10.3.06

Die weiße Fahne

Eigentlich hatte das türkische Parlament im Jahre 2003 ja endlich beschlossen, die gesetzlichen Strafminderungen für so genannte Ehrenmorde – die bis dato nicht selten allenfalls mit kurzen Gefängnisaufenthalten abgegolten wurden – abzuschaffen. Sein Mitglied Emin Sirin etwa begründete diesen überfälligen Schritt damals so: „Die meisten Gesetze stammen noch aus den frühen Tagen der Republik und standen unter dem Einfluss der Traditionen. Vor allem in den kleinen Dörfern im Südosten des Landes haben Traditionen denselben Stellenwert wie Gesetze. Es ist jetzt an der Zeit, das zu ändern. Man kann nicht einen Mord mit Traditionen und mit Ehre entschuldigen. Ein Mord ist ein Mord.“ Doch nun ging diese Meldung diverser Nachrichtenagenturen durch die Presse:
„Ein türkisches Gericht hat im Fall der 2002 gesteinigten Semse Allak reduzierte Haftstrafen gegen zwei Cousins und einen Bruder des Opfers verhängt. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi am Samstag meldete, verurteilte das Gericht in Mardin im Südosten der Türkei den Bruder am Freitagabend zunächst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Tötung seiner Schwester und zu 27 Jahren wegen Tötung ihres Geliebten. Die Strafe wurde dann wegen der guten Führung des Angeklagten vor Gericht und der Tatsache, dass er zu seiner Tat provoziert worden sei, in 20 Jahre und acht Monate Haft umgewandelt. Die zunächst ebenfalls höheren Haftstrafen der beiden Cousins wurden auf 17 Jahre und sechs Monate beziehungsweise zwölfeinhalb Jahre verringert. Fünf weitere angeklagte Männer wurden wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.“
Um die volle Bedeutung dieser Entscheidung ermessen zu können, eine kurze Rückblende. Semse Allak – eine 35 Jahre alte, ledige Frau, die im anatolischen Mardin lebte – war von ihrem 55-jährigen Nachbarn geschwängert worden. Nach dem, was der eingangs zitierte Parlamentarier Tradition nennt, war dadurch die Ehre ihrer Familie beschmutzt worden; Semse wurde des Ehebruchs bezichtigt – es spielte dabei keine Rolle, dass ihre Schwangerschaft ganz und gar keine freiwillige Sache war, sondern der Nachbar sie vergewaltigt hatte: Die Frau war unrein geworden, damit waren auch alle ihre männlichen Angehörigen entehrt. Gereinigt werden kann die Familienehre nur durch die Tötung der unreinen Frau; die Vollstreckung verkünden die Angehörigen, indem sie eine weiße Fahne hissen.

Um ihrer Ermordung zu entgehen, willigte Semse Allak ein, als ihr Vergewaltiger sie zur Zweitfrau nehmen wollte. Doch ihren Bruder und die beiden Cousins hielt das nicht davon ab, mit Steinen und Messern über sie herzufallen. Weil der Nachbar das verhindern wollte, wurde er erschlagen. Semse Allak überlebte ihre Steinigung – mit zertrümmertem Kopf und weiteren schwersten Verletzungen; sie fiel ins Koma. Aktivistinnen der Frauengruppe Ka-mer mit Sitz in Diyabakir wachten Tag und Nacht an ihrem Krankenbett, um zu verhindern, dass Familienmitglieder ihre Tat vollenden können: Zwar wurden Semses Vater und die drei unmittelbar an dem Mordversuch Beteiligten sofort festgenommen, doch weitere männliche Verwandte belagerten das Krankenhaus, um Semse den Todesstoß zu versetzen. Das Baby starb in ihrem Bauch, und im Juni 2003 erlag Semse Allak schließlich ihren Verletzungen. Doch damit immer noch nicht genug: Das Opfer dieses Ehrenmordes sollte in einem anonymen Grab bestattet werden; Semses Familie hatte den örtlichen Behörden den Leichnam überlassen und wollte, wie das ganze Dorf, mit dem Begräbnis nichts zu tun haben. Ka-mer-Mitarbeiterinnen gaben ihr schließlich das letzte Geleit.

Nach dem Tod von Semse Allak erhöhte sich der Druck auf das türkische Parlament, geeignete Maßnahmen zu verabschieden, zumal Organisationen wie Ka-mer politische Unterstützung und finanzielle Hilfe jetzt auch von prominenter Seite erhielten, etwa durch die damalige schwedische Außenministerin Anna Lindh. Mit der letztjährigen Strafrechtsreform wurde die nun angestrebte Null-Toleranz-Linie des türkischen Staates eigentlich sogar noch einmal bekräftigt. Doch die Gerichtspraxis sieht ganz offensichtlich anders aus. Hohe Haftstrafen für die Mörder von Semse hätten ein deutliches Zeichen setzen können, dass Ehrenmorde und ähnliche Verbrechen nicht mehr als Folklore verharmlost, sondern als kriminelle Handlung geahndet werden. Mit der – unmittelbar im Anschluss an die Urteilsverkündung folgenden! – Verringerung der Dauer des Gefängnisaufenthalts für die Täter und der ungeheuerlichen Begründung, diese seien schließlich zuvor von ihrem Opfer provoziert worden, erfolgte jedoch eine erhebliche Konzession an die widerwärtige Motivation für dieses Tötungsritual. Da es in der Türkei in regelmäßigen Abständen zu Amnestien kommt, können die Verurteilten außerdem damit rechnen, schon in einigen Jahren frei gelassen zu werden.

Ein Bericht des türkischen Parlamentsausschusses zeigt darüber hinaus, dass viele Türken Verständnis für Verbrechen wie dem an Semse Allak haben. Laut einer Meinungsumfrage in der kurdischen Stadt Diyarbakir äußerten 37 Prozent der Befragten die Ansicht, es sei rechtens, eine Frau, die eine außereheliche Beziehung habe, zu töten. Weitere 30 Prozent begrüßten Strafen wie „Nase verstümmeln“ oder „Ohren abschneiden“. 64 Prozent befürworteten Selbstjustiz: Es sei das gute Recht des Ehemanns, über die Bestrafung einer untreu gewordenen Frau zu entscheiden – und die Strafe auch selbst zu vollstrecken.

Eine wahre Glanzleistung vollbrachten übrigens die Agenturen, die über das Gerichtsurteil berichteten (und die Medien, die die entsprechende Meldung übernahmen). Zu den Hintergründen hieß es nämlich: „Die 35-jährige Semse Allak [...] war mit Steinigung bestraft worden, weil sie eine ‚verbotene Beziehung’ zu einem Nachbarn eingegangen war und schwanger wurde.“ So wird aus einer Vergewaltigung, die das Opfer im Handumdrehen auch noch zum Schuldigen macht und es seinem Todesurteil aussetzt, eine freiwillige Liaison zwischen einer ledigen Frau und einem verheirateten Mann. Ein skandalöser und unverzeihlicher Fehler – ungeachtet der Tatsache, dass auch Semses Peiniger von ihrem Bruder und ihren Cousins umgebracht wurde.