn auch der Antizionismus ist ein Ressentiment, wie der klassische Antisemitismus es war. Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt.“

Lizas Welt dokumentiert im Folgenden, mit freundlicher Genehmigung des Autors, Broders Redebeitrag vor dem Innenausschuss des Bundestages.


VON HENRYK M. BRODER

Meine Damen und Herren, liebe Kollegen, sehr geehrte Frau Köhler, sehr geehrter Herr Edathy,

ich danke Ihnen für die Einladung zu dieser Anhörung. Es ist mir eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich weiß, dass es einige Irritationen wegen meiner Teilnahme gegeben hat. Aber ich bin sicher, dass Sie am Ende meines Statements es nicht bereuen werden, mich eingeladen zu haben.

Es ist nicht die erste Anhörung zum Thema Antisemitismus, und es wird nicht die letzte bleiben. Seit der Schriftsteller und bekennende Judenfeind Wilhelm Marr im Jahre 1879 die Schrift „Der Sieg des Germanenthums über das Judenthum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet“ veröffentlichte und damit zum Wortführer des politischen Antisemitismus im Kaiserreich avancierte, hat es zahllose Versuche gegeben, den Antisemitismus zu definieren, zu erklären und zu neutralisierten – sie sind alle gescheitert. Wäre dem nicht so, säßen wir heute nicht hier. Jede Diskussion über den Antisemitismus fängt mit einer Begriffsbestimmung an, viele kommen nicht darüber hinaus, und am Ende aller Bemühungen, das Phänomen in den Griff zu bekommen, steht die Erkenntnis: „Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich notwendig ist.“

Ich möchte mich deswegen auf zwei Punkte konzentrieren, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, zwei Argumente, die man beachten muss, wenn man nicht eine virtuelle Debatte führen will.

Erstens: Wir haben es beim Antisemitismus nicht mit einem Vorurteil, sondern mit einem Ressentiment zu tun. Vorurteile sind harmlos; man braucht sie, um sich im Leben zurechtzufinden. Ich habe Vorurteile, Sie haben Vorurteile, jeder Mensch hat Vorurteile. Und wir stören uns nur an negativen Vorurteilen. Wenn ich Ihnen sage, dass die Deutschen fleißig, diszipliniert und gastfreundlich sind, werden Sie mir erfreut zustimmen. Wenn ich dagegen sage, dass die Deutschen geizig, humorlos und kindisch sind, werden Sie sich vermutlich empören. Das, werden sie sagen, ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Mit den Juden ist es genauso. Positive Vorurteile – das Volk des Buches, das Volk des Witzes – hören wir uns gerne an; negative, die unsere Neigung zu schlechtem Benehmen thematisieren, fassen wir als Beleidigung auf.

Der Unterschied zwischen einem Vorurteil und einem Ressentiment ist folgender: Ein Vorurteil zielt auf das Verhalten eines Menschen, ein Ressentiment auf dessen Existenz. Der Antisemitismus gehört in die Kategorie der Ressentiments. Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er existiert. Der Antisemit nimmt dem Juden sowohl die Abgrenzung wie die Anpassung übel. Reiche Juden sind Ausbeuter, arme Juden sind Schmarotzer, kluge Juden sind überheblich und dumme Juden – ja, die gibt es auch – eine Schande für das Judentum. Der Antisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch das Gegenteil. Deswegen bringt es nichts, mit Antisemiten zu diskutieren, sie von der Absurdität ihrer Ansichten überzeugen zu wollen. Man muss sie ausgrenzen, sie in eine Art sozialer Quarantäne isolieren. Die Gesellschaft muss klar machen, dass sie den Antisemitismus und den Antisemiten verachtet, so wie sie die Prügelstrafe als Mittel der Erziehung und die Vergewaltigung – auch die eheliche – verachtet, wohl wissend, dass sie nicht alles kontrollieren kann, was hinter zugezogenen Gardinen und unter vier Augen passiert.

Zweitens: Wenn Sie dem Antisemitismus beikommen wollen, müssen Sie einsehen, dass er keine fixe Größe ist, wie der Urmeter in Paris oder die Definition für Volt, Watt und Ampere. Wie alle sozialen Phänomene unterliegt auch der Antisemitismus einem Wandel. Auch Armut ist heute nicht mehr das, was sie zur Zeit von Oliver Twist oder Aschenputtel war.

Der Antisemitismus, über den wir immer noch am liebsten reden, stammt aus der Asservatenkammer des letzten und vorletzten Jahrhunderts. Es ist, um mit Bebel zu sprechen, der Sozialismus der dummen Kerle, die noch immer einem Phantom nachjagen. Der gewöhnliche Antisemit hat vom Gegenstand seiner Obsessionen keine Vorstellung, nur eine diffuse Ahnung. Er tobt sich aus, indem er Hakenkreuze an Bauzäune malt und „Juda verrecke!“ auf Grabsteine schmiert – ein Fall für die Polizei und das örtliche Amtsgericht, nicht mehr. Niemand wird sich mit Rabauken solidarisieren, die den Arm zum Hitlergruß heben und dabei „Juden raus!“ schreien. Diese Art des Antisemitismus ist hässlich, aber politisch irrelevant, ein Nachruf auf sich selbst.

Der moderne Antisemit dagegen tritt ganz anders auf. Er hat keine Glatze, dafür Manieren, oft auch einen akademischen Titel, er trauert um die Juden, die im Holocaust ums Leben gekommen sind, stellt aber zugleich die Frage, warum die Überlebenden und ihre Nachkommen aus der Geschichte nichts gelernt haben und heute ein anderes Volk so misshandeln, wie sie selber misshandelt wurden. Der moderne Antisemit glaubt nicht an die „Protokolle der Weisen von Zion“, dafür fantasiert er über die „Israel-Lobby“, die Amerikas Politik bestimmt, so wie ein Schwanz mit dem Hund wedelt. Der moderne Antisemit gedenkt selbstverständlich jedes Jahr der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, zugleich aber tritt er für das Recht des Iran auf atomare Bewaffnung ein. Denn: „Was man Israel oder Pakistan gewährt, kann man dem Iran nicht verweigern“ – Originalton Norman Paech. Oder er dreht kausale Zusammenhänge um und behauptet, die atomare Bedrohung gehe nicht vom Iran, sondern von Israel aus – wie es Professor Udo Steinbach vor kurzem in einer Sendung des WDR getan hat.

Der moderne Antisemit findet den ordinären Antisemitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbefangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglichkeit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten Form auszuleben. Denn auch der Antizionismus ist ein Ressentiment, wie der klassische Antisemitismus es war. Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt. Und deswegen beteiligt er sich so leidenschaftlich an Debatten über eine Lösung der Palästina-Frage, die für Israel eine Endlösung bedeuten könnte, während ihn die Zustände in Darfur, in Zimbabwe, im Kongo und in Kambodscha kalt lassen, weil dort keine Juden involviert sind. Fragen Sie doch mal den außenpolitischen Sprecher der Linken, wie viele Stellungnahmen er in den letzten Monaten zu „Palästina“ abgegeben hat und wie viele zu Tibet. Danach reden wir weiter.

