16.4.06

Der Osterhase in der Kochstraße

Mahmud Ahmadinedjad leugnet neuerlich die Shoa und deliriert stattdessen von einem „Holocaust an den Palästinensern“. Deutsche Friedenseier, garantiert aus Freilandhaltung, marschieren durch die Ostertage, klagen „konstruktive Verhandlungsangebote“ und „Nichtangriffsgarantien“ für den Irren von Teheran ein, warnen vor einer Dämonisierung“ des islamistischen Regimechefs und beschuldigen im Gegenzug die USA, den Weltfrieden zu gefährden. Und was macht die taz? Lässt just jetzt den Uri Avnery (Foto) fordern: „Kritik an Israel darf kein Tabu sein“:
„‚Wer Jude ist, bestimme ich!’, sagte der antisemitische Bürgermeister Wiens, Karl Lueger, vor hundert Jahren. Jetzt hat sich der Spieß umgedreht: ‚Wer Antisemit ist, bestimmen wir.’ Es ist für die Regierung Israels sehr bequem, jede Kritik an ihrer Politik im Ausland als antisemitisch zu stigmatisieren – auch wenn die Kritiker dasselbe sagen wie viele Israelis.“
Ein hübsches Osterei, nicht? Brüder im Geiste sind sie, die Antisemiten und deren Opfer, in dieser Sichtweise; nein, mehr noch: Diejenigen, die den dramatischen Anstieg des Antisemitismus kritisieren und seine Apologeten benennen, sind die eigentlichen Antisemiten. Auf eine solch verquere Logik muss man erst mal kommen. Aber der Gush Shalom-Aktivist bemüht sich um Erhellung seiner Motive:
„Natürlich gibt es überall in Europa Antisemiten. Natürlich ist ihr Gedankengut ekelhaft. Natürlich versuchen sie, die Entrüstung über die israelische Politik auszunutzen. Ist das ein Grund, jegliche Kritik an Israel zu tabuisieren? Wir Israelis wollen ein Volk wie alle Völker sein, ein Staat wie alle Staaten, und Israel muss mit denselben moralischen Maßstäben wie jeder andere Staat gemessen werden.“
Was aber, wenn ein erklecklicher Teil der Weltbevölkerung mit ganz anderem Maß misst? Was, wenn das vermeintliche Tabu gar keines ist, sondern vielmehr täglich neu erfunden wird, um es lustvoll brechen zu können? Und was, wenn der „natürliche“ Antisemitismus die „Kritik an Israel“, um es vorsichtig zu formulieren, erdrückend dominiert? Avnerys Prämisse ist jedoch eine grundsätzliche Undenkbarkeit dieser Sachverhalte, weshalb er ganz andere Fragen in den Mittelpunkt stellt – einem Publikum gegenüber zudem, das die Antworten kaum erwarten kann:
„Dürfen Deutsche Israel kritisieren? Um Himmels willen, warum denn nicht? Das Schreckliche, was Deutsche den Juden vor 60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun. Daraus den Schluss zu ziehen, Deutsche müssten schweigen, wenn sie glauben, dass wir Unrecht begehen, ist unmoralisch. Das Vermächtnis des Holocaust sollte sein, dass gerade Deutsche mehr als andere gegen Unrecht auftreten, ganz egal, wo es passiert.“
Und genau dieses Vermächtnis verwalten sie dann ja auch: 68,3 Prozent glauben zu wissen, dass Israel einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ führt, genauso viele „ärgern sich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“, 51,2 Prozent sind der Ansicht, dass das, „was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“, und 44,4 Prozent können „bei der Politik, die Israel macht, gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“. 65 Prozent halten Israel außerdem für „die größte Gefahr für den Weltfrieden“. Aber das „Schreckliche, was Deutsche den Juden vor 60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun“. Natürlich nicht.

