19.3.06

Big Shots zum Hundertsten

Vor 100 Jahren wurde das American Jewish Committee (AJC) gegründet. Eine angemessene Würdigung der Berliner Dependance erledigt David Balfour. Lizas Welt bedankt sich für den Gastbeitrag.


Big Shots
Balfour’s New Declaration

Max Horkheimer adelte in Ernst Simmels 1946 erschienenem Sammelband zum Antisemitismus das American Jewish Committee zur „herausragendsten jüdischen Widerstandsorganisation“. Der Band war Ergebnis einer zweitägigen Konferenz im Mai 1944 in New York, bei der auf Einladung des AJC über Probleme der Antisemitismus-Forschung diskutiert wurde; er ist ein bedeutendes Dokument der vom AJC unterstützten Zusammenarbeit von Psychoanalytikern und Gesellschaftstheoretikern.

Als kurze Zeit später die fünfbändige Buchreihe Studies in Prejudice bei Harper and Brothers in New York erschien, herausgegeben von Max Horkheimer und Samuel Flowerman, fand sich einleitend der Hinweis, dass auch diese Studien der in die Emigration geflüchteten Kritischen Theoretiker vom American Jewish Committee finanziert wurden. Die umfassenden Arbeiten zum Antisemitismus wurden von Horkheimer, inzwischen Leiter der Forschungsabteilung des AJC, organisiert; Theodor W. Adorno leitete zusammen mit dem Psychologen Nevitt R. Sandord von Berkeley aus die Untersuchungen. Nicht zuletzt der Teilband The Authoritarian Personality, also die Studien zum autoritären Charakter, avancierten alsbald zum Klassiker der soziologischen Literatur. Auf diese Zeit zurückblickend, formulierte Adorno:
„Horkheimer übernahm 1945 die Leitung der Research-Abteilung des American Jewish Committee in New York und ermöglichte damit, dass die wissenschaftlichen Ressourcen der Berkeleygruppe und unseres Instituts ‚gepooled’ wurden, und dass wir über Jahre hin umfangreiche Forschungen durchführen konnten, die sich an gemeinsame theoretische Reflexionen anschlossen.“
Die Nähe zu kritischer Gesellschaftsanalyse und parteilicher Intervention wurde bereits zu Zeiten der Gründung des AJC vorausbestimmt, als das Committee sich 1906 – unter dem Eindruck der russischen Pogrome – zur Verteidigung der Rechte der Juden in aller Welt formierte. Zunächst nur aus einigen Dutzend amerikanischen Bürgern bestehend, sorgte es sich vorrangig um die Erleichterung der Einwanderung in die USA, später bemühte man sich um Garantien für jüdische Minderheiten weltweit. Das AJC begegnete den im Aufstieg begriffenen deutschen Nationalsozialisten anfangs zwar noch mit Appeasement; zu erinnern ist daran, dass die USA ein Olympia unterm Hakenkreuz nicht zuletzt aufgrund der für gewichtig gehaltenen (Fehl-) Einschätzungen des Committees nicht boykottieren wollten. Doch in den 1940er Jahren änderte sich der Kurs, man half aktiv deutschen und österreichischen, später auch russischen Juden bei der Emigration, man förderte durch empirische Sozialforschung gestützte politisch-pädagogische Kampagnen gegen den Antisemitismus und stärkte die Kritik als Praxis des durch Adorno benannten kategorischen Imperativs, sein „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, durch die Kooperation mit den Kritischen Theoretikern.