Früher – sagen wir: zurzeit von Wilhelm Marr, Karl Lueger und Adolf Stoecker – war alles ganz einfach. Es gab die Juden, die Antisemiten und den Antisemitismus. Nach 1945 gab es dann aus den bekannten Gründen einen Antisemitismus ohne Juden, und heute haben wir es wieder mit einem neuen Phänomen zu tun: einem Antisemitismus ohne Antisemiten. Neu ist auch das Berufsbild des Freizeitantisemiten, der tagsüber seiner regulären Arbeit nachgeht – unter Umständen sogar bei einer Bundesbehörde – und nach Dienstschluss „israelkritische“ Texte verfasst, die dann auf obskuren antizionistischen Websites erscheinen. Niemand will ein Antisemit sein, aber in der Hall of Shame der Antizionisten wird der Platz langsam knapp.

Antisemitismus und Antizionismus sind zwei Seiten derselben Münze. War der Antisemit davon überzeugt, dass nicht er, der Antisemit, sondern der Jude am Antisemitismus schuld ist, so ist der Antizionist heute davon überzeugt, dass Israel nicht nur für die Leiden der Palästinenser, sondern auch dafür verantwortlich ist, was es selbst erleiden muss.

Die Älteren unter Ihnen werden sich vielleicht noch an den Satz erinnern, mit dem ein grüner Politiker, der noch immer dem Bundestag angehört, zurzeit des Golfkrieges die irakischen Raketenangriffe auf Israel Anfang 1991 kommentierte: „Die irakische Raketenangriffe sind die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels.“ Derselbe grüne Politiker sprach sich damals auch gegen die Lieferung von Defensivwaffen wie den Patriot-Raketen an Israel aus, weil diese ebenfalls zur Eskalation der Lage beitragen würden. Heute, 17 Jahre später, hören und lesen wir ähnliche Sätze über Raketenangriffe aus dem südlichen Libanon und dem Gazastreifen auf Israel – dass sie die logische, fast zwangsläufige Folge der Besatzungspolitik Israels seien und dass Israel gut daran täte, nicht zu reagieren, um eine Eskalation zu vermeiden. Denn der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen. Er ruft „Wehret den Anfängen!“, wenn eine handvoll Hobbynazis in Cottbus aufmarschiert, rechtfertigt aber die Politik des iranischen Präsidenten und den Fortgang der Geschäfte mit dem Iran.

Meine Damen und Herren, wir werden das Problem des Antisemitismus nicht lösen, nicht bei dieser Anhörung und nicht bei der nächsten. Aber allein, dass Sie sich mit diesem Thema befassen, obwohl es andere und wichtigere Probleme gibt, die behandelt werden wollen, ist ein gutes Zeichen. Wenn ich Ihnen in aller Demut und Bescheidenheit eine Empfehlung geben darf: Überlassen sie die Beschäftigung mit dem guten alten Antisemitismus à la Horst Mahler den Archäologen, den Antiquaren und den Historikern. Kümmern Sie sich um den modernen Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus und um dessen Repräsentanten, die es auch in Ihren Reihen gibt.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Update 19. Juli 2008: Eine von John Rosenthal ins Englische übersetzte Fassung von Broders Redebeitrag findet sich bei Pajamas Media: „Anti-Semitism Without Anti-Semites“

14.6.08

Mies gemacht (III)

Liebe „Bild“-Zeitung! Was eure deutschen Lieblinge da am Donnerstag geboten haben, nanntet ihr schwer zornig eine „Kroatastrophe“. Jetzt sind wir auf eure ostmarkerschütternde Schlagzeile gespannt, wenn Jogis Jungs am Montagabend cordobaden gehen und gegen die Ösis das Vorrundenaustria kommt. Sollte aber doch der Einzug ins Viertelfinale gelingen, ist da halt Ende Gelände gegen Ronaldo & Co. Und mal ehrlich: Wäre das nicht portugeil?

Lieber Oliver Fritsch! „Das war nicht Rammstein, das war Pur. Oder Silbermond“, lasen wir auf Ihrer sonst so formidablen Seite „Indirekter Freistoß“ über den letzten Auftritt der DFB-Elf. Also nicht Leni Riefenstahl, sondern Hans W. Geißendörfer. Oder Hans-Jürgen Tögel. Andererseits: Mit denen ist natürlich kein Krieg zu gewinnen. Und, scheint’s, noch nicht mal ein Fußballspiel.

Lieber Bastian Schweinsteiger! Für „Rammstein“ reicht das, was Sie da in der Nachspielzeit mit Ihrem Gegenspieler veranstaltet haben, vermutlich nicht ganz. Aber wenigstens ein Solopart bei den „Böhsen Onkelz“ sollte schon drin sein. Vielleicht als Schlagzeuger?

Lieber Waldemar Hartmann (ARD) und lieber Ingolf Lück (ZDF)! Dass die Polacken klauen, die Käsköppe Wohnwagen fahren und die Spagettifresser durchtriebene Halunken sind, weiß man hierzulande zwar auch ohne „Waldis EM-Club“ und „Nachgetreten“. Aber na gut: Die Wiederholung ist die Mutter der Weisheit. Die eigentliche Erkenntnis aus euren allabendlichen Stammtischen ist allerdings eine andere: Die Krauts sind immer noch die guten alten Herrenmenschen.

Lieber Franz-Josef Wagner („Bild“)! Beim „Fußball-Volleyball am Strand“ – was für eine Sportart das auch immer sein soll – sind Sie nach eigenen Angaben eine Niete. In Rassenkunde hinwiederum macht Ihnen so schnell keiner was vor. Damit beeindrucken Sie am Strand von Rimini zwar niemanden. Aber Ihre Kollegen von „Nachgetreten“ halten Ihnen beim nächsten Turnier bestimmt ein Plätzchen frei.

Liebes Deutsches Sport-Fernsehen (DSF)! Wenn andere die EM zeigen, muss man sich halt was einfallen lassen, um Quote zu machen, nicht? Und für eure Idee, eine nackte Blondine mit einer Volltrottelhalskrause zu behängen und sie anschließend stundenlang Automarken mit „O“ suchen zu lassen, seid ihr dann ja auch von euren Zuschauern belohnt worden. Am besten gefallen haben uns übrigens die Vorschläge „Cabrio“, „Renault“ und „Motorrad“.

Liebe Torhüter! Eure Ausrede mit dem Flatterball ist widerlegt. Und zwar wissenschaftlich. Jetzt hilft nur noch Beten – vielleicht ein Flatterunser?

Liebe „Großbrauerei Ottakringer“! Lebenslänglich Freibier habt ihr jedem österreichischen Spieler versprochen, der in den letzten beiden Vorrundenpartien ein Tor schießt. Ein Werbegag ohne großes Risiko, wie der Kick gegen Polen gezeigt hat: Hickersbergers Truppe besteht nämlich fast durchweg aus Abstinenzlern. Und nicht mal der Elfmetertreffer kommt euch besonders teuer zu stehen: Ivica Vastić ist immerhin schon 38.

