14.10.07

Frieden mit der Walser-Keule

Lautete die Preisfrage, von wem die folgenden Sätze stammen, und böte das Internet keine Suchmaschinen, die Aufgabe wäre gar nicht so leicht zu lösen:
„Es ist nach wie vor so, dass sich Deutsche zu allem Möglichen kritisch äußern dürfen, aber nicht zu Israel. Menschenrechtsverletzungen anderswo anprangern – kein Problem! Mit Blick auf Israel aber kommt das nicht infrage. Ich finde das zutiefst schockierend. [...] In diesem Punkt stehe ich hinter Martin Walsers Kritik an der Auschwitz-Keule. Ja, ich sehe diese Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen Israel sagen. Tun sie es trotzdem, sagt die Keule sofort: ‚Ich schlage dich mit Auschwitz.’ Ich finde das unerträglich.“
Oskar Lafontaine? Norman Paech? Rainer Rupp? Dreimal nein. Der da in einem Interview mit dem Stern aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, ist vielmehr einer, der in seiner Funktion als Kronzeuge regelmäßig die Sympathien all jener Deutschen erobert, die sich wie ihr preisgekrönter Schriftsteller vom Bodensee als verfolgte Unschuld fühlen, als Opfer von Meinungsterror und Maulkorberlassen fremder Mächte: Alfred Grosser. Selten lässt der Politikwissenschaftler eine Gelegenheit ungenutzt, das „erlittene deutsche Leid der Bombennächte und der Vertreibungen“ zu beklagen, die „mutige Hilfe für Juden in Deutschland“ während des Nationalsozialismus allen Ernstes zu einem Massenphänomen hochzujazzen und sich wie der unvermeidliche Rupert „Ich will nicht mehr schweigen“ Neudeck zu fragen: „Ist es nicht eine Verpflichtung der heutigen Juden, an das Schicksal anderer Unterdrückter und Verachteter zu denken?“ Sozusagen als Geste der Dankbarkeit den Deutschen gegenüber, die zwischen dreiunddreißig und fünfundvierzig entgegen anderslautenden Erkenntnissen eine einzige große Judenrettungsbewegung waren und auch heute noch überall auf der Welt aktiv sind, „wenn Grundrechte verletzt werden“ – vor allem dann, wenn es sich bei den Missetätern um die Nachfahren der von ihnen damals Erlösten handelt.

Doch was geschieht stattdessen, folgt man Grosser? Dies: Während der jüdische Staat „Grundrechte verletzt“, „Menschen entwürdigt“, „Palästinenser an der Mauer demütigt“ und sich allerlei anderen Horrors schuldig macht, wird die „Israelkritik“ der Deutschen mit der „Auschwitzkeule“ zum Schweigen gebracht. Der Politologe sagt an keiner Stelle, wer für dieses gewaltsam exerzierte Redeverbot verantwortlich sein soll und wer es ausführt; die Behauptung ist mal im Passiv formuliert, und mal kann die „Keule“ plötzlich selbst sprechen. Lediglich zum Schluss ist – und auch hier nur sehr andeutungsvoll – von „Verbindungen“, „ein paar Telefonanrufen“ und „Beschwerdebriefen“ die Rede, mit denen Grossers jüdische Kritiker angeblich „sanften Druck zur Selbstzensur, zum Schweigen und zum Verschweigen“ ausüben. Israel hingegen handelt stets aktiv, was schließlich in der Behauptung kulminiert, dass seine „Politik den Antisemitismus fördert“ – so, als handle es sich beim Judenhass nicht um eine paranoide Wahnvorstellung der Antisemiten selbst, die konkreter Tätigkeiten oder Unterlassungen von Juden noch nie bedurfte, sondern um eine irgendwo doch begründbare Reaktion auf erlittenes Unrecht.

Dass Grosser nicht explizit sagt, wer die „Israelkritik“ hierzulande vorgeblich hintertreibt, sondern es bei einem bedeutungsschwangeren Raunen belässt, ist kein Zufall. Denn die Bedrohlichkeit einer behaupteten Macht erscheint desto stärker und bekämpfenswerter, je subjekt- und gesichtsloser sie daherkommt – was denjenigen, der sich gegen diese Macht auflehnt, als besonders mutigen Streiter wider die im Verborgenen vonstatten gehende, nach drastischen Konsequenzen schreiende Verschwörung einer sinistren Minderheit gegen die arglose Mehrheit erscheinen lässt. Würde der Wissenschaftler gezwungen, Ross und Reiter zu nennen, wäre er außerdem mit Notwendigkeit blamiert: Die „Israelkritik“ ist in Deutschland nachweislich majoritär – sei es in der Politik, sei es in den Medien, sei es in Internetforen –, und niemand unterdrückt sie. Folgerichtig entpuppt sich die „Auschwitzkeule“ als Einbildung und das Verbot der „Israelkritik“ als Erfindung eines Tabus, das unablässig mit dem Zweck in die Welt gesetzt wird, anschließend gebrochen werden zu können.

Wer diese antizionistischen Konstruktionen in Anspruch nimmt, ist dabei nebensächlich. Falsche Behauptungen werden nicht dadurch richtig, dass sie jemand ausspricht, der qua Herkunft, Glauben, Biografie oder Beruf eine besondere Glaubwürdigkeit oder Authentizität zu vermitteln scheint. Es sei dahingestellt, was einen, der mit seiner Familie 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich fliehen musste, eigentlich reitet, den gleichen antisemitischen Unsinn zu erzählen wie ein früheres NSDAP-Mitglied, das als Flakhelfer wie als Friedenspreisträger jederzeit wusste, wo der Deutschen Feind steht. Letztlich bleibt es antisemitischer Unsinn, der auch nicht besser wird, wenn sein Urheber auf die Frage nach der Motivation für seine Philippika antwortet: „Ganz einfach: dass ich unter anderem Jude bin.“ Und die Opfer vermutlich bloß davor bewahren will, rückfällig zu werden.

Für die von Judenmördern zu Judenhelfern Beförderten und ihre Abkömmlinge haben Grossers Tiraden gleichwohl einen unschätzbaren Vorteil: „Ohne seine Alibi-Juden wäre der bekennende Antizionist einfach nur eine arme Sau, die eine koschere Delikatesse werden möchte“, schrieb Henryk M. Broder unlängst. Denn „der bekennende ‚Antizionist’ ahnt natürlich, dass er in Wirklichkeit ein Antisemit ist, so wie ein Kannibale weiß, dass er nicht zum Vegetarier wird, wenn er ein paar Möhren mitkocht. Deswegen muss er sich immerzu der Hilfe jüdischer Zeugen versichern, denn die können – qua Geburt – keine Antisemiten sein. Das ist nicht nur dumm gedacht, es zeugt auch von völliger Unbildung.“ Den neuerlichen Beweis dafür hat Alfred Grosser erbracht, Friedenspreisträger übrigens wie der von ihm so geschätzte Walser, nur früher. Deutschland macht’s möglich.