11.1.09

I will survive (II)

Vor einer Woche berichtete Tzion Godfrey, Student an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva, an dieser Stelle über die Raketenangriffe der Hamas auf die Stadt, in der er lebt, und über seinen Umgang damit. Godfrey entschloss sich nach langem Zögern, Beer Sheva vorerst zu verlassen und mit seinem Freund Nadav nach Nahariya in den Norden Israels zu fahren. In einer weiteren E-Mail an seine Freunde schildert er nun, wie es ihm seitdem ergangen ist und wie andere Menschen den Raketenterror bewältigen. Lizas Welt veröffentlicht nachfolgend auch diesen Brief.

VON TZION GODFREY

Dieses 21 Sekunden dauernde Video hier hat jemand aus meinem Studentenwohnheim aufgenommen, als am vergangenen Mittwoch um 15 Uhr eine Grad-Rakete im Innenhof des Wohnheims einschlug. Zum Glück wurde niemand verletzt.

Wie ihr vielleicht wisst, habe ich einen „strategischen Rückzug“ aus Beer Sheva angetreten, nachdem fünf Raketen in der Stadt niedergegangen waren. Ich bin dann in der Nacht zum Sonntag letzter Woche noch einmal nach Beer Sheva zurückgekehrt und bis Montagmittag geblieben, um ein paar Sachen zu holen und nachzusehen, ob noch alles da ist. In dieser Zeit gab es keine Raketenangriffe. Als ich am Bahnsteig stand und auf den Zug wartete, sah ich einen aus Gaza kommenden Black-Hawk-Hubschrauber, der, da bin ich sicher, verwundete Soldaten an Bord hatte. Sie werden in einem Krankenhaus ganz in der Nähe meines Studentenwohnheims behandelt.

Zwei Tage zuvor hatten palästinensische Terroristen drei Raketen von der libanesischen Grenze aus abgefeuert. Sie landeten in Nahariya im Norden Israels – etwa zwei Kilometer von Sheve Tzion entfernt, wo ich mich aufhielt. Es gab keinen Roten Alarm. Als die ersten drei Raketen einschlugen, schlief ich. Kurz darauf gab es dann einen – allerdings falschen – Alarm. Das Haus meines Freundes in Nahariya hat keinen Bombenschutzraum, es hat noch nicht einmal einen Keller. Wir kauerten während des Alarms im Hausflur: er, seine Mutter, seine Schwester und ich. Seine Mutter war der Hysterie nahe, weil ihr Hund irgendwo da draußen herumsprang. Das Haus bietet so gut wie keinen Schutz; eine Katjuscha-Rakete würde es durchschneiden wie ein Delfin das Wasser. Wir vier müssen ein ziemlich armseliges Bild abgegeben haben, wie wir da hockten, voller Angst, gegen die Wand gelehnt. Nadavs Dogge heulte gemeinsam mit der Sirene.

Das Schlimmste während des Alarms ist das Warten. Normalerweise vergehen ein paar Sekunden zwischen dem Ende des Alarms und dem Einschlag der Rakete. Diese Sekunden sind furchtbar, eine Ewigkeit scheint zu vergehen, während man auf das „BUMM!“ – oder Schlimmeres – wartet. Und man muss vorsichtig sein: Selbst nach dem ersten Knall kann man seinen Schutzraum nicht verlassen, denn manchmal feuern die Terroristen in schneller Folge gleich mehrere Raketen ab, um das Warnsystem auszutricksen. Wenn man zu früh seinen Schutzraum verlässt, läuft man Gefahr, verletzt oder getötet zu werden.

Nach den Angriffen auf Nahariya entschieden Nadav und ich: Scheiß auf die Raketen! Wir kauften uns in einem Supermarkt jeder ein Bier und gingen zum nahe gelegenen Strand. Wir saßen still am Ufer und genossen unser Bier, während wir die Grenze zum Libanon sehen konnten, die nur zwanzig Kilometer entfernt liegt. Wir sahen, wie in einiger Distanz ein israelisches Kriegsschiff gerade die Küste verließ.

Es ist sehr interessant zu beobachten, wie die Menschen um mich herum mit der außergewöhnlichen Belastung durch die Raketenangriffe umgehen. Einer meiner Mitbewohner in Beer Sheva, ein groß gewachsener georgischer Jude, ging nach dem ersten Raketenangriff, den wir gemeinsam erlebten, stoisch vom Schutzraum zurück zur Küche und bereitete ein großes Abendessen zu, ganz für sich alleine. Am folgenden Morgen, nachdem die nächsten fünf Raketen eingeschlagen waren, sah ich, wie er eine riesige Melone in Stücke schnitt. Nadav wiederum wird unmittelbar nach einem Angriff depressiv, aber das scheint sich nach einigen Stunden zu legen.

Während der Raketenangriffe, während des Luftalarms bin ich gelangweilt-apathisch; ich bete nicht, ich spüre keine Furcht, ich spüre keine Angst, ich spüre gar nichts, ich warte nur. Nach den Angriffen habe ich einen gewaltigen Adrenalinschub, dem eine seltsame, fast schon perverse Euphorie folgt. Ein paar Stunden später fühle ich mich sehr depressiv und ärgere mich grundlos über alles. In dieser Zeit erlebe ich plötzlich die Angst, die ich eigentlich während der Raketenangriffe hätte haben sollen. Normalerweise wache ich am nächsten Tag auf, und es geht mir besser.

Ältere Menschen scheinen irgendwie weniger aufgeregt zu sein. Nadavs Großvater, ein groß gewachsener, faltiger Mann von etwa achtzig Jahren, verhielt sich, als ob auf die Attacken gleich Chanukka gefolgt wäre. Er hat in der Palmach und im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, er wurde in einem Kibbuz hier in Israel geboren, seine Hände sind groß und rau und sehen aus, als wären sie aus Stein. Vor und nach den Angriffen widmet er sich der Gartenpflege. Nadav hat mir erzählt, dass sein Großvater während des zweiten Libanonkriegs im Garten arbeitete, während die Katjuschas über seinen Kopf hinweg nach Haifa flogen.

Gestern Abend habe ich mich auf dem Weg von der Synagoge nach Hause mit einer etwa sechzigjährigen Frau unterhalten, deren Mutter vor 36 Jahren von palästinensischen Terroristen ermordet worden war. Sie sagte, sie habe große Angst vor Raketenangriffen und Terrorismus gehabt, als ihre Kinder noch klein waren. Nun aber, da ihre Kinder erwachsen sind, sei das anders: „Ich kümmere mich nicht mehr darum. Gott ist mit uns.“

Übersetzung aus dem Englischen: Lizas Welt. Das Foto entstammt einer pro-israelischen Demonstration vom gestrigen Sonntag in Berlin. Aufgenommen wurde es von Just/Just.Ekosystem.org, an den ein herzliches Dankeschön dafür ergeht.