Liebe Fußballfans in Israel! Das mit dem Sport und der Völkerverständigung – na gut. Aber müssen es wirklich ausgerechnet iranische Pistazien sein, die ihr während der Spiele konsumiert?

Liebe deutsche Hooligans! Faschissen, wa?

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

11.6.08

Mies gemacht (II)

Liebe ARD! „Lukas Podolski: In Polen geboren, gegen Polen zurückgeschlagen“, hieß es am Montag in einem eurer ansonsten sterbensöden „Berichte“ zur deutschen Mannschaft. Darf man erfahren, wann der polnische first strike erfolgt ist? Vielleicht am 1. September 1939? Mit dem Überfall auf einen Sender in Podolskis Geburtsstadt?

Lieber Miroslav Orzechowski (Liga polnischer Familien, LPR)! Was die ARD da erzählt hat, stimmt nicht. Echt. Außerdem hat Poldi gar keinen polnischen Pass.

Liebe „Bild“-Zeitung! 2002 hieß eure Parole: „Rudi haudi Saudi!“ Und jetzt: „Poldi putzt die Polski!“ Womit dürfen wir anlässlich des Kroatien-Spiels rechnen? Vielleicht „Jogi, jag die Jugos!“? Dann lasst mal stecken.

Liebe „11 Freunde“! „Nach Invasion der Niederländer: Bern richtet dritten Public-Viewing-Bereich ein“, lesen wir in eurem „Newsticker“. Ein bisschen genauer hätten wir’s dann aber schon gerne gewusst: Peace through superior firepower? Oder eher eidgenössisches Appeasement?

Lieber Thomas Wark (ZDF)! Beim Fußball gibt es keinen „Tempogegenstoß“. Lassen Sie sich das von Heiner Brand erklären. Oder von Jürgen Klopp.

Lieber Steffen Simon (ARD)! Wie Sie das mit dem Nicht-Abseits beim einsnull der Holländer durchschaut und erklärt haben – chapeau! Aber was war das vorher bitte? „Ein Tor würde dem Spiel gut tun!“, faßbenderte es aus Ihnen. Schon die bei solchen Phrasen obligatorische Konventionalstrafe gezahlt?

Lieber Rapper von „Blumentopf“! Dass ihr euch für die Fremdscham verursachende „RAPortage“ der alten Tante ARD hergebt – geschenkt. Aber wenn ihr noch mal „Chance“ auf „Klose“ reimt, gewinnt ihr nicht nur nicht mal das, was euer Name verspricht, sondern kriegt: das nämliche Gefäß / gleich auf den Dez. Das ist mal ein Reim, was? Nichts zu danken.

Lieber Joachim Löw! Ihr „Ordnung, Ordnung, Ordnung“-Ruf am Spielfeldrand – nice try. Aber wir würden Sie trotzdem lieber wieder „högschde Diszipliiin“ badeln hören. Hat eindeutig mehr Drive. Und Unterhaltungswert sowieso.

Lieber Otto Rehhagel! Vor vier Jahren fanden es alle irgendwie süß, dass man mit einem Libero und reichlich Beton tatsächlich Europameister werden kann. Aber da waren Sie auch noch jünger und gingen glatt als Taktikfuchs durch. Heute heißen Sie nicht mehr „Rehhakles“, sondern „Zementidis“, und gelten inzwischen als altersstarrsinnig. Und zu was? Zu Recht!

Lieber Herbert Fandel! Die Turnhose bis unter die Achseln zu ziehen, sieht voll scheiße aus. Und die kleine Plautze macht man so auch nicht unsichtbar.

Liebes Team Oranje! Hat euer Ausrüster vergessen, euch die Rückennummern auf die Trikots zu flocken? Und habt ihr das dann selbst gemacht, mit dem Tapeband aus dem Koffer eures Mannschaftsarztes? Ihr Ärmsten. Noch schlimmer: eure hellblauen Strümpfe. Oder war das alles bloß Taktik, um die Italiener auf Distanz zu halten?

Liebe Volksgenossen beim StudiVZ! Hunderttausende von euch tauschen gerade ihr Profilbild gegen eine schwarz-rot-goldene Fahne aus. „Virtuelle Stadionchoreografie“ nennt ihr das. Selten einen schöneren Euphemismus für freiwillige Selbstgleichschaltung gehört.

Und noch einmal, liebe Freunde des Private Public Viewing! Das Beispiel des bedauernswerten Mitglieds von Union Berlin möge euch Warnung und Mahnung sein: „Andreas Freese, 47 Jahre alt und seit beinahe 30 Jahren im Verein, war in der Nacht zu Dienstag vom Balkon seiner Wohnung im vierten Stock an der Adlershofer Dörpffeldstraße gestürzt. Laut Polizeiangaben war er alkoholisiert auf einen Bierkasten gestiegen, um auf den Hof zu schauen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte hinunter. Er starb noch am Unfallort.“ Falls einem der euren Vergleichbares passiert, dann nehmt euch für den Nachruf einfach Dirk Zingler zum Vorbild, den Präsidenten von Union: „Andreas Freese war ein echter Unioner, einer, der die Tugenden des Vereins verkörperte und lebte“, fand der nämlich. „Und in Erfüllung seiner Vereinspflicht ist er ja dann auch gestorben.“ Fand die Titanic.

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

Dilemma mit weiser Entscheidung

Irgendwie passt es, dass in einem der bemerkenswertesten Spiele in der Geschichte der Europameisterschaft auch eines der umstrittensten Tore der Turnierhistorie fiel. Mit einem überragenden, ja, bezaubernden dreizunull schlugen am Montagabend die Niederlande den amtierenden Weltmeister Italien; der Sieg war über alle Maßen verdient, wurde jedoch mit einem Treffer eingeleitet, der noch lange für Diskussionen sorgen wird: Nach einem Freistoß von Rafael van der Vaart in den Strafraum der Italiener faustete deren Torhüter Buffon den Ball in der 26. Minute zunächst aus der Gefahrenzone – und seinen Mitspieler Panucci gleichzeitig unabsichtlich aus dem Spielfeld. Während Panucci dort lag (und liegen blieb), schlug der Niederländer Sneijder den Ball aufs Tor. Sein verdächtig frei stehender Mitspieler van Nistelrooy grätschte in den Schuss und beförderte den Ball in die Maschen. Sofort reklamierten die italienischen Spieler mit erhobenen Armen eine Abseitsposition des Schützen, und auch die niederländischen Kicker jubelten zunächst nur zögerlich – bis ihnen ein Blick zum schwedischen Schiedsrichter Peter Fröjdfeldt verriet: Der Treffer zählt.

