24.7.06

Prantls Praxis

„Der pazifistische Impuls, den der jüngste israelische Abwehrkrieg in Deutschland und Europa mobilisierte, ist unüberlegt oder verlogen, in jedem Fall aber kontraproduktiv, provoziert er doch in seiner Konsequenz lediglich die noch schlimmere Schlacht“, befand der Publizist Matthias Küntzel in einem Kommentar. Im Grunde genommen hat er damit Recht – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese „schlimmere Schlacht“ auch tatsächlich als eine solche begriffen wird und nicht als eine, die der (un-) heimlichen Sehnsucht der Pazifisten in Politik, Medien und auf der Straße entspricht: der Sehnsucht nach einem Ende des jüdischen Staates. „In dem Vorwurf, die Militäraktionen Israels seien unverhältnismäßig, können sich heutzutage die alten Mordfantasien am besten verbergen. Die Rettung von Jüdinnen und Juden galt hierzulande immer schon als unverhältnismäßig“, brachte Café Critique auf den Punkt, wie das antijüdische Ressentiment auf der Höhe der Zeit aussieht, zumal in Deutschland. „Wie weit darf Israel gehen?“, gab beispielsweise Sabine Christiansen gestern Abend in einer weiteren Folge ihrer unerträglichen Talkshow das Unschuldslamm – und blieb wie selbstverständlich die Antwort schuldig, als Josef Tommy Lapid, ehemaliger israelischer Justizminister, in seinem ersten Statement in dieser Sendung die nur allzu nahe liegende Gegenfrage stellte: „Warum heißt das Thema dieser Sendung eigentlich nicht: Wie weit darf die Hizbollah gehen? Oder die Hamas?“

Doch darum geht es hierzulande einfach nicht, denn auf der Agenda steht etwas ganz anderes: Etwas, das Heribert Prantl in seinem heutigen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung – Linksliberaler und geachteter Journalist, der er ist – so formuliert: „Bomben auf Beirut, Krieg im Gaza-Streifen, Hunderttausende auf der Flucht. Welche und wie viel Israel-Kritik ist in diesen Tagen in Deutschland erlaubt?“ Sein Beitrag ist mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ überschrieben – eine bloße Koketterie, wie Prantl gleich zu Beginn versichert:
„Die Überschrift dieses Artikels ist antisemitisch. Sie findet sich, als Chiffre für Rachsucht und Vergeltung, Hochmut und Vernichtungswut, in jedem zweiten bösen Kommentar gegen Israel – ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’. Diese Regel steht im Alten Testament, und wer diesen Satz zur Erklärung der Situation im Südlibanon oder im Westjordanland gebraucht, unterstellt damit eine jüdische Mentalität, die von Moses bis Ehud Olmert reicht. Der biblische Satz wird so zur Formel für einen angeblich religiös-genetischen Defekt; und aus der Formel wird ein politisches Deutungsmuster dergestalt: ‚... so steht es im Alten jüdischen Testament, und so praktizieren es die Israelis.’“
Der Süddeutsche hat seine Lektion gelernt. „Welche und wie viel Israel-Kritik ist in diesen Tagen in Deutschland erlaubt?“, fragt er im Vorspann, ohne im weiteren Verlauf näher auszuführen, wer es denn eigentlich sein soll, der verfügen könnte, was denn nicht mehr „erlaubt“ ist. Es ist ein, nein: der taktische Trick par excellence aus dem Repertoire des modernen Antisemitismus. Denn „Israel-Kritik“ verbietet definitiv niemand – ganz im Gegenteil: Sie ist in Deutschland majoritär –, und dennoch glaubt eine Mehrheit, die sich als unterdrückte Minderheit wähnt, sehr genau zu wissen, welche Instanzen da aktiv werden: Der Zentralrat der Juden in Deutschland beispielsweise, die israelische Botschaft oder auch die jüdischen Gemeinden. Die Macht, die ihnen zugeschrieben wird, haben sie nicht, und dennoch halluziniert man Tabus, die niemand in die Welt gesetzt hat, um sie desto lustvoller brechen zu können. Auch Prantl tut das, nur stellt er sich ein bisschen geschickter an als die meisten seiner Landsleute, wenn er gleich im Anschluss großzügig konzediert, dass nun mal nicht alles gehe. Doch bevor die Fangemeinde aufhört zu lesen, bekommt sie ein Zückerchen verabreicht:
„Desaströse israelische Politik wird also als Ausfluss angeblich jüdischer Charaktereigenschaft verurteilt. Kritik solcher Art gibt es an den USA nicht, auch wenn die US-Regierung völkerrechtlich fast so jenseits von Gut und Böse agiert wie die israelische.“
Dass israelische Politik „desaströs“ und „jenseits von Gut und Böse“ ist, ist für Prantl ein unhintergehbares Faktum, ein Gemeinplatz, und gleich darauf folgt die nächste Lüge, die darin besteht, die Existenz eines Antiamerikanismus schlicht zu leugnen – und damit exakt diejenigen zu bedienen, die dieses Ressentiment hegen und pflegen und doch allen Ernstes der Ansicht sind, niemand außer ihnen – schon gar nicht „die da oben“ – traue sich, diesem kulturlosen und kriegsgeilen Pack mal so richtig die Meinung zu geigen. Flankiert wird das Ganze durch einen scheinbar nebensächlichen Verweis darauf, dass sich weder Israel noch die USA um das Völkerrecht scherten – ein Recht jedoch, das „die Kräfte, gegen die [Israel] vorgeht, [...] längst und ungezählte Male gebrochen haben, ungestraft von den internationalen Organisationen und nationalen Regierungen, die so viel vom Völkerrecht reden. Und so stellt die wirkliche Bedrohung Israels immer nur unter Beweis, dass dieses Recht nicht wirklich existiert“ (Café Critique). Unmittelbar darauf lässt der Kommentator wiederum eine vermeintliche Konzession an diejenigen folgen, die die „Israel-Kritik“ des Antisemitismus zeihen:
„Zahn um Zahn – die inflationäre (und falsche) Verwendung dieses Satzes (der eigentlich für die Verhältnismäßigkeit der Mittel plädiert) ist ein Beispiel dafür, wie Israel-Kritik sich auflädt, wie sie mit Stimulantien für negative Assoziationen arbeitet.“
Prantl hat durchaus nicht Unrecht, wenn er das biblische Zitat in seinen Kontext zurückführt und seinen falschen Gebrauch als Beleg für das antisemitische Stereotyp der „jüdischen Rachsucht“ bringt, auch wenn er das Wort Antisemitismus tunlichst zu vermeiden versucht ist und – Klientel ist Klientel – lieber umständlich von „Stimulantien für negative Assoziationen“ schreibt, so, als handle es sich dabei um ein beliebiges Vorurteil oder sogar nur um einen bösen Traum und nicht um ein mörderisches Ressentiment. Aber das muss er auch, denn seine Intention ist eine ganz andere: Es gilt, die vorgeblich bloß schwarzen Schafe auszusortieren, die einem prinzipiellen Bedürfnis schlechte Publicity verschaffen; gleichwohl läuft die Herde schon in die richtige Richtung:
„Derer bedarf man nicht, um Israels Aggression im Libanon zu kritisieren, die sich als Rekrutierungshilfe für die Hizbollah erweisen wird. Man darf, muss es beklagen, dass Israel sich seine Feinde selbst züchtet und zur Verewigung eines mörderischen Konflikts beiträgt. Gegen islamistischen Fanatismus hilft israelische Selbstfanatisierung nicht. Und das Recht auf Selbstverteidigung kann nicht dazu führen, internationale Regeln wie den Schutz der Zivilbevölkerung außer Kraft zu setzen.“
