28.10.09

Brothers in Crime



Vor einigen Tagen erschien im Online-Magazin Telepolis ein Beitrag mit dem Titel „Boykott, Desinvestment und Sanktionen“, für den die Verfasserin Petra Wild akribisch recherchiert hatte, welche politischen, akademischen und ökonomischen Kampagnen derzeit auf der Welt gegen Israel laufen, wer sie trägt und welche Auswirkungen sie zeitigen. Telepolis ist pro-israelischer Neigungen allerdings gänzlich unverdächtig, und so geht es auch in diesem Text nicht darum, die gegen den jüdischen Staat gerichteten Boykottaufrufe und -initiativen einer Kritik zu unterziehen. Im Gegenteil begrüßt die Autorin sie und billigt den sie tragenden Organisationen ausschließlich lautere Motive zu – wie etwa jenes, mit den Kampagnen gegen die „Brutalität der israelischen Kriegsführung“ oder gegen das „israelische akademische Establishment“ zu protestieren, das „tief in die zionistische Kolonialpolitik verstrickt“ sei. Dennoch – oder gerade deswegen – ist Wilds Zusammenstellung so aufschlussreich wie nützlich, denn sie ist nachgerade ein Panoptikum des globalen antiisraelischen Wahns.

„Im Vereinigten Königreich“, so heißt es im Artikel beispielsweise, „erreichte die der britischen Presse zufolge ‚größte Studentenbewegung seit 20 Jahren’, die aus Protest gegen den Krieg 34 Universitäten besetzt hatte, dass an einigen Universitäten Produkte aus israelischen Kolonien boykottiert werden“. In Südafrika und Australien hätten sich die Hafenarbeiter im Februar geweigert, israelische Schiffe zu entladen; die südafrikanische Hafenarbeitergewerkschaft habe darüber hinaus zum Boykott israelischer Waren aufgerufen und von der Regierung gefordert, die ökonomischen und politischen Beziehungen zu Israel abzubrechen. In Norwegen, so Wild, „begannen die Gewerkschaften bereits im Januar mit einer Kampagne zum Abzug aller staatlichen Investitionen aus Israel“. In Frankreich sei „die kollektive Begehung von Supermärkten zwecks Entfernung israelischer Waren aus den Regalen“ eine „beliebte Aktion“. Die israelische Presse habe gemeldet, dass der Verkauf israelischer Waren infolge der Boykotte um 21 Prozent zurückgegangen ist. „Als direkte Reaktion auf den Krieg gegen Gaza“, schreibt Wild, „brach vor allem im Vereinigten Königreich und den skandinavischen Ländern der Verkauf israelischer Waren ein“. Und so weiter und so fort.

Man muss sich das noch einmal in Ruhe vergegenwärtigen: Britische Hochschüler legen fast drei Dutzend Unis lahm, wenn sie in der Mensa Avocados und Oliven aus Israel aufgetischt bekommen statt Fish & Chips. Südafrikanische Hafenarbeiter investieren ihre Energie in die Weigerung, die Ladung von Schiffen aus dem jüdischen Staat zu löschen, statt sie für den Kampf zur Aufbesserung ihres Lohns einzusetzen. In Frankreich räumt der gleiche Mob, der unablässig eine „Hungerkatastrophe“ im Gazastreifen beschwört, gezielt israelische Lebensmittel aus den Läden. Schon die unvergleichliche, unschwer als Besessenheit zu identifizierende Verve, mit der all das geschieht, verrät die Motivation dieser Leute – eine Motivation, die sie für Darfur oder Sri Lanka selbstverständlich niemals aufbringen würden, obwohl es dazu weitaus mehr Anlass gäbe. Es geht ihnen auch nicht um das Wohlergehen der Palästinenser, denn wenn deren repressive Regimes die Bevölkerung knechten, hört man nie auch nur die leiseste Rüge. Die Botschaft lautet vielmehr: Kauft nicht beim Juden!

