29.6.10

Befördert sie!



Die Fußballschiedsrichter haben in den letzten knapp zwanzig Jahren einen bemerkenswerten Imagewandel erfahren. Noch in den achtziger Jahren galten sie nicht wenigen als „schwarze Säue“, als ganz eigene, seltsame Spezies, als verschrobene Randfiguren der populärsten Sportart der Welt. Man hielt sie für Menschen von schrulligem Charakter und duldete sie widerwillig als notwendiges Übel – wovon hierzulande nicht zuletzt jenes rechteckige Schild zeugte, das mehr oder weniger gut sichtbar an jedem Sportplatz zu finden war (und teilweise immer noch ist) und mit den Worten „Sei fair zum 23. Mann – ohne Schiedsrichter geht es nicht“ Kicker wie Zuschauer zur Besonnenheit mahnte. Im Profifußball waren die Unparteiischen die letzten Amateure; sie gingen einem ordentlichen Beruf nach, opferten für Einsätze in der Bundesliga ihren Jahresurlaub und bekamen für einen Auftritt im Oberhaus einen Tagesspesensatz von exakt 72 (in Worten: zweiundsiebzig) Mark. In den unteren Spielklassen wiederum waren sie oft das, was Elke Wittich, die Sportchefin der Wochenzeitung Jungle World, einmal überaus treffend mit dem Begriff „Wochenendkommandierer“ umschrieben hat: autoritäre Charaktere, die es genossen, dass es auf dem Fußballfeld keine Gewaltenteilung gibt und sie wenigstens dort die unumschränkten Herrscher sein konnten – Polizisten, Staatsanwälte und, logisch, Richter in Personalunion.

Der allmähliche Wandel der Schiris, der bis in die Untiefen der Amateurligen reichte, ging mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballs einher. Ihre Trikots waren nun grün, rot, gelb oder blau; die einheitliche schwarze Uniform – zu der neben einem schlecht geschnittenen Oberteil eine unbequeme Hose gehörte, für die sich selbst modeabstinente Rentner geschämt hätten – gehörte der Vergangenheit an. Die Bundesliga wanderte von der Sportschau ins Privatfernsehen, und die Zahl der Kameras verzigfachte sich – wodurch nicht nur die so genannten side kicks, also tobende Trainer und verzweifelte Vereinspräsidenten, eine immer größere Rolle in der Berichterstattung spielten, sondern auch die Entscheidungen der Referees immer stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten: War das wirklich ein Foul? Ein Abseits? Ein Tor? Und was hat den Schiedsrichter eigentlich geritten, auf Foul, Abseits, Tor zu entscheiden, obwohl doch nun wirklich jeder nach sieben Zeitlupen und drei Standbildern erkennen konnte, dass es kein Foul, kein Abseits, kein Tor war? Mit der Zeit erfuhr man auch dies, denn der erzkonservative Deutsche Fußball-Bund (DFB) – der jahrzehntelang seine Pfeifenmännern abgeschottet hatte – änderte nach einigem Zögern seine Linie: Die Unparteiischen waren fortan keine unfehlbaren Halbgötter mehr, sondern traten in die Öffentlichkeit und legten Rechenschaft ab.

Und sie wurden jetzt besser vergütet. Längst nicht so fürstlich wie die Profis zwar, aber immerhin: 3.800 Euro gibt es heute für ein Bundesligaspiel, 2.000 Euro für einen Einsatz in der Zweiten Liga. Wer in den oberen Spielklassen pfeifen will, muss dem DFB jederzeit zur Verfügung stehen; längst schon amtieren deshalb im bezahlten deutschen Fußball keine Lehrer oder Elektrotechniker mehr als Referees, sondern vor allem Selbstständige und leitende Angestellte. Auch die Anforderungen an die körperliche Fitness, das äußere Erscheinungsbild und die Persönlichkeit der Spielleiter sind gestiegen (und das bis hinunter zur Bezirksliga): Vorbei ist die Zeit, da erkennbar übergewichtige Herren mit unvorteilhafter Frisur und schlechten Manieren in den Stadien den großen Zampano geben durften. Der Schiedsrichter von heute ist rank und schlank, trägt einen mondänen Kurzhaarschnitt und ist sowohl auf dem Rasenviereck als auch vor dem Mikrofon eloquent und telegen. Namen wie Pierluigi Collina oder Markus Merk kennen nicht mehr nur die Experten, und der europäische Fußballverband Uefa hat kürzlich mit dem sehenswerten Film Referees at work dafür gesorgt, dass ein interessiertes Publikum intime Einblicke in die Welt der Unparteiischen bekommt.