Die Zeitlupe schien die Italiener auf den ersten Blick zu bestätigen: Im Moment des Abspiels von Sneijder befand sich van Nistelrooy klar vor dem Ball und hatte nur noch den Torwart vor sich – also weniger als die zwei gegnerischen Spieler, die erforderlich sind, damit die Abseitsposition aufgehoben ist. Aber da war ja noch Panucci, der neben dem Pfosten und hinter der Torauslinie lag, also außerhalb des Spielfeldes. Die alles entscheidende Frage lautete nun: Wird er mitgezählt oder nicht? Ja, entschieden der Referee und sein Assistent. Nein, meinten die italienischen Spieler, die kaum zu beruhigen waren; Luca Toni bekam wegen allzu ungestümen Protestierens sogar die gelbe Karte. Auch die TV-Kommentatoren waren sich uneins: Während der ARD-Reporter Steffen Simon befand, das Tor sei regulär erzielt worden, wurde im Schweizer Fernsehen das Gegenteil behauptet.

Was hilft in solchen Fällen? Ein Blick in die Fußballregeln und die Einschätzung kompetenter Menschen. Zu den Letztgenannten gehört zweifellos der Uefa-Generalsekretär David Taylor, und der bekräftigte die Schiedsrichterentscheidung: „Van Nistelrooy stand nicht im Abseits, weil sich noch der Torhüter und ein weiterer Spieler vor ihm befanden. Ein Spieler befindet sich im Spiel, auch wenn er nicht auf dem Spielfeld ist. Diese Regel ist unter Schiedsrichtern bekannt, in der Öffentlichkeit häufig nicht.“ Mit ihr solle vermieden werden, dass ein Verteidiger das Verlassen des Spielfeldes als taktisches Mittel benutzt, um einen Angreifer ins Abseits zu stellen. Taylor weiter: „Stellen Sie sich vor, bei einer Ecke steht ein Verteidiger auf der Torlinie und verlässt im letzten Moment das Feld. Welcher Schiedsrichter oder Assistent sollte das sehen? Wer soll entscheiden, ob das absichtlich war?“ Der Abteilungsleiter der DFB-Referees, Lutz-Michael Fröhlich, schloss sich an: „Das Tor war regulär. Die Regel besteht seit ewigen Zeiten. Sie soll verhindern, dass eine neue Trickkiste aufgemacht wird.“

In den Fußballregeln wiederum heißt es unter Regel 11 („Abseits“): „Begibt sich ein verteidigender Spieler hinter die eigene Torlinie, um einen Gegner abseits zu stellen, lässt der Schiedsrichter das Spiel weiterlaufen und verwarnt den verteidigenden Spieler bei der nächsten Spielunterbrechung, weil er das Spielfeld ohne Erlaubnis des Schiedsrichters absichtlich verlassen hat.“ Im Falle Panuccis allerdings lag ganz gewiss keine Absicht vor, kein taktisches Verhalten und auch keine „neue Trickkiste“. Das ändere jedoch nichts, erklärte DFB-Schiedsrichtersprecher Manfred Amerell: „Ein Abwehrspieler kann einen Angreifer nicht abseits stellen, nur weil er sich hinter der Torlinie befindet. In diesem Fall lag der Spieler unabsichtlich hinter der Linie und wird deshalb auch nicht verwarnt, wie es von der Regel im Absichtsfall verlangt wird. Dennoch ist er Teil des Spiels und hebt damit eine Abseitsstellung auf.“ Er werde „in diesem Fall so behandelt, als ob er auf der Torauslinie liegen würde“, ergänzte Lutz-Michael Fröhlich. Das hat fraglos eine gewisse Logik, denn dort, also auf der Torauslinie, wäre Panucci schließlich „genauso zur Tatenlosigkeit gezwungen gewesen, hätte aber für jeden Beobachter ersichtlich die mögliche Abseitsstellung van Nistelrooys aufgehoben“, bemerkte Daniel Meuren in der FAZ.

Dass die Erläuterungen der genannten Funktionäre so ausführlich ausgefallen sind, deutet an, dass das Innerhalb und Außerhalb in den Fußballregeln offenbar nicht immer ganz so buchstabengetreu geklärt ist und deshalb einer Interpretation bedarf. Und in der Tat finden sich ein paar Ungereimtheiten, deren für alle befriedigende Auflösung allerdings kaum möglich ist. Da wäre zunächst die Regel 3 („Zahl der Spieler“), in der festgelegt ist, wann und unter welchen Umständen ein Spieler das Spielfeld überhaupt verlassen darf: Er muss einen nachvollziehbaren Grund haben – im Klartext: „Austausch nicht erlaubter Kleidung oder Ausrüstung oder eines blutverschmierten Trikots, die Behandlung einer Verletzung oder einer blutenden Wunde“ – und außerdem die Zustimmung des Schiedsrichters einholen.

Nur in drei Ausnahmefällen wird von diesem Grundsatz abgesehen. Der erste tritt dann ein, wenn ein Spieler den Platz verlassen muss, um einen Abstoß, Eckstoß, Freistoß oder Einwurf auszuführen. Der zweite lautet: „Überschreitet ein Spieler zufällig eine Begrenzungslinie des Spielfelds, gilt dies nicht als Regelübertretung. Das kurzfristige Verlassen des Spielfelds kann als Teil der Spielbewegung betrachtet werden.“ Damit ist beispielsweise eine Zweikampfsituation an der Seitenlinie gemeint, bei der ein Akteur versehentlich kurzzeitig außerhalb des Platzes gerät. Die dritte Ausnahme betrifft pikanterweise das Abseits: Während ein Verteidiger nicht vom Feld gehen darf, um einen Angreifer ins Abseits zu stellen, ist es dem Stürmer im Sinne des Offensivgeistes sehr wohl erlaubt, sich kurzzeitig hinter die Torlinie zu flüchten, um so dem Abseits zu entgehen. Bedingung: Er muss sich dort passiv verhalten.

In allen anderen Fällen muss gemäß den Regeln mit einer gelben Karte und einem indirekten Freistoß bestraft werden, wer den Platz verlässt, ohne dem Schiri vorher Bescheid gesagt zu haben. In der von der Theorie abweichenden Praxis wird
jedoch von einem verletzten Spieler – sozusagen aus menschlichen Gründen – nicht erwartet, dass er den Referee erst um Erlaubnis bittet, bevor er sich vom Feld schleppt oder rollt, um sich jenseits der Begrenzungsmarkierungen behandeln zu lassen. Ist er dann erst mal draußen, darf er zwar vorerst nicht ins Spiel eingreifen, wird aber gewissermaßen auch nicht mehr mitgezählt – bis er wieder den Rasen betritt, nachdem der Unparteiische ihm das per Handzeichen gestattet hat. Panucci ist dabei ein Grenzfall: Angenommen, er hätte sich eine Minute vor dem Torerfolg verletzt und wäre fernab des Spielgeschehens ohne Information des Schiedsrichters über die eigene Torauslinie gehumpelt, um sich dort medizinisch versorgen zu lassen. Dann hätte ihn der Referee zweifellos gewähren lassen – und bei einer möglichen Abseitssituation, anders als am Montagabend vor dem 1:0, nicht als Abwehrspieler berücksichtigt.

