26.10.07

Die Leiden des Zeugen G.

Alfred Grosser hat es zuletzt wieder getan, Norman Finkelstein tut es ohnehin, Tony Judt auch, Uri Avnery immerzu, Shraga Elam sowieso, Moishe Arye Friedman erst recht und natürlich Hajo Meyer, Abraham Melzer, Evelyn Hecht-Galinski sowie Rolf Verleger: Sie alle lassen selten eine Gelegenheit aus, über Israel herzufallen und dabei auch noch jene zu munitionieren, die sehr wohl wissen, dass ihre „Israelkritik“ nichts weiter als ordinärer Antisemitismus auf der Höhe seiner Zeit ist, und die deshalb dankbar sind, wenn jüdische Kronzeugen Schützenhilfe leisten. Denn derlei Experten könnten schon qua Geburt gar keine Antisemiten sein, heißt es stets treuherzig, so, als handle es sich beim Antisemitismus um eine biologische Bedingtheit und nicht um eine Weltanschauung, der nun mal auch einige ihrer prospektiven Opfer frönen. „Ohne seine Alibi-Juden wäre der bekennende Antizionist einfach nur eine arme Sau, die eine koschere Delikatesse werden möchte“, fasste Henryk M. Broder kürzlich zusammen, welches Bedürfnis die eingangs Erwähnten befriedigen, und Hannes Stein zeigte auf, dass es „Juden als Kronzeugen gegen das Judentum“ schon weitaus länger gibt als den Staat Israel.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich in diesem Zusammenhang allenthalben jene Gewährsleute, die die Shoa überlebt haben oder Kinder von solchen Überlebenden sind. Nicht zuletzt die daraus angeblich resultierende unschlagbare Authentizität der „Israelkritik“ dürfte deshalb der Grund gewesen sein, weshalb das Vierteljahresmagazin Lettre International – das sich selbst Europas Kulturzeitung nennt und in sechs Sprachen erscheint – zum Zwecke der Absicherung seines Antizionismus in seiner aktuellen Ausgabe einen Beitrag Göran Rosenbergs ins Blatt gehoben hat: Rosenberg (Foto) wurde 1948 in Schweden geboren; er ist der Sohn polnisch-jüdischer Eltern und „gehört zur ‚zweiten Generation’, wie man die Kinder der Überlebenden nennt“, erläutert das Internetportal haGalil. „Sein Vater nimmt sich 1962 das Leben, das Kind versteht diesen Tod nicht; die Mutter geht mit dem 14jährigen Göran nach Israel, einige Jahre später kehrt die Familie nach Stockholm zurück.“ Heute ist Rosenberg Herausgeber der schwedischen Zeitschrift Moderna Tider und historischer Kommentator im schwedischen Fernsehen. Einem deutschsprachigen Publikum ist er durch sein 1998 im Suhrkamp Verlag erschienenes Buch Das verlorene Land ein wenig bekannter geworden; als „Kritiker israelischer Besatzungsherrschaft“ qualifizierte ihn anschließend die Neue Zürcher Zeitung in einer lobenden Rezension.

Was unter dieser „Kritik“ zu verstehen ist, ließ sich im Januar 2004 erneut nachlesen, als Rosenberg den israelischen Botschafter in Schweden, Zvi Mazel, scharf attackierte und auch gleich eine Generalabrechnung mit Israel folgen ließ. Mazel hatte während einer Ausstellung aus Protest eine Installation beschädigt, mit der eine Selbstmordattentäterin glorifiziert, also „die Realität des palästinensischen Terrors zur sakralen Kunst verklärt“ wurde, wie die Publizistin Gudrun Eussner konstatierte. Rosenberg jedoch fand: „In diesem Kunstwerk ist nicht die geringste Spur eines Antisemitismus zu erkennen“, weshalb es dem Diplomaten in Wahrheit um etwas ganz anderes gegangen sei: „Der Auftrag, den der Botschafter zur großen Zufriedenheit seiner Auftraggeber ausgeführt hatte, bestand darin, ins Rampenlicht zu treten und die israelische Rechtsregierung zu verteidigen, eine Regierung, die immer weniger davor zurückschreckt, die Anschuldigung des Antisemitismus zu brauchen oder zu missbrauchen, um eine immer brutaler werdende Politik von Besatzung, Unterdrückung und Demütigung zu rechtfertigen.“ Das hätte selbst Norman Finkelstein nicht plakativer formulieren können.

