26.4.10

Rosen für den Staatsanwalt



Im Februar dieses Jahres hat Gerd Buurmann, der künstlerische Leiter des Kölner Severins-Burgtheaters, gegen Walter Herrmann, den Betreiber der im Schatten des Kölner Doms aufgestellten „Klagemauer“, Strafanzeige wegen Volksverhetzung gestellt. Antisemitismus sei „immer ein Notfall“, begründete Buurmann damals seinen Entschluss, die Polizei zu rufen, als er in Herrmanns 20 Quadratmeter großer, israelfeindlicher Dauerausstellung eine besonders degoutante judenfeindliche Karikatur entdeckte (Foto oben). Der Schritt des überregional bekannten Theaterleiters fand einige mediale Aufmerksamkeit; vor allem der lokale Kölner Stadt-Anzeiger nahm sich der Causa mit einer Reihe von Berichten und Kommentaren an, aber auch in die Welt und in die Jerusalem Post fand sie Eingang. Buurmann selbst trat mit den Kölner Ratsfraktionen in Kontakt – und bekam ein überwiegend positives Echo auf die Anzeige, wie er auf seinem Weblog Tapfer im Nirgendwo in mehreren Beiträgen ausgeführt hat. Zuvor hatten die Kölner inklusive ihrer politischen Repräsentanten Herrmanns Werk – jene „antisemitisch-antizionistische Installation, mit der Israel als blutsaugendes und mordendes Monster dämonisiert wird“ (Henryk M. Broder) – jahrelang wahlweise ignoriert, geduldet oder sogar ausdrücklich begrüßt. Dank Buurmanns Initiative schien sich das Blatt nun langsam zu wenden, weshalb Herrmann die antiisraelischen Exponate vorsichtshalber schon mal abbaute – nicht ohne anzukündigen, im Juni wieder mit ihnen an den Start gehen zu wollen – und den kleinen verbleibenden Rest schließlich etwas abseits des Doms platzierte.

Doch die Kölner Staatsanwaltschaft deutete bereits frühzeitig an, die Strafanzeige zurückzuweisen, und nun hat sie Gerd Buurmann die Gründe dafür auch schriftlich dargelegt. Bevor es aber um diese Argumentation gehen soll, sind ein paar fragmentarische Ausführungen zur Geschichte und Gegenwart des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuches, der „Volksverhetzung“ unter Strafe stellt, womöglich ganz hilfreich. Es gab eine Verordnung unter derselben Ziffer bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik; mit ihr wurde vor allem die „Anreizung zum Klassenkampf“ strafrechtlich verfolgt – sie richtete sich also explizit gegen die politische Linke. In der Bundesrepublik wurde der §130 StGB schließlich vor rund 50 Jahren novelliert; die seinerzeit verabschiedete Version ist in weiten Teilen noch heute gültig. Unmittelbarer Anlass für diese Gesetzesänderung war eine Serie von antisemitischen Straftaten – Brandanschläge auf Synagogen, Körperverletzungen und NS-Verherrlichungen eingeschlossen – in den Jahren davor. In der Neufassung des Paragrafen wurde allerdings die ursprünglich vorgeschlagene Formulierung „Aufstachelung zum Rassenhass“ fallen gelassen und durch den deutlich allgemeiner gehaltenen Terminus „Angriff auf die Menschenwürde anderer“ ersetzt. Im Oktober 1994 kam die Holocaustleugnung als expliziter Straftatbestand hinzu; zuvor war sie rechtlich nur als Beleidigung zu greifen. Vor fünf Jahren fanden schließlich auch die Billigung, Leugnung und Verharmlosung des Nationalsozialismus ihren Eingang in die Bestimmung.

Man kann über die Notwendigkeit dieser Vorschrift trefflich streiten, zum Beispiel mit liberalen Amerikanern, die es schlicht für überflüssig bis schädlich halten, eine politische Gesinnung zu kriminalisieren – wie auch immer sie aussehen mag –, und die es letztlich mit einem Diktum halten, das gemeinhin Voltaire zugeschrieben wird: „Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, dass Sie Ihre Meinung frei äußern können.“ Es gibt beste Gründe für diese Sichtweise, die den mündigen Bürger als selbstverständlich voraussetzt – und damit einen maßgeblichen Unterschied zum deutschen Herangehen offenbart, demzufolge es staatlicher Eingriffe in das Recht auf freie Rede unbedingt bedarf. Es sei dies eine Konsequenz aus dem Nationalsozialismus, wird zur Begründung angeführt, denn der habe sich auch deshalb so problemlos durchsetzen können, weil der Rechtsstaat ihm nicht beizeiten mit juristischen Mitteln beigekommen sei. So wird eine gesellschaftliche Angelegenheit faktisch an die Jurisprudenz delegiert, um nicht zu sagen: abgeschoben. Diese möge den Mob ein bisschen im Zaum halten, ihm Einhalt gebieten, wenn er gar zu sehr zu sich selbst kommt. Vielleicht ist es irgendwo aber auch eine realistische Sicht der Dinge, dass die Deutschen mehrheitlich Staatsfetischisten und darum nur durch offizielle Tabus – inklusive einer Sanktionierung bei Verstößen – zu zivilisieren sind.