An diese Tradition erinnerte jüngst die Leiterin des Berliner Büros des AJC, Deidre Berger, als sie die Grenzen der Möglichkeiten politischer Interventionen im Sinne klassischer Aufklärung beschrieb. Beim vor allen von Pädagogen besuchten AJC-Round-Table rekurrierte sie auf die mit Unterstützung des AJC entstandenen Arbeiten der Kritischen Theorie:
„Wir wissen von Ernst Simmel, dass ein Appell an die Vernunft zur Verteidigung der Juden keinerlei Nutzen bringt. Dies müssen Lehrer, Dozenten, Sozialarbeiter, kurz alle, die als Pädagogen gegen Antisemitismus wirken wollen, kritisch reflektieren. Und erst recht müssen wir uns fragen, ob die Praxis der deutschen Holocaust-Education nicht gerade dazu führt, den Antisemitismus als historisches Phänomen zu erledigen, während sich im Furor gegen Israel das gute Gewissen linker wie rechter ‚Antizionisten’ explizieren kann. Vielmehr müssen wir doch von der Annahme ausgehen, dass der Antisemitismus die Manifestation eines pathologischen seelischen Prozesses sein müsse und dass dieser Prozess unter den derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen zu einem Zerfall der Gesellschaft und zur Vernichtung der Antisemiten selbst führe. Nicht allein um das Erheischen von Mitleid mit Anne Frank kann es uns gehen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Antisemitismus – wie es Max Horkheimer formulierte – nur die Speerspitze ist, die noch immer auf das zielt, was von der westlichen Kultur übrig geblieben ist. Ein bloßer Appell an den bewussten Geist genügt nicht, weil Antisemitismus und Anfälligkeit für antisemitische Propaganda dem Unbewussten entspringen.“
Gerade in diesem Jahr, in dem nicht nur der 100. Geburtstag des AJC, sondern auch der 150. Geburtstag des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, begangen wird, sollte, so Deidre Berger, bewusst gemacht werden, dass politischer Aktionismus und gesellschaftswissenschaftlicher Positivismus die stumpfen Schneiden eines verrostenden Schwertes sind:
„Noch einmal möchte ich die Worte von Ernst Simmel, dem Psychoanalytiker und Freund Sigmund Freuds aufgreifen: Der Antisemitismus bedeutet nicht nur eine Gefahr für die Juden. Er ist auch eine Gefahr für dieses Land. Mehr noch, er ist eine Gefahr für die gesamte Zivilisation.“
Dieser Erkenntnis, die zu oft schon in Sonntagsreden banalisiert wurde, ohne dass politische Konsequenzen daraus folgten, müsse man gerade dann gerecht werden, wenn der Antisemitismus sich in Form des Antizionismus einen neuen Mantel sucht, wenn die alten Ressentiments neu codiert werden. Dem versuche das Berliner Büro des AJC auf vielfältige Weise gerecht zu werden. So kritisierte Maren Qualmann, Special Assistent beim Berliner AJC, jüngst auf einer wissenschaftlichen Konferenz problematische Tendenzen in der deutschen Antisemitismusforschung, die hinter internationale Standards zurückgefallen sei:
„Die deutsche Antisemitismusforschung droht zu Legitimationswissenschaft zu werden: Zum einen, weil sie zu oft nur Rückschau auf die Zeit bis 1945 nimmt, so als wäre – um einmal zynisch zu überspitzen – mit Auschwitz die Judenfrage tatsächlich gelöst worden, zum anderen, weil sie kontemporären Antisemitismus beinahe nur im Ausland, kaum aber in Deutschland selbst wahrnehmen will. Das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung beispielsweise täte also gut daran, mit dieser Fokussierung, die zeitlich oder räumlich vom Deutschland des Jahres 2006 absehen will, Schluss zu machen. Denn hier wird recht absichtsvoll über die spezifisch neu-deutschen Codierungen im Gefolge des sekundären Antisemitismus sowie über die international evidenten pathisch-antisemitischen Projektionen auf Israel, die auch hierzulande zum kollektiven Problem geworden sind, hinweggesehen. Damit findet in der Konsequenz deren Legitimierung statt. Ebenso problematisch ist die Verharmlosung des linken und des islamischen Antisemitismus, die in den Elaboraten von Klaus Holz vom Evangelischen Studienwerk Villigst und seinen linken und antizionistischen Parteigängern betrieben wird. Das Ende eines kritischen Begriffs des Antisemitismus ist dort evident, wo stets nur von Rechtsradikalen und stets nur von Auschwitz die Rede ist, so als wäre nicht auch außerhalb rechtsradikaler Zirkel und nicht auch jenseits des Massenmordes Judenhass erkennbar.“
Derart deutliche Worte sind selten, doch versteht sich das Berliner AJC nicht als diplomatische Vertretung, sondern als Anwalt einer politischen Agenda, die dem erwähnten kategorischen Imperativ verpflichtet ist. Dies erklärte Deidre Berger gegenüber dem Internetmagazin Die Jüdische wie folgt:
„Dies ist das Problem der Diplomatie: Im Hause des Henkers sollte man vom Strick schweigen. Damit ist gemeint, dass man in bestimmten Kreisen nur dann zugelassen wird, wenn man bestimmte Themen oder zumindest bestimmte Positionen ausblendet. Natürlich kann man sich eine ganze Weile einreden, man würde sich in diesen Kreisen nur deshalb so diplomatisch verhalten, weil man noch auf den richtigen Moment für die entschiedene Intervention wartet. Doch seien wir ehrlich: Jeder Moment wäre dem Diplomaten der falsche. Und deshalb ist uns im wohlverstandenen Sinne der Kritik jeder Moment der richtige. Denn wenn wir zwar im politischen Establishment Berlins zugelassen würden, aber doch nur glauben schweigen zu müssen, dann ist unsere Zulassung nicht allein unnütz, sondern gar kontraproduktiv, sieht man uns doch als Jews on Demand. Henryk M. Broder würde uns dann zu Recht als rückgratlose Gummibärchen bezeichnen, die jedem nach dem Mund reden, der uns zu einem Lunch einlädt.“
Ferner betonte Deidre Berger, dass Kritik zum Wesen der Demokratie gehöre und man mit einem entschiedenen Auftreten durchaus an Achtung und Reputation gewinnen könne, ja dieses allein die Voraussetzung für die Durchsetzung politischer Interessen wäre, wohingegen man durch Appeasement nur den Übermut seiner politischen Gegner befördere.

