Wallraffpädagogik
Auf den ersten Blick scheint die Idee originell und respektabel, ja geradezu bahnbrechend zu sein: Günter Wallraff will in einer Moschee aus Salman Rushdies Buch Die satanischen Verse lesen. Und zwar nicht in irgendeiner Moschee, sondern just in der noch zu bauenden, im Wortsinne umstrittenen im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Ein „Lackmustest“ soll diese Lesung sein, sagt Wallraff, eine Probe aufs Exempel, wie ernst es der Trägerverein und Bauherr Ditib tatsächlich meint, wenn er eine „offene Kulturarbeit“ verspricht. Außerdem wüssten die meisten Muslime, die Rushdies Werk ablehnen, gar nicht, worum es in ihm eigentlich geht. Wallraffs Vorschlag wirft jedoch gleich mehrere Fragen auf: Ist alles gut, wenn der Test positiv verläuft? Was ist, wenn er negativ ausgeht? Und ändert die Kenntnis der Satanischen Verse überhaupt etwas an dem Urteil über ihren Verfasser?
Günter Wallraff (Foto) ist optimistisch: Er genieße in der islamischen Welt ein gewisses Ansehen. Sein Buch Ganz unten habe dort geradezu einen Kultstatus erlangt: „Das mache ich mir jetzt zunutze.“ Dabei lasse er sich den Vorwurf der Naivität bewusst gefallen, weil er frei nach Che Guevara vorgehe: „Sei Realist und fordere das Unmögliche.“ Doch so aussichtslos sei das Unterfangen ohnehin nicht; immerhin vertrete man bei der Ditib die Ansicht, „dass man ernsthaft über meinen Vorschlag reden sollte“. Eine solche Veranstaltung wäre jedenfalls, da ist Wallraff überzeugt, „ein wichtiges Signal gegenüber den wirklichen islamischen Fundamentalisten, die sich ja immer im Besitz der allein selig machenden Wahrheit wähnen und es wie alle Fanatiker im Sinne ihrer Absolutheitslehre todernst meinen und keine Ironie verstehen“.
Das Problem sei vor allem, meint der „Investigativ-Journalist“ (Wikipedia), dass die meisten Muslime die Satanischen Verse gar nicht durchgearbeitet hätten: „Ich bin der Meinung, wenn jemand tatsächlich die Fatwa gegen Rushdie befürwortet, muss er doch zumindest den Inhalt des Buches kennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass nicht einmal Ayatollah Khomeini, der sie 1989 wegen der Mohammed zugedachten satirischen Elemente aussprach, das Buch gelesen hat.“ Wenn man eine echte Auseinandersetzung wolle, müsse man jedoch wissen, worum es in dem Band geht. Falls die Lesung stattfinde – „und ich sorge dafür, dass sie stattfindet“ –, werde von ihr „eine ungemein befreiende Wirkung ausgehen“: „Stellen Sie sich diese Szene in der Moschee doch nur einmal vor: Es wird gelesen, manche finden das Gehörte gar nicht so schlecht, und es wird vielleicht sogar gelacht. Das würde vieles aufbrechen.“ Und es könne „dazu beitragen, den Hass zu überwinden“.
