20.8.06

Einen Toast auf den Trost!

Am heutigen Sonntag wurde ein Anachronist sechzig Jahre alt – ein Anachronist, der selbst dann auf so etwas Altmodisches wie Vernunft und Aufklärung setzt, wenn längst das völlige Gegenteil auf der Agenda steht und sich täglich steigender Popularität erfreut. Das ist umso bemerkenswerter, als man an dem Wahnsinn ja durchaus selbst um den Verstand gebracht werden kann – und das nicht zum ersten Mal: „Um ein Haar wäre auch ich ein Terrorist geworden“, sagt Henryk M. Broder von sich selbst. Denn alle Voraussetzungen dafür seien gegeben gewesen:
„Meine Eltern hatten beide unter abenteuerlichen Umständen den Krieg überlebt, fielen sich nach der Befreiung in die Arme und setzten mich in die Welt. Sie waren in höchstem Maße traumatisiert, und ich diente ihnen als Beweis, dass es ein Leben nach dem Überleben geben konnte. Entsprechend waren ihre Erwartungen, die ich nicht erfüllen konnte. [...] Ich lief durch die Gegend und das Gefühl, das mich antrieb, war Wut: auf meine hysterischen Eltern, die blöden Pauker und auf meine Freunde, die sich meine Armstrong-Platten ausliehen und dann die Mädchen nach Hause brachten, mit denen ich zur Party gekommen war. [...] Warum ich trotz alledem nicht auf die Idee gekommen bin, Terrorist zu werden, kann ich mir rückblickend schwer erklären. [...] Ich wäre der idealtypische Amokläufer gewesen: Kind einer dysfunktionalen Familie, einsam, verzweifelt, frustriert und geladen wie ein Fass mit Dynamit auf der Bounty.“
Doch das Fass explodierte nicht; Broder lief nicht Amok. Denn Voraussetzungen sind keine Zwangsläufigkeiten, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht und nicht in individueller. Man muss nicht zur Irratio greifen, wenn die Ratio die Welt gerade unübersichtlich zu machen scheint und dadurch immer unpopulärer wird: Es verbleibt eine Entscheidungsfreiheit, die zu leugnen Determinismus wäre und Menschen erst recht zu Objekten, zu Spielbällen degradierte, die eines freien Willens gar nicht fähig seien, denen also jedes Selbstbewusstsein abgehe. Doch sie sind nicht bloß Opfer ihrer Verhältnisse – nicht das Millionenheer von Nazis, die sich, als alles vorbei war, darauf beriefen, einfach nicht anders gekonnt zu haben. Und nicht die Islamisten, deren mörderisches Tun mitnichten einer Verzweiflung folgt, wie es so gerne geglaubt und kolportiert wird, sondern vielmehr Teil ihrer Selbstberufung ist, der mehr denn je Einhalt geboten gehört. Oder, um es mit Broder zu sagen:
„Ich gebe zu, ich bin ein wenig neidisch auf die Terroristen. Nicht nur wegen der Aufmerksamkeit, die sie erfahren, sondern wegen der idealistischen Motive, die ihnen unterstellt bzw. zugesprochen werden. Wer ein Auto klaut und damit einen Menschen an einer Kreuzung tot fährt, der ist ein Verbrecher. Wer sich mit einer Bombe im Rucksack in einem Bus in die Luft sprengt und andere Passagiere mitnimmt, der ist ein Märtyrer, ein gedemütigter, erniedrigter, verzweifelter Mensch, der sich nicht anders zu helfen wusste. Worum ich die Terroristen am meisten beneide, ist der Respekt, der ihnen gezollt wird. Haben sie einmal bewiesen, wozu sie imstande sind, betreten Experten den Tatort und erklären, man dürfe sie nicht noch mehr provozieren, man müsse mit ihnen reden, verhandeln, sich auf Kompromisse einlassen und ihnen helfen, das Gesicht zu wahren. Nur so könne man sie zur Vernunft bringen und Schlimmeres verhüten. Dieses Verhalten nennt man Appeasement. Davon handelt dieses Buch.“
„Dieses Buch“
heißt „Hurra wir kapitulieren. Von der Politik des Einknickens“ und erscheint Ende dieses Monats im wjs-Verlag des Wolf Jobst Siedler. Auf typoskript.net gibt es exklusiv bereits jetzt das Vorwort, dem die zitierten Passagen entstammen. Und dort ist auch eine Würdigung Henryk M. Broders von Benjamin Weil erschienen, die im Folgenden dokumentiert sei, verbunden mit den besten Wünschen für den Jubilar.

