9.4.06

Freischwimmer

Die medialen Schlagzeilen dieses Wochenendes wurden von zwei Themen dominiert, die für die Deutschen gleichsam schicksalsentscheidende Bedeutung zu haben scheinen: Das Hochwasser und die T-Frage. Da schwimmt das ganze Land mit, aber Rettung ist jeweils durchaus in Sicht. Jürgen Klinsmann ging mit gutem Beispiel voran, machte das Seepferdchen und erlöste seine Deutschen von der quälenden Ungewissheit darüber, wer denn wohl beim anstehenden Weltfußballturnier in ihrem Tor stehen wird. Gerüchten zufolge ist Oliver Kahn nun unterwegs in ein Katastrophengebiet, um sich beim Sandsackschleppen abzureagieren. Was passiert, wenn er das hinter sich hat, weiß man nicht.

Unterdessen machte die Meldung die Runde, den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedjad gelüste es nach einem Besuch seiner Fußball-Nationalmannschaft bei der WM in Deutschland. Was denn passiere, wenn der „ungebetene Fan“ tatsächlich auflaufen sollte, wollten Journalisten auf einer Pressekonferenz der Bundesregierung wissen. Regierungssprecher Thomas Steg irrlichterte daraufhin umher: Er „sehe er sich ‚nicht in der Lage’, die Frage zu beantworten, inwieweit der fußballbegeisterte Staatsgast willkommen sei oder nicht“, berichtete die Süddeutsche Zeitung und bemerkte:
„Fußballkenner Steg dribbelte vor diesem Hintergrund um die eigentliche Frage herum und flüchtete sich in Lobpreisungen des iranischen Fußballs im Allgemeinen sowie die Aufzählung all der Qualifikationen, die ihn für Meisterschaften wie die WM interessant machen.“
Doch das Ausweichmanöver war kein Zufall:
„Hinter den Kulissen spielt das Thema eines Besuchs des Fußballfans Ahmadinedjad bei der WM schon länger eine Rolle. Am 11. Juni trifft die Mannschaft Irans in ihrem Auftaktspiel in Nürnberg auf Mexiko. Kanzleramts-Chef Thomas de Maizière und das Innenministerium treibt seit geraumer Zeit die Frage um, wie man mit dem Besuchswunsch solch eines ungebetenen Gastes umgeht.“
Vorläufiges Resultat: Man lässt seinen Sprecher erst einmal die fußballerischen Leistungen des entsprechenden Landes würdigen und übergeht galant dessen zweifelhafte Meriten auf anderem Gebiet, etwa dem der Atomtechnologie oder dem der Geschichtsphilosophie. Vielleicht kommt der Gast aber auch gar nicht so ungelegen, wie die Süddeutsche glaubt. Zumindest hat Innenminister Wolfgang Schäuble (Foto) kurz darauf wissen lassen:
„Er kann natürlich zu den Spielen kommen. Mein Rat ist, wir sollten gute Gastgeber sein.“
Das war eindeutig, auch wenn Schäuble noch nebulös bemerkte: „Es wird nicht ganz einfach sein, weil er Sachen gesagt hat, die man nicht akzeptieren kann.“ Um verstehen zu können, was genau der Herr Minister „nicht ganz einfach“ findet und welche „Sachen“ es sind, die „man nicht akzeptieren kann“, muss man den Rahmen kennen, in dem diese Sätze fielen. Die Nachrichtenagentur Reuters vermeldet diesbezüglich nur eine „Veranstaltung des Deutschen Fußballbundes in Bad Boll“ als nicht näher bezeichneten Anlass, doch die Gastgeber, also der DFB, geben ausführlich Auskunft darüber, was dort verhandelt wurde:
„Am Samstag ist in Bad Boll das Symposium ‚Fußball unterm Hakenkreuz – Aus der Geschichte lernen’ zu Ende gegangen. Auf der gemeinsam vom Deutschen Fußball-Bund und der Evangelischen Akademie Bad Boll veranstalteten Tagung, diskutierten hochrangige Vertreter aus Sport, Wissenschaft, Politik und Kirche zwei Tage darüber, wie Verbände und Vereine mit der Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945 umgehen können.“
Zu den Diskutanten gehörte unter anderem die Sporthistorikerin Christiane Eisenberg, für die allen Ernstes nicht die Nazis den Sport politisiert haben, sondern die Nazis versportlicht wurden, die die Olympischen Spiele 1936 in Berlin als Ort „freier Geselligkeit“ betrachtet, von den dortigen „Blumenbeeten und Terrassen mit Liegestühlen“ schwärmt und Leni Riefenstahl im Grab hüpfen lässt: „Wer immer [...] behauptet, dass Berlin 1936 ein Ereignis sui generis und der schöne Schein auch eine schöne Realität gewesen ist, riskiert es, als Propagandaopfer abqualifiziert zu werden.“*