Doch der italienische Verteidiger wurde just in dem Moment unfreiwillig vom Feld befördert, als es vor dem Tor seiner Mannschaft gerade lichterloh brannte. Und da stellt sich ein Problem: Wie hätten der Unparteiische und sein Assistent binnen kürzester Zeit – zwischen Panuccis unfreiwilligem Satz hinter die Torauslinie und van Nistelrooys Abschluss vergingen gerade einmal handgestoppte dreieinhalb Sekunden – entscheiden sollen, ob der Italiener sich wirklich ernsthaft weh getan hat oder ob er nicht zumindest auch aus taktischen Gründen liegen blieb (immerhin drohte akut ein Gegentor)? Das hätte wohl nicht einmal ein Arzt vermocht, schon gar nicht per Ferndiagnose. Ein perfektes Dilemma, das auch nicht durch eine Regeländerung oder -ergänzung aus der Welt zu schaffen ist. Denn man würde dem Schiedsrichter eine unverantwortlich große Last aufbürden, wenn man ihn zwänge, in einem Fall wie dem Panuccis binnen weniger Wimpernschläge zu beurteilen, was eine Verletzung ist und was bloß Simulation oder Taktik. Demgegenüber birgt die praktizierte Auslegung, im Zweifelsfall den
außerhalb liegenden Verteidiger das Abseits aufheben zu lassen, also für den Angreifer zu entscheiden, zwar im Einzelfall Härten; zumindest ist sie aber eine Richtschnur – für den Referee wie für die Spieler.

Wie auch immer: Peter Fröjdfeldt und sein Linienrichter haben nicht nur intuitiv eine regelkonforme, sondern auch eine weise Entscheidung getroffen. Sie mag ungerecht der italienischen Mannschaft und insbesondere Panucci gegenüber gewesen sein, aber sie war gerecht gegenüber den Niederländern, die schließlich nichts dafür konnten, dass der italienische Torwart seinen eigenen Mitspieler aus dem Feld boxte. Sie war gerecht in Bezug auf den Spielverlauf, denn das 1:0 war überfällig. Und sie war gerecht gegenüber allen Freunden des offensiven Fußballs. Dass immer noch heftig über sie diskutiert wird, gereicht ihr ebenfalls nicht zum Nachteil. Denn so bleibt dieses wunderbare Spiel noch ein bisschen länger im Gespräch, wie kontrovers auch immer.

9.6.08

Mies gemacht (I)

Zwei Spieltage ist sie alt, die Europameisterschaft, und irgendwie sind alle restlos begeistert von ihr. Das kann, nein, das darf natürlich nicht sein! Zeit für eine erste kleine Miesmacherei.

Liebes Team Österreich! Das mit dem Wunder von Wien war ja schon unerwartet großartig. Aber dass eure Selbstironie sogar so weit geht, dass ihr bei eurem ersten Spiel dem Gegner schon nach drei Minuten einen Elfmeter schenkt, hätten wir dann doch nicht für möglich gehalten. Ist das jetzt Gastfreundschaft? Oder habt ihr heimlich die Petition für eine österreichfreie Euro 2008 unterschrieben?

Lieber Urs Meier (Ex-Schiri und Immer-noch-ZDF)! „Die Hand hat da oben nichts zu suchen“, fluchten Sie über den vollkommen unschuldigen Tschechen Tomáš Ujfaluši, dem ein Landsmann von Ihnen aus kürzester Distanz den Ball an die nämliche Extremität geköpft hatte. Und legten nach: „Das ist Basketball!“ Schon klar. Und jetzt ab ins Körbchen!

Lieber Béla Réthy (ZDF)! „Ein Foul war’s nicht, aber natürlich gibt es einen Freistoß“, sagten Sie anlässlich einer für alle unübersehbaren Blutgrätsche von Michael Ballack gegen einen bedauernswerten polnischen Spieler. Nun wüssten wir gerne, wer Ihnen die Fußballregeln erklärt hat. Urs Meier?

Lieber Wolf-Dieter Poschmann (ebenfalls ZDF)! Zum x-ten Mal: Wenn das Männlein da draußen mit der Nummerntafel die Nachspielzeit anzeigt, ist das nicht „nur ein Vorschlag“, wie Sie glauben, sondern die Entscheidung des Schiedsrichters, die er kraft souveräner Willkür getroffen und seinem Vierten Offiziellen mitgeteilt hat. Das könnte sich inzwischen auch bis zum Lerchenberg herumgesprochen haben.

Liebes ZDF! Bei der EM spielen 16 Mannschaften mit, nicht nur eine. Danke.

Lieber Jürgen Schmieder (Süddeutsche Zeitung)! „Torsten Frings freute sich fast darüber, dass er während seines von Spielübersicht und Defensivarbeit geprägten Auftritts ein wenig grummeln durfte – ohne diese Muffeligkeit wäre Torsten Frings nicht Torsten Frings, sondern Michael Ballack“, waren Sie sich sicher. Schon Post von Ballacks Anwalt bekommen?

Lieber Karel Brückner (Tschechien) und lieber Leo Beenhakker (Polen)! Wenn ihr schon eine Dieter-Kürten-Gedächtnisfrisur spazieren führt, lass ihr euch das von dem früheren ZDF-Onkel dann wenigstens anständig bezahlen?

Liebe Freunde des Private Public Viewing! Es wird eng für euch. Eng und teuer: „Schaut sich ein Fußballfan auf seinem Balkon ein Spiel im Fernsehen an und stürzt beim Torjubel ab, so kann er keine Leistungen aus seiner privaten Unfallversicherung fordern, wenn er 2,55 Promille Alkohol im Blut hatte.“ (Amtsgericht Koblenz, Urteil vom 23. März 1999 – 15 C 3047/98)

Liebe Fanmeilenbesucher aus Österreich, Kroatien und Polen! Was müssen wir da lesen? „Fans mit Österreichflagge bejubelten das Tor der Deutschen, Kroaten sahen sich das Spiel im deutschen Trikot an, und auch die meisten Polen nahmen die Niederlage ihrer Mannschaft gefasst hin.“ Auf dem Heldenplatz in Wien! Wenn das der Führer gewusst hätte!

Liebe Deutschlandfans! Der Zweite Weltkrieg ist vorbei. Ehrlich.

Mies gemacht ist die EM-Kolumne von Lizas Welt.