Der Kommentator kommt also zur Sache: Israel sei selbst schuld, weil es „sich seine Feinde selbst züchtet“, „zur Verewigung eines mörderischen Konflikts beiträgt“ und eine „Selbstfanatisierung“ betreibe. Demgemäß reagieren die Hizbollah und die Hamas also bloß auf israelisches „Unrecht“; Antisemitismus erscheint so als eine zwar vielleicht verwerfliche, aber doch irgendwo verständliche und letztlich legitime, weil rationale Antwort auf angeblich erlittene Erniedrigung – und nicht als Ausdruck eines irrationalen Wahns, der der Juden gar nicht bedarf. Der Vorwurf der „Verewigung eines mörderischen Konflikts“ wiederum gemahnt an Ahasver, den „Ewigen Juden“ – ein uraltes Klischee aus dem Arsenal des christlichen Antisemitismus. Und auf das Recht auf Selbstverteidigung könne Israel sich schon gleich gar nicht berufen, weil es ja den „Schutz der Zivilbevölkerung“ bekanntlich „außer Kraft“ gesetzt habe – gerade so, als sei es nicht die Hizbollah, die „mit ihrer extremistischen Djihad-Agenda nicht nur die beiden israelischen Soldaten gekidnappt [hat], sondern den Libanon und die ganze Region“ (Mark Regev, israelischer Regierungssprecher), sondern Israel selbst. Doch was stört’s den Baum, wenn die Sau sich an ihm reibt und man recht eigentlich doch allerbesten Willens ist:
„Solche Mahnung gehört zu der Solidarität mit Israel, wie sie der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert. Solidarität verlangt nicht ein ‚Ja und Amen’ zu Israels Politik in toto, wie das der Zentralrat gerne hätte, und schon gar kein ‚Bravo’, wie es sich der israelische Botschafter in Deutschland erwartet. Einen solchen Solidaritätszuschlag kann es nicht geben.“
Es ist kaum mehr als sechzig Jahre her, als man in Deutschland definierte, wer Jude ist. Heute definiert man hierzulande ganz selbstverständlich höchstselbst, wer Antisemit ist – und da exkulpiert man zunächst einmal 82 Millionen Deutsche, deren politische Vertretung schließlich dafür gesorgt hat, dass der größte Massenmord der Geschichte mit dem größten Mahnmal der Welt abgegolten wurde. Das lässt man sich von Zentralräten oder Botschaftern nicht klein reden. Mehr noch:
„In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland haben sich die Gewichte bei der Bewertung des Nahost-Konflikts dramatisch verschoben: Vor fast vierzig Jahren, im Sechs-Tage-Krieg, trieb die Angst um das bedrohte Israel die Menschen zu Sympathie-Demonstrationen auf die Straße. Von dieser Sympathie ist nicht viel übrig geblieben; daran ist nicht allein Antisemitismus schuld. Heute dominiert die pauschale Verurteilung Israels. Zur notwendigen Korrektur dieser Schieflage tragen Forderungen nach bedingungsloser Solidarität mit Israel nicht bei. Israel-Kritik ist geboten.“
Wenn der jüdische Staat Maßnahmen zu seinem Schutz ergreift, tut er das in dem Wissen, dass das nicht nur seinen Feinden missfällt, sondern auch denen, die sich als seine Freunde ausgeben, es aber nicht sind. Israel weiß, dass es sich im Zweifels-, das heißt Kriegsfall nur auf sich selbst verlassen kann, und die deutschen und europäischen Reaktionen bestätigen dieses Wissen – desto mehr, je überheblicher und oberlehrerhafter sie ausfallen:
„Solidarität mit Israel misst sich nicht an der Lautstärke von Kritik oder Beifall, sondern am deutschen und europäischen Beitrag zur Befriedung in Nahost. Praktische Solidarität wäre es, sich um einen Gefangenaustausch zu kümmern.“
Kurz: Die beste Hilfe für Israel wäre das Appeasement mit seinen Feinden, ginge es nach den Prantls dieser Welt. Gut, dass sie vorerst nur schreiben und leichten Herzens überlesen werden können.

Die Fotos entstammen einer antisemitischen „Demonstration gegen den israelischen Angriffskrieg auf den Libanon und im Gazastreifen“ in Berlin vom 21. Juli 2006, zu der „kurzfristig innerhalb von ein paar Tagen verschiedenste Gruppen und Zusammenhänge der linken Antikriegs- und Friedensbewegung und der palästinensischen Gemeinde sowie libanesische und arabische Vereine aufgerufen“ hatten, wie es bei Indymedia, dem linksdeutschen Intifada-Portal, formuliert wurde.