Ein Scheitern des „Lackmustests“ ist anscheinend nicht vorstellbar, dabei wäre es nicht uninteressant, von Wallraff zu erfahren, welche Konsequenzen er eigentlich zu ziehen gedenkt, falls er mit seinem Ansinnen keinen Erfolg haben sollte. Doch selbst wenn die Ditib zustimmte und der Vortrag über die Bühne ginge, wäre längst noch nicht alles in Butter, wie Ralph Giordano – der wegen seiner Ablehnung des Moscheebaus in Köln mehrere Morddrohungen erhalten hatte – befindet: „Es gibt ja die Taquyya, die im Islam erlaubte Verstellung und Täuschung bei der Auseinandersetzung mit Ungläubigen. Die Ditib ist für mich die Materialisierung der Taquyya. Egal, wie die Antwort ausfällt: Ehrlich wird sie nicht sein. Allenfalls, wenn die Lesung stattfinden sollte, was ich nicht glaube, ist sie ein Alibi, reine Taktik.“ Günter Wallraff könnte das durchaus wissen, schließlich hat er eine solche Situation selbst schon einmal erlebt: „Nach Erscheinen meines Buchs ‚Ganz unten’ [...] wurde ich damals eingeladen, in einer Moschee-Gemeinschaft in Mülheim zu lesen. Da habe ich vor Tausenden von Moschee-Schülern eine Rede über die Weltreligionen gehalten. Alles, was ich kritisch über das Christentum sagte, wurde übersetzt, alles Kritische über den Islam jedoch nicht.“
Wenn man Wallraff Gutes will, bewundert man seinen unerschütterlichen Glauben an die Kraft des besseren Arguments und seinen Fortschrittsoptimismus. Aber das griffe zu kurz. Denn er hat offensichtlich keine Ahnung, wie Ressentiments entstehen und welche Bedürfnisse sie erfüllen. Am deutlichsten wird das an seiner hanebüchenen Ansicht, alles werde schon von alleine gut, wenn die Muslime nur endlich Rushdie (Foto) läsen oder dargeboten bekämen: „Wenn die Unkenntnis eines Werkes die Ursache für die Empörung ist, die es auslöst, dann wird Wallraff demnächst viel zu tun haben“, brachte Henryk M. Broder die Absurdität dieser Logik auf den Punkt. „Er wird ganz Arabien bereisen, um den Menschen die Mohammed-Karikaturen zu zeigen, über die sie sich den Arsch vor Aufregung aufgerissen haben, ohne sie gesehen zu haben; und wenn er mit diesem Job fertig ist, wird er durch den amerikanischen Bible-Belt touren, um die ‚Kreationisten’ mit den Arbeiten von Darwin vertraut zu machen. Danach wird er sich auf den Weg nach Indien machen, um den Hindus beizubringen, wie man einen Tafelspitz macht. Dermaßen gestählt, kann er dann gläubigen Juden den Unterschied zwischen ‚Kassler’ und ‚Eisbein’ erklären.“
Nicht minder grotesk ist in diesem Zusammenhang Wallraffs Standpunkt, die Befürworter des islamischen Todesurteils gegen Rushdie müssten dessen Buch doch zumindest gelesen haben. Mag sein, dass selbst Khomeini nicht einmal einen flüchtigen Blick in die Satanischen Verse geworfen hatte – na und? Würde das die Fatwa etwa legitimieren? So hat es Wallraff natürlich nicht gemeint, aber diese Frage ergibt sich dennoch zwingend aus seinen Ausführungen. Schließlich geht der Hinweis auf die „Mohammed zugedachten satirischen Elemente“ völlig fehl, weil die Islamisten nun einmal keinen Spaß verstehen, wie Wallraff ja auch selbst feststellt. So wenig, wie man ganz grundsätzlich Antisemiten in der Hoffnung auf einen Rest an Vernunft in ihrem Hirn mit einer geduldigen Widerlegung ihrer Stereotypen beikommen kann, so wenig wird eine Lesung aus Salman Rushdies Büchern bei Islamisten die „ungemein befreiende Wirkung“ zeitigen, auf die Wallraff setzt. Das Ganze riecht deshalb ziemlich streng nach Volkspädagogik. Und genau das ist das Problem: Diejenigen, die die Satanischen Verse für Teufelswerk halten und tödliche Sanktionen gegen ihren Urheber fordern, sind keine kleinen Kinder. Wer sie dafür hält, spricht ihnen jegliche Selbstverantwortung ab und entmündigt sie.
Doch folgt man Günter Wallraff, dann erledigt sich das Problem früher oder später ohnehin von selbst: „Wir erleben das letzte Aufbäumen gegen die Globalisierung. In fünfzehn bis zwanzig Jahren ist der Spuk vorüber. Denn die Fundamentalisten haben keine Argumente und zukunftsweisenden Ideen.“ Da spricht ein Exemplar der geschichtsdeterministischen Linken, die selbst Auschwitz nicht von ihren Überzeugungen abbringen konnte.