Die Quadratur des Kreises
Groß war das Echo auf die leidenschaftliche Rede, die Uli Hoeneß kürzlich auf der Jahreshauptversammlung des FC Bayern München hielt. So mancher Fan des Rekordmeisters fühlte sich beschimpft und beleidigt, als der Manager des Klubs auf die Beschwerde einiger Anhänger über die schlechte Stimmung in der Allianz-Arena mit einem Wutausbruch reagierte. Auch in den Medien rümpfte man verschiedentlich die Nase über die Äußerungen des 55jährigen. Dabei ist der sich „im Grunde treu geblieben“, wie Roland Zorn in der FAZ vollkommen zu Recht schrieb, „da jeder weiß, wie sozial, emotional und gelegentlich auch aggressiv dieser ebendeshalb von den Anhängern des Bundesligaprimus sonst hoch geschätzte Bayern-Boss in seiner oft allzu direkten Wortwahl ist“. Es war jedenfalls gerade nicht die so oft behauptete Bayern-Arroganz, die während Hoeneß’ knapp zweiminütiger Eruption als Lava in den Saal strömte, und geplant oder inszeniert war seine erregte Antwort auf die Kritiker ebenfalls nicht. Dafür spricht schon, dass der sonst so eloquente Schwabe ein paar Mal hörbar ins Holpern und Stocken geriet.
Vor allem aber fühlte sich ein dem Motto „Kapitalismus mit Herz“ folgender „fürsorglicher Vereinspatriarch“ (Süddeutsche Zeitung) herausgefordert, sein Lebenswerk und seinen Lebensinhalt zu verteidigen. Denn der bekennende Gewerkschaftsfeind Uli Hoeneß (Foto) begreift den FC Bayern, anders als der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge, weniger als einen gewöhnlichen Konzern denn als großen Familienbetrieb. In diesem wuchs er seit seinem Amtsantritt vor 28 Jahren – als damals gerade einmal 27jähriger – allmählich in die Rolle eines Vaters hinein, „der sich verlässlich um persönliche Belange seiner Angestellten und Vertrauten kümmert, um den Alkoholiker wie den an Krebs erkrankten Ex-Spieler“, wie Ludger Schulze in der Süddeutschen Zeitung befand. „Auch dass Prämien im Erfolgsfall nicht nur an die Fußballer, sondern bis hinunter zum Platzwart ausgeschüttet werden, schafft eine einmalige Motivation und Identifikation mit dem eigenen Verein.“
Und Hoeneß lebt diese Identifikation vor: Wer sieht, wie er in Bayern-Schal und -Mütze auf der Bank sitzt, wie ausgelassen er sich nach Toren, Siegen und Titeln freut und wie aufbrausend er regelmäßig auf kritische Fragen – sei es von Journalisten, sei es von Fans – reagiert, weiß: Der Mann ist selbst der größte Fan dieses Klubs. Dabei muss er ein ums andere Mal diverse Widersprüche bewältigen. Denn einerseits ist der FC Bayern – nicht zuletzt durch Hoeneß’ Arbeit – längst vom Fußballverein zur erfolgreichen Aktiengesellschaft mutiert, die Jahr für Jahr neue Rekordgewinne verzeichnet und auf europäischer Ebene als einziges deutsches Fußballunternehmen halbwegs konkurrenzfähig ist, weshalb sie letztlich nicht wie ein Familienbetrieb geführt werden kann, weil der Wettbewerb einigermaßen gnadenlos ist und mit Notwendigkeit immer wieder bedauernswerte Opfer fordert. Andererseits trägt der Münchner Klub im Unterschied zu Branchengrößen wie Real Madrid, dem FC Chelsea oder dem AC Mailand immer noch mittelständisch-familiäre Züge; waghalsige Investitionen oder Risikoanleihen scheut man in der Regel genauso wie unter menschlichen Aspekten unpopuläre Maßnahmen.
Einen weiteren Spagat müssen Hoeneß und sein Klub in Deutschland bewältigen: Hierzulande werden sie als Maß aller Dinge angesehen, als Verein, dessen Dominanz erdrückend ist und den man als Fußballfan nicht zuletzt deshalb entweder liebt oder aufrichtig hasst. Diese Polarisierung ist gut fürs Geschäft, denn nichts wäre dem Image abträglicher als Mittelprächtigkeit oder Indifferenz. Gleichzeitig müssen die Münchner bemüht sein, auch auf internationaler Ebene wettbewerbsfähig zu bleiben, und das geht nur über eine entsprechende Liquidität und Refinanzierung, die einen Teil der eingefleischten Anhängerschaft in vielfacher Hinsicht hart trifft: Zum einen durch das Umwerben einer finanzkräftigen, aber weitgehend leidenschaftslosen Kundschaft, die den Stadionbesuch entweder lediglich als Alternative zum Kino-, Theater- oder Musicalbesuch begreift oder vor allem deshalb in die Allianz-Arena geht, um gesehen zu werden. Und zum anderen durch Repressalien gegenüber der Stehplatzbelegschaft in der Kurve, die zwar als Stimmungsmacher benötigt wird, aber aufgrund ihrer anders gelagerten Interessen, ihrer Unberechenbarkeit und nicht zuletzt ihrer weitaus geringeren monetären Möglichkeiten eine immer kleiner werdende und aus Sicht des Vorstands teilweise kontraproduktive Rolle spielt.