Diese Reputation nutzte das Berliner AJC beispielsweise in der Auseinandersetzung mit der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb). Jahrelang war man Kooperationspartner dieser staatlichen Bildungsanstalt, doch trübten 2005 verschiedene Ereignisse das gute Verhältnis. Zum einen brachte die Bundeszentrale das heftig kritisierte Judenmörderdrama Paradise Now, begleitet von einem antiisraelischen Filmheft, an deutsche Schulen. Dann unterstützte sie das Kunstprojekt Antifaschismus Freizeitpark, bei dem „Lachgaskammern“, „Dekonzentrationslager“ und „Aschenputtelduschen“ die Gäste „mitschuldig“ machen sollten. Spätestens aber als bekannt wurde, dass mit Ludwig Watzal ein Vertreter der Bundeszentrale quasi nebenberuflich wiederholt Artikel auf einer pro-terroristischen Webseite, der antiimperialista.com veröffentlichte, war es dem Berliner AJC zu viel der Fauxpas’. Zunächst suchte man noch das Gespräch mit dem Leiter der Bundeszentrale, Thomas Krüger. Als dieser sich uneinsichtig zeigte, forderte das AJC auf einer eigens organisierten Diskussionsveranstaltung ultimativ die Entlassung Ludwig Watzals aus dem öffentlichen politischen Amt sowie die Rücknahme des Films Paradise Now aus den Schulen. Auf einer nachfolgenden Veranstaltung mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, an der auch Wolfgang Schäuble teilnahm, wurden zudem Zweifel an der politischen Kompetenz von Thomas Krüger geäußert. Mit dem Regierungswechsel im Herbst des letzten Jahres wurde Krüger dann von Innenminister Schäuble öffentlich scharf gerügt. Paradise Now wurde aus den Schulen zurückgezogen. Stattdessen wurden die Filme Der Tag, an dem ich ins Paradies wollte von Esther Schapira über einen gescheiterten palästinensischen Suicide Bomber sowie Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß von Iva Švarcová und Malte Ludin über die Gegenwart der Vergangenheit in einer deutschen Familie ins Programm genommen. Ludwig Watzal wurde gekündigt, trotzdem er mit einem langwierigen arbeitsrechtlichen Prozess drohte. Thomas Krüger, inzwischen von der vehementen Kritik, die auch ihn in Frage zu stellen drohte, zu neuen Erkenntnissen verleitet, sieht diesem Prozess inzwischen gelassen entgegen:
„Es kann nicht sein, dass eine staatliche Behörde mit politischen Bildungsauftrag jemanden beschäftigt, der mit seiner Nähe zu linksextremistischen und pro-terroristischen Gruppen sowie mit seinen antiisraelischen Positionen sich deutlich außerhalb des politischen Konsens’ dieser Behörde bewegt. Ich stehe für politischen Pluralismus, aber nicht für politische Beliebigkeit. Die Enttabuisierung und Enthemmung der öffentlichen Diskurse wird von mir nicht mitgetragen, da doch sonst unsere Verantwortung, sich gegen jedwede Delegitimierung und Dämonisierung Israels zu wenden, unterminiert würde. Nicht zu vergessen ist, dass wir als Bundeszentrale maßgeblich die politische Bildung und damit die demokratische Kultur der Heranwachsenden prägen. Bei dieser Aufgabe kann uns ein Ludwig Watzal wohl kaum behilflich sein. Für den Kurs meiner Behörde einen arbeitsrechtlichen Prozess in Kauf zu nehmen, ist auch Ausdruck der politischen Entschlossenheit und vermag durchaus öffentliche Ausstrahlungskraft zu entfalten.“
Deidre Berger bezeichnete die gelungene Intervention bezüglich der Bundeszentrale für Politische Bildung als Erfolg einer Aufgabenteilung und Kooperation mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren, ohne deren Unterstützung die Kurskorrektur der Bundeszentrale kaum möglich gewesen wäre.