Umso unbegreiflicher ist es, dass der große Bruder der Uefa, der Weltfußballverband Fifa nämlich, die Schiedsrichter bei Weltmeisterschaften förmlich kaserniert. Zu ihren (Fehl-) Entscheidungen dürfen sie nichts sagen, weil die Offiziellen befürchten, die Referees könnten sich um Kopf und Kragen reden. Dabei heizt die Schweigepflicht die Debatte erst recht an, ohne dass die Unparteiischen sie beeinflussen könnten. Außerdem ist es nachgerade grotesk, dass die Fifa die von ihr ausgewählten Schiris zwar für fähig hält, die Spiele des bedeutendsten Fußballturniers der Welt zu leiten, ihnen aber offenbar nicht zutraut, abseits des Spielfeldes genauso professionell aufzutreten. Wie zutiefst bedauerlich das ist, macht nicht zuletzt jene Spielszene deutlich, die nicht nur in England für Entsetzen sorgte: Warum nur erkannte das Schiedsrichtergespann nicht, dass der Ball nach Frank Lampards Lattentreffer unzweifelhaft hinter der Torlinie aufkam? Hätte der Unparteiische oder sein Assistent öffentlich Auskunft erteilen dürfen, dann hätte man vermutlich etwas erfahren, das nicht jedem Zuschauer klar sein dürfte: Beim Torschuss stand der Assistent dort, wo er stehen musste, nämlich auf der Höhe des – den Torwart mitgerechnet – vorletzten englischen Verteidigers. Und von dieser Position aus – die er einzunehmen hatte, um eine mögliche Abseitsstellung sehen zu können – war es für ihn naturgemäß nicht zu erkennen, ob der Ball nun eindeutig (!) die Torlinie überschritten hatte oder nicht. Für den ebenfalls korrekt postierten und daher noch weiter entfernten Schiedsrichter gilt das erst recht.

Ein Fehler im System also? Wenn man so will: ja. Schließlich kann kein Mensch so schnell laufen, wie der Ball fliegt; es war dem Mann an der Linie deshalb schlichtweg unmöglich, rechtzeitig einen Ort zu erreichen, von dem aus er die Situation exakt hätte beurteilen können. „Auf Verdacht“ jedoch durfte er nicht entscheiden, darum galt für ihn die Maxime: Im Zweifelsfall war der Ball eben nicht drin. Hier nun setzen die Diskussionen ein: Braucht es Torrichter wie in der Europa League? Einen Chip im Ball? Den Videobeweis? Alle diese Vorschläge haben sicher etwas für sich; das Hauptargument, das dabei immer wieder genannt wird, lautet: In diesem Milliardengeschäft darf es nicht sein, dass Fehler der Schiedsrichter über den Verlauf oder gar das Ergebnis eines Spieles entscheiden. Doch die Gegenseite verfügt über nicht minder gewichtige Einwände: Ist der Fußball nicht gerade deshalb so beliebt, weil seine im Laufe der Jahre nur maßvoll modifizierten Regeln weltweit unterschiedslos gelten – in der Kreisklasse wie in der Bundesliga, im Nahen Osten und in Afrika wie in Europa und Südamerika – und durchweg ohne technische Hilfsmittel umgesetzt werden? Ist ein spielbeeinflussender oder -entscheidender Fehler des Referees tatsächlich schlimmer als ein zur Unzeit verschossener Elfmeter? Lassen Videobilder überhaupt immer eindeutige Rückschlüsse zu? Würde ihr Einsatz nicht schnell ins Uferlose gehen oder gar die Autorität der Schiedsrichter untergraben? Wären sie nicht der Tod von leidenschaftlichen Fußballmythen wie dem „Wembley-Tor“ oder der „Hand Gottes“? Und wem sonst sollte man mitteilen, dass man weiß, wo sein Auto steht, wenn nicht dem Blinden mit der Pfeife?