Was der Friedensopa dann in der Alternativpresse routiniert abspult, hat er schon vorher unzählige Male verlautbart: Man müsse Israel kritisieren, es komme dabei halt auf den „Standpunkt“ an; „Kritik an Israel“ habe nichts mit Antisemitismus zu tun; der Holocaust dürfe nicht „für politische Zwecke instrumentalisiert“ werden; beide „Völker“ bräuchten Frieden; es geben eine „Eskalation“ sowie „Gräueltaten“ auf „beiden Seiten“ etc. pp. – und außerdem möge man doch hierzulande bitte nicht vor der vermeintlichen political correctness in die Knie gehen:
„Eigentlich hätte doch jede deutsche Partei die Möglichkeit, die wirkliche Situation in Israel und Palästina zur Kenntnis zu nehmen. Sie haben jedoch alle Angst davor, als antisemitisch bezeichnet zu werden.“
Wer das denn sein soll, der da die allgegenwärtige Antisemitismuskeule schwingt und die Mehrheit an ihrer freien Rede hindert, verrät Uri Avnery nicht. Aber er kann sich sicher sein, dass seine Leser ihn schon verstehen. Es ist das Raunen über die Allmächtigkeit der Juden, das sich hier Bahn bricht, auch wenn es von einem Juden kommt. Antisemitismus ist ja kein genetischer Defekt, auch wenn das der alte Kämpfer etwas anders sieht:
„Wirkliche Antisemiten sind leicht zu erkennen. Sie haben einen Stil, der unverkennbar ist. Es ist eine Art kollektiver Geisteskrankheit, die mit Logik nichts zu tun hat.“
„Leicht zu erkennen“ und „unverkennbar“ ist sie, diese „Geisteskrankheit“ – damit ist das Problem seiner gesellschaftlichen Abkunft entkleidet und auf einige wenige leider Unheilbare beschränkt, deren gemeinsames Merkmal es ist, von einem Bazillus infiziert worden zu sein, der offenbar in einer Art Vakuum entstanden ist und gegen den es bedauerlicherweise kein Mittel gibt. Aber bestimmte Weltgegenden scheinen, immerhin, immun gegen eine Ansteckung zu sein oder allenfalls hypochondrische Symptome zu zeigen:
„Der palästinensische Intellektuelle Edward W. Said hat einmal gesagt, ein Araber könne sich nicht mit Israel auseinandersetzen, wenn er den Holocaust nicht versteht. Araber haben allerdings ein verständliches Problem damit, denn der Holocaust wird in der israelischen Propaganda gegen die Palästinenser verwendet. Das führt natürlich leicht zur arabischen Gegenreaktion, den Holocaust zu verharmlosen oder zu leugnen.“
Wenn etwa der iranische Staatspräsident die Shoa in Abrede stellt, ist das demnach eine „natürlich leichte“ und also allemal verständliche „Gegenreaktion“ auf die „israelische Propaganda“, die die Shoa „gegen die Palästinenser“ verwendet. Womit nicht nur klar ist, wer angefangen hat, sondern auch, dass ein im Wortsinne Wahnsinniger wie Ahmadinedjad bloß zu seinen Statements und Maßnahmen provoziert worden ist und definitiv keine eigenen, originären Interessen verfolgen kann. Da nützt es auch nicht mehr viel, dass Avnery in aller Kürze und mit ziemlichem Unwillen etwas konzediert, ohne es jedoch in eine angemessene Nähe zum Antisemitismus zu rücken:
„Israel aber beispielsweise vorzuwerfen, es wende Nazimethoden an, ist absurd. Der Holocaust war geschichtlich etwas Spezifisches, ihm fielen 6 Millionen Menschen zum Opfer.“
Viel mehr kommt zu diesem Thema nicht, und man merkt dem Verfasser an, dass er hier eine eher lästige Pflichtübung absolviert, die zudem in erster Linie dazu dient, dem taktischen „Ja“ rasch ein überzeugtes „Aber“ folgen zu lassen, das ungleich mehr Gewichtung erfährt, zumal Uri Avnery sich stets bemüht, die palästinensische Sache von ihren vermeintlich bloß falschen, aber irgendwo zu vernachlässigenden Freunden zu befreien, weshalb auch eine an sich richtige Einschätzung letztlich zu einer besonders befremdlichen Form der Politikberatung führt:
„Wenn ein Araber glaubt, die Antisemiten seien seine Freunde, dann irrt er sich gewaltig. Das Wort ‚Antisemitismus’ ist nur wenige Jahre vor dem Wort ‚Zionismus’ geprägt worden. Der Zionismus war eine klare Reaktion auf den modernen europäischen Antisemitismus, und die russischen Pogrome haben die ersten Siedler nach Palästina getrieben. Der Holocaust hat die Errichtung des Staates Israel schließlich beschleunigt und vielleicht erst möglich gemacht.“
Nicht nur vielleicht, aber darum geht es auch gar nicht:
„Der Antisemitismus ist der Feind der Juden. Er ist aber auch ein Feind der Araber.“
Die faktische Klimax in den Schlussätzen des taz-Beitrags ist beabsichtigt. Sie widerspiegelt zwar die Ahnung, dass da doch etwas sein könnte, das den Kampf gegen Israel sozusagen unehrenhaft machen könnte, aber vor allem die Überzeugung, dass dieser Kampf ein an sich gerechter ist, der nur hier und da störende, aber zu überwindende Blüten treibt. Antisemitismus erscheint so als etwas, das gar nicht mal in erster Linie ein Problem für Juden ist, sondern eher deren Waffe, die sie missbräuchlich gegen die vorgeblich legitimen Interessen der arabischen Welt richten und die es ihnen deshalb aus der Hand zu schlagen gilt.

Und das alles, wie gesagt, während der Iran sich zur Atommacht erklärt, die Shoa bestreitet, Israel mit der Vernichtung droht – und jede Unterstützung willkommen heißt. Uri Avnery hat sie geleistet, und die taz hat sie nicht ohne Grund gedruckt. Das gibt den Preis für den Osterarsch des Tages.