Benjamin Weil

Der Anachronismus der Vernunft


typoskript.net, 20. August 2006


An seinem sechzigsten Geburtstag ist Henryk M. Broder dort, wo er immer ist: unterwegs. Nur wenige Tage hält er es an einer Stelle aus, dann will er fort. Sich nicht festlegen zu lassen auf Zeit und Ort, nicht einmal an seinem Geburtstag sich feiern zu lassen, wie es all die Eitlen tun, das ist die Selbstbehauptung dessen, der nach sechs Dekaden noch sucht und sich auf vermeintliche Weisheiten nicht festlegen lassen will.

Die Neugierde zieht ihn fort; der Wunsch nach andauernd neuer Erfahrung. Vita activa – wer damit aufhört, meinte er einmal, ist binnen kurzer Zeit erledigt. Der ist schon tot und begraben im Moment der Entscheidung für den Ruhestand. Broder wird weder Still- noch Ruhestand kennen lernen und damit denen die Nerven zermürben, die darauf hofften. So wappnet er sich gegen das Phlegma und zerstört die einzige Chance seiner Gegner.

Davon gibt es genügend. Exemplarisch sei an einen Staatsanwalt am Berliner Landgericht erinnert, der in einem Strafprozess sichtlich darunter litt, dass die Gesetzeslage auch bei weitestmöglicher Auslegung keine Verurteilung Broders wegen Beleidigung eines Neu-Isenburger Kleinstverlegers ermöglichte. Der Staatsanwalt selbst beantragte zugunsten des Angeklagten zu entscheiden, nicht ohne aber ausführlich den Verfall der Sitten und die Verrohung der Sprache anzuprangern, um mit dem Ausruf zu enden: „Herr Broder, mit Ihrer Art tun Sie den Juden keinen Gefallen!“ Doch dies eben ist nicht seine Sache: irgendjemandem zu gefallen.

Dass Broder fortwährend unterwegs ist, mag neben der Neugierde noch einen weiteren Grund haben: Derjenige, dem es zur Profession wurde, genau hinzuschauen, jedes absurde Detail zu erkennen, zu Ende zu denken und zu Papier zu bringen, der muss, selbst wenn ihn ein stattlicher Panzer aus Ironie umgibt, an seinen Beobachtungen notwendig leiden. Daher mag es auch dem Selbstschutz dienen, dass er sich einer konkreten Realität nie allzu lang am Stück aussetzen mag. Wer den Wahnsinn schon im Kleinsten untersucht, der hat Grund, den Blick auf die Totale zu scheuen, der muss vor ihr beizeiten fliehen. Dass Broder dennoch immer wieder zurückkommt, dass er nicht längst in Connecticut oder Reykjavik lebt, ist mit masochistischen Neigungen nur unzureichend zu erklären. Es hat etwas Heroisches. Es ist der Heroismus des Aufklärers.

Als solcher ist Broder anachronistisch. Wo Verstandesgebrauch aus der Mode scheint, gilt derjenige, der diesen noch einklagt, als unzeitgemäß. Dabei ist seine typische Denkfigur von frappierender Einfachheit und rekurriert auf nichts als die reine Vernunft. So gibt er einem jeden die Chance mitzudenken, lässt keine Ausrede gelten und stellt den Nichtdenker als sich verweigernden Deppen bloß. So nimmt Broder meist eine Beobachtung, eine Äußerung, einen Vorfall, und dekliniert den darin enthaltenen Gedanken stringent durch. Er erkennt, was mit argumentativer Notwendigkeit daraus folgt, und spricht diese Folge dann aus. Dabei hofft er, dass der offenkundige Irrsinn des zu Ende gedachten Gedankens schon den Irrsinn des Ausgangspunktes in Frage stellt.