Auch als Watzal gegen Lars Rensmann vom Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum juristisch vorgehen wollte, da er sich in Rensmanns breit rezipierter Dissertation Demokratie und Judenbild falsch dargestellt fühlte, bezeichnete es Deidre Berger als Selbstverständlichkeit, Rensmann mit politischer und anwaltlicher Unterstützung beizustehen, nicht nur, weil dieser seit Jahren ein enger und geschätzter Partner des Berliner AJC sei, sondern auch, weil sie ihre Aufgabe als American Jewish Committee in Deutschland in einer umfassenden Unterstützung politischer, akademischer und zivilgesellschaftlicher Akteure verstehe. Dazu Deidre Berger im Gespräch mit dem Internetmagazin Die Jüdische:
„Wir wollen dies nicht als Hegemoniebestreben über die NGOs verstanden wissen. Unsere politische Kultur ist nicht von Hierarchien und Autoritäten geprägt. Wir verstehen uns vielmehr als Dienstleister gegenüber den Akteuren, denen es oft an den nötigen materiellen und infrastrukturellen Voraussetzungen mangelt, die aber die politische Kompetenz und das persönliche Engagement mitbringen, in Deutschland entschieden gegen Antisemitismus und Antizionismus zu wirken. So, wie wir in unserem Büro unter den Mitarbeitern einen antiautoritären, diskursiven Stil pflegen, und damit eine hohe personelle Kontinuität, kollegiale Arbeitsatmosphäre und wachsende Professionalität sicherstellen, so pflegen wir diesen Stil auch gegenüber unseren Partnern.“
Während die amerikanische Anti-Defamation League (ADL) oder das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) die Arbeit des AJC in Berlin als „oft zu wenig diplomatisch“ kritisieren, sehen dies die deutschen Partner gerade als Vorteil. Es stünden nicht „Big Shots“, sondern „Hot Topics“ im Vordergrund.