7.6.08

Fahnenappell

Schockschwerenot: „Schwarz-rot-geschmacklos! Grüne urinieren auf Deutschland-Flagge!“, schlagzeilte die Bild-Zeitung am Donnerstag und präsentierte dazu ein Bild, das drei Männer zeigt, die sich gerade auf eine schwarz-rot-gelbe Fahne zu erleichtern scheinen. „Schlimmer noch“, schrieb das Blatt: „Bei den Flaggen-Pinklern handelt es sich um junge Nachwuchspolitiker. Die Fotos entstanden Ende Mai beim Bundeskongress der Grünen Jugend (GJ), der Nachwuchsorganisation der Bundespartei Bündnis 90/Die Grünen.“ Und waren eine Weile sogar auf deren Homepage zu sehen. Ein niederträchtiger Vaterlandsverrat kurz vor dem Beginn der Europameisterschaft im Fußball also? Eine neue Dolchstoßlegende gar? Nicht doch: Inzwischen sind die Bilder wieder entfernt worden, die Sprecher der Junggrünen haben sich in einer Presseerklärung brav „ganz klar von diesem Vorfall distanziert“ und außerdem größten Wert auf die Feststellung gelegt, „dass auf die Deutschlandfahne nicht uriniert“, sondern nur so getan wurde, als ob. Trotzdem herrscht hellste Aufregung: Die Parteispitze der Grünen ist empört („unterirdisch“, „absolut nicht hinnehmbar“), die NPD hat erwartungsgemäß Anzeige erstattet, und auf zahlreichen Internetseiten sowie in Diskussionsforen gehen die Deutschlandfans ab wie Schmidts Katze.

Dabei treiben sie es im Grunde genommen doch noch weit ärger als die drei Jugendgrünen: „Schwarz-rot-geile“ Bild-Leserinnen lassen sich von ihren Lebensgefährten Deutschlandfähnchen auf die Brüste malen, „We are the Champions“ daneben schreiben und anschließend fotografieren, bevor sie das Ganze dann mit dem Kommentar „Mit diesen Bällen gewinnen wir die EM bestimmt!“ an die Redaktion des Balkenblatts schicken. Andere werfen sich nun wieder in ihre schwarz-rot-goldenen Volltrottelkostüme und ziehen in die „Fanmeile“, bevor sie sich spätestens auf dem Rückweg sturzbetrunken auf die deutschen Farben übergeben müssen. Im Unterschied zu denen, die den „Pulleralarm bei den Grünen“ (Spiegel Online) ausgelöst haben, müssen sie aber keine Bestrafung wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ befürchten; vielmehr dürfen sie wie schon vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft damit rechnen, für ihren „unverkrampften Umgang mit nationalen Symbolen“ ausdrücklich belobigt zu werden.

Denn Auschwitz, das war gestern. Heute ist Deutschlandparty mit allem Drum und Dran – schließlich ist die Vergangenheit längst erfolgreich „bewältigt“. In Zahlen heißt das: Mehr als die Hälfte von Eichmanns Erben findet, Israel verfahre mit den Palästinensern so wie seinerzeit die Nazis mit den Juden, zwei Drittel sehen im jüdischen Staat „die größte Gefahr für den Weltfrieden“, ebenso viele sind der Meinung, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“, und sogar 82 Prozent wollen das Land im Falle eines Angriffs nicht mit Waffen unterstützen. Warum das (vermeintliche) Pinkeln auf die deutsche Fahne eigentlich schlimmer oder geschmackloser sein soll als das Schwenken derselben, fragt deshalb niemand.

- - - - - - - - - -

Update 9. Juni 2008: Apropos Auschwitz war gestern: „Die österreichische Polizei hat am Sonntagabend in Klagenfurt mehr als 140 Personen am Rande der EM-Partie zwischen Deutschland und Polen festgenommen. Dabei handelt es sich um deutsche Hooligans, wie die österreichische Nachrichtenagentur APA berichtete. Zunächst hatte demnach eine rund 60 Mann starke Gruppe vor dem Spiel Deutschland gegen Polen in den Straßen Sprüche gerufen, die an die Nazi-Zeit erinnerten, beispielsweise ‚Alle Polen müssen einen gelben Stern tragen’. Mit Beginn der Begegnung sei eine zweite Gruppe in Erscheinung getreten. Auch diese habe Sprüche skandiert, die an die NS-Zeit erinnerten, meldete APA weiter. So hieß es etwa: ‚Deutsche wehrt euch. Kauft nicht bei Polen!’ Beide Gruppen seien binnen kürzester Zeit von der Polizei eingekreist worden. Die Festgenommenen sollen wegen Landfriedensbruches angezeigt und des Landes verwiesen werden.“

4.6.08

Abweichler!

Vielleicht hat die derzeitige Korruptionsaffäre um Ehud Olmert auch ihre guten Seiten: Zum einen werden die Israelis durch sie womöglich den von ihnen wenig geschätzten Premierminister los, und zum anderen scheint es in der arabischen Welt teilweise einen gewissen Respekt vor der Offenheit zu geben, mit der die Vorwürfe gegen den Kadima-Politiker sowie die Konsequenzen beleuchtet und debattiert werden. Einem Beitrag der israelischen Tageszeitung Jerusalem Post zufolge haben zahlreiche arabische Medien über die Causa Olmert berichtet und dabei Leserreaktionen ausgelöst, die nicht selten vernehmliche Forderungen nach ähnlicher Transparenz und Diskussionsbereitschaft auch in den eigenen Ländern enthielten. Repräsentativ mögen sie nicht sein, doch angesichts der sonst obligatorischen Hasstiraden gegen den jüdischen Staat lohnt es sich allemal, diese dissidenten Stimmen der Vernunft bekannt zu machen. Sie zeigen, dass die autoritären und zutiefst korrupten arabischen Regimes durchaus keine ungeteilte Zustimmung in ihrer Bevölkerung genießen. Nachfolgend eine Auswahl aus den Zuschriften, auf die Khaled Abu Toameh bei seiner Recherche gestoßen ist:*
„Zeig mir ein arabisches oder islamisches Land, in dem ein Premierminister oder ein Regierungsmitglied jemals wegen Korruption oder Bestechung verhört worden ist.“ (Majed, Nachname und Land unbekannt)

„Bevor wir Israel verfluchen, müssen wir von seinem demokratischen und juristischen System lernen. Dort steht niemand über dem Gesetz.“ (Abdel Karim, Saudi-Arabien)

„Wir hätten diese Art von Rechenschaft und Transparenz gerne auch in der arabischen und islamischen Welt.“ (Mahmoud al-Bakili, Jemen)

„Ich glaube nicht, dass wir jemals den Tag erleben werden, an dem die Polizei einen arabischen Führer wegen sexueller Belästigung seiner Sekretärin oder wegen Bestechung verhört. Und auch unsere Kinder und Enkel werden diesen Tag nicht erleben. Was in Israel geschieht, wird niemals in einem arabischen Land geschehen.“ (Abdel Aziz Mahmoud, Ägypten)

„Es gibt Korruption sowohl in Israel als auch in der arabischen Welt. Der Unterschied ist, dass die Israelis ihre Politiker zur Rechenschaft ziehen, während wir Araber einfach schweigen.“ (Abu Hadi, Irak)