So jemand scheint qualifiziert, auf einer Tagung des Deutschen Fußball-Bundes zum Thema „Fußball im Nationalsozialismus“ zu sprechen, und der Blick auf die übrigen Referenten verspricht mit wenigen Ausnahmen auch nichts wirklich Erhellenderes. Schäuble war, wie erwähnt, ebenfalls zugegen und hatte vor seinem Willkommensgruß an Ahmadinedjad dies zu sagen:
„Es ist gut, dass sich der DFB seiner Vergangenheit stellt. Das kann auch eine befreiende Wirkung haben.“
Wenn in Deutschland jemand davon spricht, dass etwas eine „befreiende Wirkung“ hat, ist immer Vorsicht geboten; allzu oft ist damit die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit gemeint, deren verschiedenste Varianten die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen schon erlebt hat und deren aktuelle darin besteht, die Geschichtsaufarbeitung zum Standortvorteil und Exportschlager gemacht und mit dem Holocaust-Mahnmal in Berlin eine Wallfahrtsstätte für befreite Deutsche ins Werk gesetzt zu haben. Dass der DFB kurz vor der WM noch eine in Auftrag gegebene, mäßig geratene Studie zu seiner Geschichte im Nationalsozialismus präsentierte – nach Jahrzehnte langer Weigerung, sich einer solchen Auseinandersetzung überhaupt zu stellen –, passt zu Schäubles Bemerkung, die letztlich der Einschätzung und Absicht des Fußballverbandes entsprach.

Und wenn man schon dabei ist, darüber zu konferieren, „wie Verbände und Vereine mit der Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945 umgehen können“, stellt sich allemal die Frage nach den Konsequenzen für heute. Der Innenminister hat die Antwort gegeben: Der Besuch eines Holocaust-Leugners, dessen Programm die Vernichtung Israels mit Atomwaffen ist, ist im Deutschland des Jahres 2006 kein größeres Problem. Aufgeregt hat das in Bad Boll nur einen einzigen, nämlich den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, der auch als Erster gegen die Pulheimer Gaskammersynagoge protestiert hatte:
„Wenn das die Methode ist, mit der der Bundesinnenminister zukünftig mit Holocaust-Leugnern und Rassisten umgeht, dann können sich die Irvings und Mahlers entspannt zurücklehnen.“
Kann man wohl sagen. Und den Kollegen Schäuble daran erinnern, dass die Statements des Irren von Teheran durchaus justiziabel sind:
„Der iranische Präsident hatte in den vergangenen Monaten den Holocaust mehrfach als ‚Märchen’ bezeichnet. In Deutschland wird dies mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Kramer forderte, die deutschen Gesetze müssten gegebenenfalls auch auf Ahmadinedjad angewandt werden.“
Das muss man ausgerechnet einem Minister stecken, der ansonsten nicht gerade für seine Zimperlichkeit bekannt geworden ist. Doch Schäuble war nicht der einzige Unionspolitiker, der etwas zu sagen hatte:
„Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU, Foto) wies darauf hin, dass Ahmadinedjad mit Protesten rechnen müsse. ‚Dass der Repräsentant eines Landes, das gegenüber dem jüdischen Staat zu solchen Tiraden greift und den Holocaust bestreitet, in unserem Land nicht gerade begeistert empfangen wird, versteht sich von selbst’, sagte Stoiber am Rande einer CSU-Klausurtagung.“
Das hört sich schon ein bisschen anders an und bleibt doch wachsweich: Der iranische Präsident müsse „mit Protesten rechnen“ und werde „in unserem Land nicht gerade begeistert empfangen“. Da wird er sich aber fürchten, abgesehen davon, dass es entgegen Stoibers Annahme vermutlich nur sehr wenige sein werden, die ihre Stimme gegen den Auftritt dieses Antisemiten erheben. Der quantitativ erdrückend überlegene Rest könnte damit beschäftigt sein, gegen diejenigen auf die Straße zu gehen, die in Ahmadinedjad einen „potenziellen Adolf Hitler“ sehen und sich überlegen, wie sie wirkungsvoll unterbinden können, dass die Möglichkeit zur Realität wird.

Eine grausige Vorstellung: Vier Wochen lang WM, nationaler Taumel, der Besuch eines Shoa-Leugners, dem der Innenminister ein „guter Gastgeber“ sein will, und antiamerikanische Demonstrationen. Nichts wie weg.

* Christiane Eisenberg: „English sports“ und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn u.a. 1999 (Hattip: Clemens)