Es sind vor allem im weitesten Sinne linke Organisationen und Gruppierungen, die derlei Boykottkampagnen initiieren und tragen. Den klassischen rechten Antisemitismus gibt es zwar noch, aber er ist demgegenüber inzwischen geradezu marginal geworden, nicht zuletzt deshalb, weil er nach Auschwitz gar zu anrüchig ist. Wenn Neonazis auf die Straße gehen, findet sich garantiert ein „zivilgesellschaftliches“ Bündnis, das dagegen demonstriert. Die gleiche „Zivilgesellschaft“ ist allerdings jederzeit bereit und in der Lage, selbst gegen Israel mobil zu machen – mit Argumenten, die von denen der Neonazis kaum bis gar nicht zu unterscheiden sind. Und sie schweigt entweder oder läuft gleich mit, wenn Islamisten zu Zehntausenden von einem „Holocaust im Gazastreifen“ schwadronieren, wie es während der israelischen Militärschläge gegen die Hamas zu Beginn dieses Jahres geschehen ist. Sie bleibt stumm oder findet es sogar irgendwo verständlich, wenn jüdische Schüler in Berlin von muslimischen Mitschülern drangsaliert, beleidigt und geschlagen werden; schließlich ist das ja immer noch ein – bloß etwas verunglückter – Protest gegen Israel.

Insbesondere die Kombination aus islamischem und linkem Antisemitismus hat es in sich – eine Kombination, die auch auf institutioneller Ebene ihre Entsprechung findet, wie zuletzt der vom UN-Menschenrechtsrat in Auftrag gegebene Goldstone-Bericht zeigte: Im Rat dominieren die Autokratien, vor allem die islamischen – und genau die hatten eine Untersuchung in Auftrag gegeben, deren Ausarbeitung de facto auf das Konto linker NGOs ging. Und was im Makrokosmos funktioniert, glückt im Mikrokosmos erst recht, beispielsweise, wenn in Hamburg eine Abordnung von „Internationalisten“ und „Antiimperialisten“ mit Gewalt die Aufführung eines pro-israelischen Films verhindert. Es ist nicht nur die Maxime „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, die dabei das linke Handeln bestimmt, sondern ein originärer Judenhass, der in der obsessiven Abneigung gegenüber Israel und in der damit verbundenen Unterstützung vernichtungswütiger Islamisten seinen, sagen wir, zeitgemäßen Ausdruck findet. Dem Hautgout der nationalsozialistischen Vernichtungslager weichen die Adepten dieses Judenhasses dabei unter Berufung auf ihre „antirassistische“ Gesinnung aus, die gleichwohl nicht mehr ist als ein erbärmlicher Kulturrelativismus, im dem die Juden genauso das „Anti-Volk“ sind wie im Rassenantisemitismus der Alt- und Neonazis.

Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass in den deutschen Medien so gut wie nichts über die Rede zu lesen war, die der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, Gabi Ashkenazi, vorgestern am Holocaustmahnmal auf dem Bahnhof Berlin-Grunewald hielt. Ashkenazi sagte unter anderem: „An diesem Ort – von dem unsere Brüder und Schwestern zu den Gaskammern deportiert wurden, einzig aus dem Grund, dass sie Juden waren – rufen wir aufrechten Hauptes allen Hassern, Leugnern und Böswilligen zu: Wir sind da! Das israelische Volk ist in seinem Land wieder auferstanden und hat sich regeneriert. Es verlangt nach Unabhängigkeit und Sicherheit.“ Als Konsequenz aus der Shoa den jüdischen Staat zu verteidigen – das fällt der „Zivilgesellschaft“ hierzulande bei allen treuherzigen Solidaritätsschwüren gegenüber Israel dann doch nicht ein. Lieber packelt sie verständnisinnig mit dessen Feinden und schleudert den Israelis ein beherztes „Nie wieder Krieg!“ entgegen, ermahnt sie also fürsorglich, aus Auschwitz doch bitte die richtigen, das heißt deutschen Lehren zu ziehen. Die nächste Gelegenheit dazu, den Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November, wird diesbezüglich garantiert nicht ungenutzt verstreichen.

Zum Foto: „Israel ist der Krebs, der Djihad ist die Antwort“. Antisemitische Demonstration in London, Januar 2009.