Wenn beispielsweise der iranische Präsident fordert, Israel nach Europa umzuverlegen, dann sinniert Broder offen darüber, ob Bayern oder Schleswig-Holstein geeigneter erscheinen. Als daraufhin der iranische Rundfunk glaubt, in Broder nun einen Bündnispartner gefunden zu haben und ihn zum Interview bittet, scheitert Broders Denkfigur an den vollständig Wahnsinnigen, die auch zu einfachsten Denkprozessen nicht mehr gezwungen werden können. Und doch werden sie vorgeführt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein Beispiel gibt Broder auch am Anfang seines neuen Buches: Aus seiner Biographie und der seiner Eltern ergibt sich, folgt man dem Argument der üblichen Terroristenversteher, dass auch der kleine Henryk als Massenmörder (ergo Märtyrer und Idealist) hätte enden müssen. Dass es nicht so kam, straft die Einfältigen Lügen, die nach dem Schema verfahren: Tout comprendre c’est tout pardonner. Und die nichts begriffen haben.

Am Ende steht das – hoffentlich – überlegene Lachen des der Realität Unterlegenen. Den Irrsinn in Witz aufzulösen und so erträglich zu gestalten ist seine Methode, mit der er sich, mit der ihm eigenen Unverfrorenheit, unter große Vorgänger wie Heine und Kraus einreiht.

So sehr Broder auch die Vernunft eingeklagt, ist ihr spärliches Vorhandensein doch heute gewiss. Dabei erschöpfen sich seine Texte nicht im Heimleuchten der Unvernunft. Ihr größter Wert liegt vielleicht darin, dass sie als Labsal für die mit Broder Leidenden taugen, dass sie geschrieben sind für diejenigen, die des Trostes bedürfen. Dieser Trost geht von der Wahrheit aus, wenn sie schwarz auf weiß gedruckt ist.

Dabei hätte er manches Recht, sich entmutigt zu zeigen. Mitte der 1980er Jahre erschien sein Buch „Der ewige Antisemit“ als Intervention gegen den Antisemitismus im linken und fortschrittlichen Milieu. Zwanzig Jahre später, in der unveränderten Neuausgabe, schreibt Broder:

„Mein Leben ist schneller und dichter, aber auch einfacher und bequemer geworden. Nichts ist so, wie es noch vor 20 Jahren war. Nur eines hat sich nicht geändert. Der Antisemitismus mit seinen beiden ständigen Begleiterinnen, den Fragen: Woher kommt er? Und: Was kann man dagegen tun?“

Resignierter noch klingt er im persönlichen Gespräch, wenn er zugibt, dass sich der Antisemitismus doch geändert habe. Er sei schlimmer geworden. War seine „ehrbare“ Variante, der Antizionismus, einst noch eine Domäne linker und linksradikaler Randgruppen, ist er heute ein Massenphänomen im Zentrum der europäischen Gesellschaften. Broder spricht vom „Antizionismus der radikalen Mitte“.

Doch auch wenn er alles Recht dazu hätte, so gibt er sich gar nicht entmutigt. Er glaubt an den „Genossen Zufall“ und die israelischen Streitkräfte, er ist sich sicher, dass das Medium Internet nicht nur die Wahnsinnigen sondern auch die letzten zum Verstandesgebrauch Fähigen zusammenführt, er sammelt täglich die Vernunft aus diversen Medien zusammen und kommentiert unermüdlich in der Achse des Guten. Und wenn all dies einmal nicht genug Anlass zum Optimismus gibt, dann denkt er doch über Reykjavik nach. Oder Connecticut.