Einen augenscheinlich besonders einfallsreich gemeinten Vorschlag, wie Lampards Tor die verdiente Anerkennung hätte erfahren können, hat übrigens Peter Singer in der Welt unterbreitet. Der deutsche Torwart Manuel Neuer, so fand der „Moralphilosoph“, hätte dem Unparteiischen mitteilen sollen, dass der Ball die Torlinie überschritten hatte; indem er es nicht tat, habe er „betrogen“, wie vor ihm schon beispielsweise Thierry Henry und Diego Maradona. Einmal abgesehen von der generellen Fragwürdigkeit solcher Lamenti über die angebliche Verderbtheit des Fußballgeschäfts (die letztlich immer mit einem Gerechtigkeitsbegriff hantieren, der von Interessen abstrahiert und den Wunsch nach persönlichem Fortkommen deshalb unter den Verdacht stellt, ein Verrat am ominösen „Gemeinwohl“ zu sein): Hier schwingt sich einer zum Ankläger auf, der vermutlich nie selbst gegen den Ball getreten hat und dem gewisse fußballtypische Abläufe daher unbekannt sind. Ein im Flug befindlicher Torwart wird jedenfalls kaum in der Lage sein zu beurteilen, ob ein von der Latte herabtropfender und danach aufspringender Ball für Sekundenbruchteile die Torlinie passiert hat oder nicht – und das ist auch gar nicht sein Job. Einem Spieler, der vom Referee unbemerkt ein absichtliches Handspiel begeht, könnte man seine Regelübertretung ja noch empört vorhalten – aber von Kickern, die für einen Fehler des Unparteiischen rein gar nichts können, zu erwarten, dass sie Mutter Theresa in kurzen Hosen spielen, ist nicht nur moralinsauer, sondern weltfremd.

Die derzeit laufende Weltmeisterschaft wird gewiss nicht als diejenige mit den besten Schiedsrichterleistungen aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Aber die Aufregung um die Larriondas, Rosettis und Undianos dürfte sich nach dem Turnier rasch wieder legen. Und weitaus wichtiger als die Einführung technischer Hilfsmittel – die dem Spektakel viel von seiner Leidenschaftlichkeit nähme und trotzdem nur in begrenztem Maße für eine Reduzierung menschlicher (!) Fehler sorgen könnte – wäre es ohnehin, die Referees erstens von ihrem völlig unzeitgemäßen Maulkorb zu befreien und sie zweitens zu Vollprofis zu befördern, sprich: sie dauerhaft so gut zu bezahlen, dass sie weder auf einen anderen Job noch auf dubiose Wetteinsätze angewiesen sind. Dann würden sie zwar immer noch Fehler machen, mitunter sogar spielentscheidende. Aber auch ein Messi trifft bisweilen vom Strand aus das Meer nicht und treibt seine Fans in den Wahnsinn. Das ist nun mal Fußball. Und das ist auch gut so.

Eine Gegenrede zu diesem Beitrag ist unter dem Titel „Entmachtet sie!“ auf dem Internetportal Sportswire erschienen; eine mit „Dialektik des Fortschritts“ überschriebene Replik von Lizas Welt auf diesen Widerspruch ist ebenfalls dort zu finden.