„Es heißt, Olmert habe etwa 3.000 Dollar pro Jahr erhalten. Das zeigt, dass er ein anständiger Mann ist. Diese kleine Summe bekommt jedes arabische Regierungsmitglied täglich als Bestechungsgeld. Unsere Führer stehlen Millionen Dollar, und niemand wagt es, sie zur Rechenschaft zu ziehen.“ (Abu Atab, Marokko)

„Unsere Führer in der arabischen Welt nehmen weniger als eine Million Dollar an Bestechungsgeld gar nicht erst an. Und das Geld muss dann auf einem geheimen Konto in der Schweiz deponiert werden. Olmert ist ein Narr, wenn er bloß so einen geringen Betrag angenommen hat.“ (Ein Leser aus Algerien, Name unbekannt)

„Nur ein paar tausend Dollar? Was für ein Narr! Das ist der Betrag, den ein ägyptischer Minister an einem Tag bekommt, ein saudischer Firmenchef in 45 Minuten, ein kuwaitisches Regierungsmitglied in fünf Minuten und der Arzt eines Emirs in Katar alle 30 Sekunden.“ (Ahmed, Nachname unbekannt, Jordanien)

„Warum beantragen Sie nicht eine arabische Staatsbürgerschaft, Herr Olmert? Hier können Sie so viel Geld annehmen, wie Sie wollen. Und selbst wenn man den Diebstahl entdeckt, wird man Ihnen ein Denkmal auf einem öffentlichen Platz errichten.“ (Jasser Abdel Hamid, Land unbekannt)

„Israel ist ein Staat, der es verdient, zu existieren. Er verdient unseren tiefen Respekt. Ich wünschte, ich wäre ein Bürger dieses Staates.“ („Israel Lover“, Name unbekannt, Saudi-Arabien)

„Das ist echte Demokratie! Schluss mit den Diktaturen in der arabischen Welt! Wir sollten uns ein Beispiel an Israel nehmen und von seiner Demokratie profitieren.“ (Hani, Nachname unbekannt, Ramallah)

„Ich schwöre, Israel ist ein Staat, der weiterhin Erfolg haben wird. Dort verurteilt man den Premierminister wegen einiger zehntausend Dollar. Was ist mit den Millionen, die Mahmud Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde veruntreut haben? Wie kommt es, dass das palästinensische Volk immer noch hungert?“ (Rashid Bohairi, Kuwait)
* Übersetzung: Lizas Welt

1.6.08

Israel – und das ist gut so

Zu den bevorzugten Quellen, auf die sich die „Israelkritiker“ aller Couleur berufen, gehören die Arbeiten der so genannten Neuen Historiker in Israel. Diese „Postzionisten“ haben sich vor allem mit der Geschichte des Zionismus sowie der israelischen Staatsgründung beschäftigt und sind dabei zu der Auffassung gelangt, der „Nahostkonflikt“ gehe nahezu vollständig auf das Konto Israels: Die arabischen Staaten hätten nämlich gar keinen Plan zur Vernichtung des jüdischen Staates gehabt und seien Israel während seiner Gründungsphase auch nicht kräftemäßig überlegen gewesen; die meisten Palästinenser seien im Zuge „ethnischer Säuberungen“ gewaltsam vertrieben worden; der Friedensprozess scheitere nicht an der Unnachgiebigkeit der Araber, sondern regelmäßig an Israel.

Aus der Phalanx dieser linken Geschichtswissenschaftler um Ilan Pappé, Avi Shlaim und Tom Segev scherte vor einigen Jahren Benny Morris aus. „Verändert hat sich meine Haltung, als ich die Studie Righteous Victims über den israelisch-arabischen Konflikt von 1881 bis zum Jahr 2000 schrieb“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift konkret.* „Die ausgiebige Beschäftigung mit der Materie führte mich zu der Einschätzung, dass die palästinensisch-arabische Nationalbewegung keine Koexistenz mit einem souveränen jüdischen Staat will, sondern sie will ganz Palästina für die arabisch-moslemische Welt. Israel mag diplomatische Beziehungen zu einigen arabischen Staaten haben, aber im Kern erkennt keiner von ihnen die Legitimität Israels an.“

Dessen ungeachtet zog unlängst Eric Rouleau – ein französischer Journalist, der unter der Regierung Mitterand Botschafter in Tunesien und der Türkei war – in einem für die taz** übersetzten Beitrag kräftig vom Leder. Folgt man seinen auf die „Postzionisten“ gestützten Ausführungen mit dem Titel „Der Mythos vom kleinen David“, dann handelt es sich bei Israel um nichts weniger als einen beispiellosen Terrorstaat, dessen Historie eine einzige Kriminalgeschichte ist und der deshalb im Nahen Osten seit seiner Gründung 1948 das Friedenshindernis schlechthin darstellt. In einem Gastbeitrag für Lizas Welt nimmt Schlomo Boldes Rouleaus Suada genauer unter die Lupe – und rückt dabei vor allem die historischen und politischen Bezüge zurecht, die von den Neuen Historikern gänzlich vernachlässigt werden.


VON SCHLOMO BOLDES

Wir sollten uns von dem Gedanken verabschieden, dass der Gründungsprozess des Staates Israel ein feinerer, eleganterer gewesen sein könnte als der anderer Staaten – auch wenn kein Staat der Erde 60 Jahre nach seiner Gründung ein solches intellektuelles, technisches, demokratisches und historisches Niveau erreicht hat. Nehmen wir Deutschland zum Vergleich. Wann setzen wir die deutsche Staatswerdung an? Mit Otto dem Großen? Mit Friedrich dem Großen? 1870? Dann müssten wir Israel 2008 mit Deutschland 1930 vergleichen! Oder Frankreich. Seien wir gnädig, erlassen wir den Franzosen den sonnigen Louis und wählen wir das in der Rückschau vergleichsweise vorteilhafte Jahr 1789. Dann hat die Wiege der Aufklärung im Jahre 1849 ihren Sechzigsten gefeiert. Waren die Verhältnisse damals wirklich humaner als im heutigen Israel? In den USA im Jahr 1826? In der Sowjetunion von 1977?

Eigentlich hinkt der Vergleich, denn in Bezug auf Deutschland müssen wir die Phase der territorialen Grundsteinlegung betrachten, also die Zeit, als die Deutschen Orden mit den Polen und anderen slawischen Völkern im Osten aufräumten. Die französische Katholisierung und die englische Entkatholisierung – verliefen sie humaner als die vorgeblichen „ethnischen Säuberungen Palästinas“? Das, was „ethnische Säuberung“ genannt wird, ist ein historischer Prozess, der tragischerweise Bestandteil jeder Nationenbildung war – nur die israelische soll nach Meinung der arischen Mehrheit frei davon bleiben?

David gegen Goliath – ein unzulässiger Mythos? Die israelische Gründungssaga sei historisch falsch, schreibt Rouleau, weil die Israelis in Wahrheit die besseren Waffen als die Araber gehabt hätten. Wenn ich die Geschichte recht erinnere, hatte auch David die bessere Waffe. Er war kleiner, aber besser. David gegen Goliath – die Allegorie passt wie der Stein aufs Auge! Welcher Selbstgerechte erhebt da einen Vorwurf?