Und nun legt Göran Rosenberg in Lettre International noch einmal kräftig nach. „Wieder im Ghetto“, ist sein Aufsatz überschrieben, der im Kern aus einer Klage über „den gestiegenen Anteil von bewusster Manipulation und Ausbeutung jüdischer Phobien in der israelischen Machtpolitik“ besteht. Der jüdische Staat benutze „seine Übermacht“ dazu, „etwas zu tun, was nach Ansicht aller die Palästinenser verrückt machen wird“, weshalb „auch Israel eine Gesellschaft von Wahnsinnigen“ sei: „Auf der ‚Innenseite’ der Mauer (oder der Barriere oder des Zauns), geschützt vom mächtigsten Militärapparat dieser Region, unter Obhut der größten Militärmacht der Welt und gesichert durch die stärkste Volkswirtschaft dieser Gegend, leben Menschen, die davon überzeugt sind, dass ihnen dies alles jeden Augenblick abgenommen werden könne und dass das kleinste Zeichen militärischer Schwäche ein erster Schritt in Richtung Auschwitz sei.“ Das Argument, dass es sich dabei nicht um eine Fantasterei von Paranoiden handelt, sondern um eine sehr realistische Einschätzung einer sehr realen Gefahr, lässt Rosenberg nicht gelten: Die „heutigen Befehlshaber Massadas“ schürten die Angst geradezu und bauschten sie maßlos auf, um eine Solidarisierung mit der israelischen Regierung zu forcieren, glaubt er. „Je mehr Juden auf der Welt diesen Konflikt für politisch unlösbar und für potenziell tödlich nicht nur für Israel, sondern für alle Juden auf der Welt halten, umso stärker fällt ihre Unterstützung für ein Israel aus, das seine Nachbarn demütigt, seine Brücken abbricht und seine Mauern errichtet“, sieht Rosenberg darüber hinaus eine groß angelegte zionistische Kampagne am Werk.

Und die finde derzeit besonders günstige Bedingungen vor, denn: „Die palästinensischen Terroraktionen und die antisemitische Propaganda spielen ihnen“ – den Verantwortlichen in Israel nämlich – „in die Hände, weshalb sie beides bedenkenlos stimulieren.“ Rosenberg bestreitet also nicht, dass es Terror und Antisemitismus gibt – aber er macht nicht die Terroristen und Antisemiten dafür verantwortlich, sondern Israel selbst: Die palästinensischen Mordtaten fördere der jüdische Staat, „indem er mit [seiner] Okkupation systematisch Demütigung, Hass und Hoffnungslosigkeit“ produziere, „was einen soliden Nährboden für verzweifelte Gewalttaten abgibt“. Und den Antisemitismus verstärke er, indem er „systematisch die Grenze zwischen Israelkritik und Judenhass“ unterminiere. Die Juden sind es also, folgt man Rosenberg, wieder einmal selbst schuld, wenn sie bedroht und angegriffen werden – sofern das überhaupt der Fall ist und es sich nicht nur um „jüdische Phobien“ handelt –, denn sie zwingen ihren Kontrahenten sozusagen ein Notwehrprogramm auf. Eine eigenständige Sehnsucht der Feinde Israels nach dessen Vernichtung gibt es demzufolge nicht; selbst eine „World without Zionism“, die sich Mahmud Ahmadinedjad so sehr wünscht, kann in dieser Weltsicht nur eine irgendwo doch legitime Reaktion auf erlittenes Unrecht sein, niemals aber originärer Antisemitismus.

„Der bekennende Antizionist ist ein Zwangscharakter, der die Objekte seiner Begierde für seine Leiden schuldig macht“, brachte Henryk M. Broder die Beweggründe für eine solch abstruse Weltsicht unlängst auf den Punkt. Sein Satz darf universelle Gültigkeit beanspruchen, gleich, welcher Art diese Leiden sind und wer sie verspürt. Denn in der Konsequenz bedeutet das stets: Die Leiden verschwinden erst, wenn auch Israel verschwindet. Dies zu verhindern, hat der jüdische Staat alles Recht der Welt.

Hattip: Tim Graf