Gleichwie: Die Kölner Staatsanwaltschaft mochte in der von Buurmann beanstandeten Karikatur keine Volksverhetzung erkennen. In ihrer Begründung finden sich mehrere Argumentationsstränge: 1. Das Bild sei nicht antisemitisch, sondern drücke lediglich eine scharfe Kritik an der „israelischen Militärpolitik und deren Unterstützung durch die US-amerikanische Regierung“ aus. 2. Es greife demnach keineswegs alle Juden an, sondern bloß andere Staaten respektive deren Angehörige, die jedoch nicht durch den §130 StGB geschützt würden. 3. Der öffentliche Frieden in der Bundesrepublik sei durch die Karikatur nicht – wie es für eine Verurteilung wegen Volksverhetzung erforderlich wäre – in Gefahr, denn das Plakat trage nicht dazu bei, „die Stimmungslage in breiten Teilen der Bevölkerung gegenüber jüdischen Bürgern zu verschlechtern“. Bemerkenswert an dieser Beweisführung sind insbesondere die Ausführungen zur Frage, inwieweit das Bild judenfeindliche Stereotypen bedient: Die Staatsanwaltschaft konzediert zwar zunächst, es könne „Erinnerungen an die antijüdischen Ritualmordlegenden aus dem Mittelalter und an hetzerische Bilddarstellungen von Juden [...] aus der Zeit des Nationalsozialismus wachrufen“ – um dann jedoch eine Kehrtwende zu vollziehen: „Typisch für antijüdische Bilddarstellungen zu allen Zeiten ist die Verwendung von bestimmten anatomischen Stereotypen, die den Juden schlechthin charakterisieren sollen. Dabei werden insbesondere Gesichtsmerkmale überzeichnet, um den Juden als hässlich, unansehnlich und rassisch minderwertig erscheinen zu lassen (jüdische ‚Krummnase’ etc.) Einer solchen Bildsprache wird sich vorliegend nicht bedient.“

Mit anderen Worten: Ohne Hakennase kein Antisemitismus – so einfach ist das. Zwar ahnt der Staatsanwalt wohl, was den (palästinensischen) Zeichner und damit auch Walter Herrmann getrieben hat. Aber diese Ahnung verwirft er sogleich wieder, um schließlich eine Ausdrucksform des Judenhasses zum zentralen Kriterium zu machen, dessen Nichterfüllung automatisch zu einem vollumfänglichen Freispruch führt. Der auf dem Latz des Torsos abgebildete Davidstern (der „zuvorderst das Symbol des jüdischen Volkes“ ist, wie Emmanuel Nahshon, der Gesandte des Staates Israel in Deutschland, im Kölner Stadt-Anzeiger schrieb), das mit Blut gefüllte Glas, das Zerstückeln des Kindes mit dem Ziel, es zu verspeisen – all das ist für die Kölner Staatsanwaltschaft nicht etwa Ausdruck eines abgrundtiefen Judenhasses, sondern symbolisiert vielmehr „die Schwäche und Wehrlosigkeit der Palästinenser im Gaza-Streifen“, die „mit ‚Rückendeckung’, Billigung o.ä. der US-Amerikaner von Israel auf grausame Art ‚zerfleischt’ werden“. So sehe es auch der „verständige Durchschnittsbürger“, glaubt die Staatsanwaltschaft – und hat damit zweifelsohne Recht. Denn die „Israelkritik“ (vulgo: der Antizionismus) als zeitgemäße Form des Antisemitismus ist längst im Mainstream angekommen. Und nichts könnte das besser belegen als diese Stellungnahme eines verständigen Durchschnittsstaatsanwalts, für den Hetze gegen Juden allenfalls dann gegeben ist, wenn man den Hassobjekten einen Riesenzinken ins Gesicht pinselt. So viel zum Thema „Vergangenheitsbewältigung“.

Bliebe noch die Sache mit dem „öffentlichen Frieden“. Der werde gestört, befand die Staatsanwaltschaft in der Domstadt, „wenn eine allgemeine Unruhe in der Bevölkerung innerhalb der Bundesrepublik, mindestens aber unter einer beträchtlichen Personenzahl eintritt bzw. zu befürchten ist“. Für die Annahme, „die Plakataktion eines notorischen, auch in anderen Belangen zum Fanatismus neigenden ‚Weltverbesserers’ könne das Vertrauen der Juden in die Rechtssicherheit erschüttern“ oder „das psychische Klima in der Bevölkerung gegenüber jüdischen Mitbürgern nachhaltig beeinträchtigen“, gebe es jedoch „keine Anhaltspunkte“. Gerne wüsste man, ab wann solche „Anhaltspunkte“ denn gegeben wären: Wenn die jüdischen Gemeinden ihren Mitgliedern empfählen, die Koffer zu packen und auszuwandern? Oder wenn es zu Boykottaktionen und Pogromen käme? Dass hierzulande im vergangenen Jahr die größten antisemitischen Aufmärsche seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattfanden, scheint jedenfalls nicht zu genügen. Auch nicht, dass die deutschen Repressionsorgane in Duisburg, Mainz und Düsseldorf sowie in Bochum, in Berlin und in Kassel jeweils mit aller Staatsgewalt gegen das Zeigen von Israelfahnen vorgingen, weil sich – um es in der Terminologie des Kölner Staatsanwalts zu formulieren – zum Fanatismus neigende Weltverbesserer (also „Israelkritiker“) in ihrem psychischen Klima nachhaltig beeinträchtigt fühlten (oder, Schockschwerenot, beeinträchtigt hätten fühlen können).

Das heißt: Während in Deutschland die Solidarität mit Israel immer wieder einmal die Polizei auf den Plan ruft oder gar von Gerichten mit einer Geldstrafe geahndet wird, haben selbst unzweideutig antisemitische Attacken auf Juden im Allgemeinen und auf den jüdischen Staat im Besonderen freie Entfaltungsmöglichkeiten, wenn sie sich nur als „legitime Israelkritik“ ausgeben. Das müssen sie sein, die Lehren aus der Geschichte.

Foto: © Gerd Buurmann