Natürlich hat Ben Gurion aus taktischen Erwägungen heraus 1947 dem UN-Teilungsplan zugestimmt. Natürlich war der Plan für ihn „unannehmbar“. Natürlich ist Israel auch heute noch zu klein, wenn man das Staatsgebiet mit der Fläche der arabischen Staaten vergleicht und ins Verhältnis zur Zahl der Juden einerseits und der Araber andererseits setzt. Aber den politisch dämlichen Fehler, den Teilungsplan abzulehnen, hat die arabische Seite begangen. Soll Israel sich politische Klugheit und taktische Raffinesse vorwerfen lassen? Sind die Israelis schuld an der Blödheit der arabischen Führer?

Was soll da bewiesen werden? Dass Deutschland heute noch viel größer wäre, wenn es weder Hitler noch Wilhelm II. gegeben hätte? Genau so ist es! Und es gäbe auch längst ein Palästina, wenn die arabische Seite das nicht verhindert hätte. Vielleicht hätten die palästinensischen Staatsbürger schon 1949 um die Annexion durch Jordanien gebettelt. Menschlich nachvollziehbar und politisch durchführbar wäre das gewesen.

Oder anders: Sollen wir Juden dankbar sein, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen wurde, da man uns ansonsten bis heute die grausame Tötung zahlloser SS-Männer hätte vorwerfen können?

Und was, bitte, ist eine „autochthone Bevölkerung“? Die einstigen Volksdeutschen an der Wolga oder in Siebenbürgen, im Sudetenland und im Elsass, die „heim ins Reich“ geführt wurden? Die türkischen Deutschen in Berlin-Kreuzberg sind heute längst „autochthon“ – ebenso wie die jüdischen Bewohner Jaffas.

Was beweisen zudem die Tagebücher Ben Gurions, so lange man sie nicht mit denen von Wilhelm II., Robespierre oder Napoleon, von Heinrich VIII. oder Lenin, von Fürst Metternich oder Josef Pilsudski vergleicht? Nichts – außer, dass Politik in Zeiten der Revolution und des Krieges ein hartes Geschäft ist.

Der Vorschlag, „die Palästinenser zu deportieren“, hört sich in deutschen Ohren sofort nach Eichmann und Endlösung an. So hätte es Julius Streicher dargestellt. Dahinter steckt aber, historisch betrachtet, nichts anderes als das, was die jüdische Bevölkerung der gesamten arabischen Welt – von Marokko bis zum Irak – nach 1948 erlebte und Europa seit dem Ende des Römischen Reiches bis 1945. David Ben Gurion (Foto, Mitte) wird von Monsieur Eric Rouleau korrekt zitiert: „Diese Maßnahme hat nichts Unmoralisches!“

Der von Rouleau verehrte Ilan Pappé stellt darüber hinaus richtig fest, dass diese Maßnahme – wenn man Pappé eins zu eins übernimmt, wozu Rouleau neigt, ohne es zu begründen – in einer Reihe mit den Maßnahmen (fast) aller anderen Völker steht. Jetzt aber ist diese Zeit Geschichte geworden – „Narrativ“ der einen wie der anderen Seite wird so etwas heute gerne genannt. Damit sind die Geschichten gemeint, die sich die Enkel und Urenkel der vertriebenen arabischen Einwohner Jaffas ebenso wie deutsche Touristen erzählen – die Letztgenannten, wenn sie Verdun oder die Strände der Normandie besuchen, wenn sie in Danzig und Stettin auf Spurensuche gehen.

Die vertriebenen Palästinenser leben heute im Libanon und in Syrien oder in der Westbank, so wie die Schlesier und Ostpreußen in Bayern und Niedersachsen leben. Für die Integration haben diejenigen zu sorgen, die diese Menschen in Verantwortung für die Folgen ihres kriegerischen Handelns aufgenommen haben. Wenn sie das zu teuer kommt, mögen sie sich bei ihren einstigen Führern und deren historischer Weitsicht (siehe oben) bedanken. In Friedland gibt es kein Schlesier-Lager mit Menschen, die darauf warten, endlich wieder nach Breslau ziehen zu dürfen. Und es gibt heute auch keinen Versuch einer deutschen Bundesregierung mehr, aus einem solchen Umstand Forderungen an Polen abzuleiten.

Erinnert sich noch jemand an das in den achtziger Jahren legendäre Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ des Uruguayers Eduardo Galeano? Was sind die Argentinier, Chilenen und Brasilianer anderes als die Erben der „ethnischen Säuberungen“ von Spaniern und Portugiesen? Wohin konnten die Inkas und Mayas fliehen? Argentinien sollte sich um sein Existenzrecht Sorgen machen!

Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt nicht „verwunderlich“, wie Rouleau meint, dass die internationale Gemeinschaft die „Gräueltaten“ Israels nicht verurteilt hat. Denn beim Anblick der Ereignisse 1948 ff. hat sie in den Spiegel gesehen. Nicht nur Deutschland mit seinem Menschheitsverbrechen, auch Großbritannien, Frankreich, die USA. Diese zivilisierte Welt ließ danach in Indien, Algerien und Vietnam noch einiges folgen, was die Pläne von zionistischen Hardlinern wie Zeev Jabotinsky als Fantasien eines Schwächlings erscheinen lässt.

Man mag es Unrecht nennen, was der arabischen Bevölkerung Palästinas in Teilen widerfahren ist, wie den Indianern Nord- und Südamerikas im 18. und 19. Jahrhundert, den Slawen im Osten des Heiligen Römischen Reiches oder den Iren vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – ja, man kann sogar den Normannen bei der Einnahme der keltischen Insel 1066 ihr Unrecht vor Augen halten. Steht deshalb das Existenzrecht Großbritanniens in Frage? Muss die Krone endlich dieses Unrecht anerkennen, „um ein normaler Staat zu werden“? Oder das Nato-Mitglied Türkei die Massaker an den Armeniern öffentlich bedauern, bevor man den Türken die territoriale Integrität zugesteht?

Die Welt, auch die jüdische, muss aufhören, die Staatswerdung Israels als etwas Heiligeres zu betrachten, als es die Herausbildung anderer Nationalstaaten war. Umgekehrt kann niemand, der bei Verstand ist, auch nur den geringsten Zweifel haben, dass die Zeitspanne, in der der immer noch sehr junge jüdische Staat in einem wahrhaftigen Friedenszustand mit allen seinen Nachbarn leben und gedeihen wird, um Jahrhunderte kürzer sein wird, als sie es etwa im Falle Deutschland/Frankreich oder Irland/Großbritannien war.

Wo also, bitte, ist das Problem?

* „Wenn sie die Bombe kriegen, werden sie Israel zerstören“. Interview mit Benny Morris und Nasrin Amirsedghi, in: konkret 6/2008, S. 28f. (nur Printausgabe)
** Der Originalbeitrag erschien in Le Monde diplomatique