Diese „heißen Themen“ versucht das American Jewish Committee auch auf internationalen Konferenzen zu platzieren. Dazu habe man sehr gute Beziehungen zu Gert Weisskirchen aufgebaut, dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion sowie persönlichen Beauftragten des OSZE-Vorsitzenden zur Bekämpfung des Antisemitismus. Dieses Verhältnis ist durchaus spannungsreich, wie Deidre Berger zu berichten weiß:
„International hat sich ein Konferenzzirkus entwickelt, der sich mit Judenhass, Fremdenfeindlichkeit und allen anderen Übeln dieser Welt beinahe im Wochentakt beschäftigt. Immer wieder die gleichen Teilnehmer, die gleichen Reden, die gleichen Thesen. Wir erwarten daher von Prof. Weisskirchen in seinen herausragenden Ämtern endlich ein Drängen auf Verbindlichkeit. Was nützt es, wenn Prof. Weisskirchen uns gegenüber den holistischen Ansatz ablehnt, der erst Antisemitismus und Rassismus gleichstellt, um sich dann vorrangig den angeblichen antimuslimischen und antichristlichen Vorurteilen zu widmen, wenn er diese Ansicht nicht auch in seinen öffentlichen Ämtern vertritt? Wir machen unsere vielfältige Unterstützung für Prof. Weisskirchen sehr wohl davon abhängig, ob seinen Reden auch Taten folgen. Glaubwürdigkeit würde der persönliche Beauftragte des OSZE-Vorsitzenden dann erlangen, wenn er – nehmen wir einmal die Causa Watzal – die Probleme nicht ständig internationalisieren und zum Experten- und Konferenzthema erklären, sondern durchaus national als eigene Herausforderung begreifen würde. Hier werden wir als AJC in Zukunft deutlicher unsere Erwartungshaltung formulieren.“
Sergey Lagodinsky, bis Februar 2006 Programm-Direktor des Berliner AJC und nunmehr externer Special Advisor, spricht in der Bilanz seiner Arbeit davon, dass auch die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren nicht Kritiklosigkeit bedeuten darf:
„Es hat uns schon sehr geärgert, als ausgerechnet die von uns so geförderte Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus eine Veranstaltung zur sogenannten Islamophobie durchführte, und dabei das Thema nicht hinreichend durchdrungen wurde. So wäre es überaus hilfreich gewesen, hätte man darauf verwiesen, dass es sich vor allem um einen politischen Kampfbegriff handelt, der dazu verwendet wird, Kritik am politischen Islam unmöglich zu machen. Die Tendenz nationaler Symposien wie internationaler Konferenzen bis hin zur OSZE und UNO ist doch erschreckend, da dort zunehmend von Islamophobie als dem neuen Antisemitismus und Muslimen als den neuen Juden gesprochen wird. Hier ist wieder die fortgesetzte Täter-Opfer-Umkehr feststellbar, wenn wir uns die antisemitischen Selbstmordattentate von Palästinensern gegen Israelis ansehen oder auch die antisemitische Motivation des Elften September betrachten. Muslime werden auch deshalb als Opfer halluziniert, um so manches Morden im Namen Allahs als angeblich legitimen Widerstand zu rationalisieren. Dies aber wurde von den Freunden der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus nur unzureichend reflektiert.“
Ein weiterer Pfeiler des AJC ist die Kooperation mit Deutschlands politischen Stiftungen. Diese begann 1980 mit dem ersten Austauschprogramm von AJC und Konrad-Adenauer-Stiftung. Es folgten Projekte mit der Friedrich-Ebert-, der Friedrich-Naumann- und der Heinrich-Böll-Stiftung. Als aber die Friedrich-Ebert-Stiftung sich Anfang 2004 in Beirut mit der Hisbollah traf und die Heinrich-Böll-Stiftung wiederholt Referenten zu ihren Veranstaltungen lud, die eine Nähe zu antiamerikanischen und antiisraelischen Positionen erkennen ließen, äußerte sich das Berliner AJC zunehmend skeptisch. So meinte Sergey Lagodinsky, dass die gemeinsamen Veranstaltungen, die gemeinsam verfassten Papiere und Forderungskataloge im Lichte dieser Vorkommnisse einen unangenehmen Beigeschmack bekämen. Man müsse sich kritisch fragen, ob man sich als Alibi hat ausnutzen lassen, während parallel höchst kontraproduktive politische Aktivitäten der Stiftungen lanciert wurden. Insbesondere das Stiftungswesen im Nahen Osten, welches Lagodinsky schon mal als „Stiftungsunwesen“ überzeichnet, müsse genau beobachtet werden. Daher sei es ratsam, so der Special Advisor des AJC, eine gewisse kritische Distanz zu wahren. Lagodinsky, der dieser Tage seine Promotion beginnt, hat aus eben jenem Grunde ein Fellowship für Internationales Recht der Heinrich-Böll-Stiftung abgelehnt, dies gebiete der politische Anstand.