Das Vermitteln oder gar Auflösen dieser Widersprüche ist kaum möglich. Denn der FC Bayern kann schlechterdings nicht allen gerecht werden: Er braucht die Logenbesitzer, die mehrere hunderttausend Euro pro Saison in die Kasse spülen, und die zahllosen Familienväter und -mütter, die ein- bis zweimal pro Spielzeit 40 Euro pro Nase investieren, um gemeinsam mit ihrem Nachwuchs Ribéry, Toni, Klose & Co. aus der Nähe sehen zu können, ohne dabei so etwas wie akustisches Engagement zu entwickeln. Gleichzeitig ist er aber auch auf die Stehplatzfans angewiesen, die als einzige für so etwas wie Atmosphäre sorgen (und damit den Erlebniswert beträchtlich vergrößern) können und außerdem als authentischer Ausdruck originärer Vereinsliebe gelten, dabei jedoch gelegentlich den Kundenschreck geben, indem sie sich vernehmlich darüber beklagen, dass die Logeninhaber „nur zum Fressen“ da seien und der Rest sich verhalte wie Touristen bei der Begutachtung einer Sehenswürdigkeit.
Der Vortrag von Uli Hoeneß auf der Jahreshauptversammlung zielte auf die letztgenannte Gruppierung, und dabei kann man ihm letztlich nicht vorwerfen, inhaltlich Unrecht gehabt zu haben. „Für die Scheiß-Stimmung seid ihr verantwortlich, nicht wir. Wer glaubt ihr eigentlich, wer euch finanziert? Das sind die Leute in der Loge, denen wir das Geld aus der Tasche ziehen“, rief er ins Mikrofon. Und auch wenn sich darüber streiten lässt, ob diese Form der Quersubvention wirklich beabsichtigt ist, so ist dem Manager im Ergebnis nur schwer zu widersprechen. Denn die Eintrittspreise des FC Bayern nehmen sich sowohl im Vergleich zu den meisten anderen Bundesligaklubs als auch und vor allem in internationaler Perspektive moderat aus. Mit seiner Feststellung „Ihr wollt Ribéry und Toni, aber keinen Champagner in den Logen. Wir sollen die Champions League gewinnen, aber es darf nichts kosten“ lag Hoeneß ebenfalls sicher nicht daneben. Würde man dem Wunsch der Kurvenfans folgen und zu Zeiten zurückkehren, in denen der Fußball noch weniger salon- und marktfähig war – der FC Bayern hätte fraglos nicht einmal annähernd die Möglichkeit, seinem Publikum die Stars zu präsentieren, die vom überwiegend teilnahmslosen Haupttribünengast bis zum lautstarken Südkurvenfan einhellig begrüßt werden.
Es existiert also ein Dilemma, das nicht aus der Welt zu schaffen ist: Ohne das nötige Kleingeld und die entsprechende Akquise in betuchteren Kreisen wäre der FC Bayern München nicht in der Lage, erfolgreich Fußball zu spielen; zugleich sorgt er durch seine Politik für nachvollziehbaren Unmut bei nicht wenigen, die ihm trotz knapper Kasse seit Jahren die Treue halten. Uli Hoeneß weiß sehr wohl um diesen Zwiespalt. Aber auch wenn er sich emotional den Letztgenannten vermutlich eher verbunden fühlt, kann er es sich nicht leisten, die zahlungskräftige Kundschaft zu verprellen. Nichtsdestotrotz kann man ihm nicht nachsagen, die Bedürfnisse der Kurve einfach zu ignorieren. Der offene Brief, den der Bayern-Vorstand im Anschluss an seine Mitgliederversammlung veröffentlichte, mag einigermaßen handzahm sein; dass er aber überhaupt geschrieben wurde, zeugt davon, dass der Erfolgsklub seine Reputation nicht nur den besseren Plätzen überantwortet. Das mag der Versuch einer Quadratur des Kreises sein – aber Fußball ist nun mal nicht nur Mathematik. Zum Glück.