Das tiefe Vertrauen in die deutsche Demokratie, das sich auf jahrzehntelange freundschaftliche Kooperation und positive Erfahrungen stützte, erlaubte es dem AJC nach eigenem Bekunden, als einzige amerikanisch-jüdische Organisation 1989 öffentlich die deutsche Wiedervereinigung zu unterstützen. Heute sieht dies Rabbiner Andrew Baker, AJC’s Director of International Jewish Affairs, nüchterner:
„Vielleicht war unsere Haltung damals etwas zu optimistisch und zu affirmativ. Unser Vertrauen war ein Vertrauensvorschuss und wurde immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Wir haben unser Büro in Berlin 1998 nicht zuletzt deshalb installiert, weil wir in der deutschen Öffentlichkeit zu intervenieren gedachten. Es war uns daher stets wichtig, beispielsweise Persönlichkeiten wie Alan Dershowitz und Robert Wistrich in Berlin zu präsentieren. Ihre Positionen sind sicher ein wichtiger Impuls für die innerdeutschen Debatten.“
Das American Jewish Committee hat mit dem Berliner Büro eine Vertretung, deren politische Agenda nicht konform geht mit den deutschen und europäischen Entwicklungen, die sich vielmehr als entschiedene politische Intervention versteht. So fasst Deidre Berger dies auch treffend zusammen, wenn sie darauf verweist, dass man Diplomatie nicht mit Appeasement verwechseln dürfe. Und oft, so die Berliner Büro-Leiterin, sei auch Diplomatie fehl am Platze, wo doch vor allem Kritik und Konflikt das Wesen demokratischer Verfasstheit ausmachten. Die Deutschen müssten, so Deidre Berger, den Wert von Kritik und Konflikt noch besser schätzen lernen.

Post Scriptum: Der Hoffnung, die sich dem geneigten Leser entwickelt haben mag, diese Würdigung des AJC hätte etwas mit der Realität zu tun, ist leider vergeblich. Abgesehen von den Verweisen auf die einstige Unterstützung des AJC für die Kritische Theorie in den 1940er Jahren ist alles nur Fiktion. Wollen Sie die Wirklichkeit des Berliner AJC erfahren, lassen Sie sich doch auf einen der Sektempfänge zum 100. Geburtstag einladen. Gehen Sie nur hin, geben Sie Claudia Roth hier und Thomas Krüger dort ein Küsschen, lassen Sie sich den Rücken von lieben Politikermitmenschen streicheln, trinken Sie ein Gläschen – und wenn Sie eine Kamera sehen, dann schauen Sie einfach einen Moment lang grimmig und sagen Sie den Satz, der immer richtig ist: „Antisemitismus ist schlimm!“ Entspannen Sie wieder die Gesichtsmuskulatur, bevor Sie sich am Büffet die Häppchen schmecken lassen. Ach ja: Und grüßen Sie ganz lieb!

David Balfour