1.6.08

Israel – und das ist gut so

Zu den bevorzugten Quellen, auf die sich die „Israelkritiker“ aller Couleur berufen, gehören die Arbeiten der so genannten Neuen Historiker in Israel. Diese „Postzionisten“ haben sich vor allem mit der Geschichte des Zionismus sowie der israelischen Staatsgründung beschäftigt und sind dabei zu der Auffassung gelangt, der „Nahostkonflikt“ gehe nahezu vollständig auf das Konto Israels: Die arabischen Staaten hätten nämlich gar keinen Plan zur Vernichtung des jüdischen Staates gehabt und seien Israel während seiner Gründungsphase auch nicht kräftemäßig überlegen gewesen; die meisten Palästinenser seien im Zuge „ethnischer Säuberungen“ gewaltsam vertrieben worden; der Friedensprozess scheitere nicht an der Unnachgiebigkeit der Araber, sondern regelmäßig an Israel.

Aus der Phalanx dieser linken Geschichtswissenschaftler um Ilan Pappé, Avi Shlaim und Tom Segev scherte vor einigen Jahren Benny Morris aus. „Verändert hat sich meine Haltung, als ich die Studie Righteous Victims über den israelisch-arabischen Konflikt von 1881 bis zum Jahr 2000 schrieb“, sagte er kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift konkret.* „Die ausgiebige Beschäftigung mit der Materie führte mich zu der Einschätzung, dass die palästinensisch-arabische Nationalbewegung keine Koexistenz mit einem souveränen jüdischen Staat will, sondern sie will ganz Palästina für die arabisch-moslemische Welt. Israel mag diplomatische Beziehungen zu einigen arabischen Staaten haben, aber im Kern erkennt keiner von ihnen die Legitimität Israels an.“

Dessen ungeachtet zog unlängst Eric Rouleau – ein französischer Journalist, der unter der Regierung Mitterand Botschafter in Tunesien und der Türkei war – in einem für die taz** übersetzten Beitrag kräftig vom Leder. Folgt man seinen auf die „Postzionisten“ gestützten Ausführungen mit dem Titel „Der Mythos vom kleinen David“, dann handelt es sich bei Israel um nichts weniger als einen beispiellosen Terrorstaat, dessen Historie eine einzige Kriminalgeschichte ist und der deshalb im Nahen Osten seit seiner Gründung 1948 das Friedenshindernis schlechthin darstellt. In einem Gastbeitrag für Lizas Welt nimmt Schlomo Boldes Rouleaus Suada genauer unter die Lupe – und rückt dabei vor allem die historischen und politischen Bezüge zurecht, die von den Neuen Historikern gänzlich vernachlässigt werden.


VON SCHLOMO BOLDES

Wir sollten uns von dem Gedanken verabschieden, dass der Gründungsprozess des Staates Israel ein feinerer, eleganterer gewesen sein könnte als der anderer Staaten – auch wenn kein Staat der Erde 60 Jahre nach seiner Gründung ein solches intellektuelles, technisches, demokratisches und historisches Niveau erreicht hat. Nehmen wir Deutschland zum Vergleich. Wann setzen wir die deutsche Staatswerdung an? Mit Otto dem Großen? Mit Friedrich dem Großen? 1870? Dann müssten wir Israel 2008 mit Deutschland 1930 vergleichen! Oder Frankreich. Seien wir gnädig, erlassen wir den Franzosen den sonnigen Louis und wählen wir das in der Rückschau vergleichsweise vorteilhafte Jahr 1789. Dann hat die Wiege der Aufklärung im Jahre 1849 ihren Sechzigsten gefeiert. Waren die Verhältnisse damals wirklich humaner als im heutigen Israel? In den USA im Jahr 1826? In der Sowjetunion von 1977?

Eigentlich hinkt der Vergleich, denn in Bezug auf Deutschland müssen wir die Phase der territorialen Grundsteinlegung betrachten, also die Zeit, als die Deutschen Orden mit den Polen und anderen slawischen Völkern im Osten aufräumten. Die französische Katholisierung und die englische Entkatholisierung – verliefen sie humaner als die vorgeblichen „ethnischen Säuberungen Palästinas“? Das, was „ethnische Säuberung“ genannt wird, ist ein historischer Prozess, der tragischerweise Bestandteil jeder Nationenbildung war – nur die israelische soll nach Meinung der arischen Mehrheit frei davon bleiben?

David gegen Goliath – ein unzulässiger Mythos? Die israelische Gründungssaga sei historisch falsch, schreibt Rouleau, weil die Israelis in Wahrheit die besseren Waffen als die Araber gehabt hätten. Wenn ich die Geschichte recht erinnere, hatte auch David die bessere Waffe. Er war kleiner, aber besser. David gegen Goliath – die Allegorie passt wie der Stein aufs Auge! Welcher Selbstgerechte erhebt da einen Vorwurf?

Natürlich hat Ben Gurion aus taktischen Erwägungen heraus 1947 dem UN-Teilungsplan zugestimmt. Natürlich war der Plan für ihn „unannehmbar“. Natürlich ist Israel auch heute noch zu klein, wenn man das Staatsgebiet mit der Fläche der arabischen Staaten vergleicht und ins Verhältnis zur Zahl der Juden einerseits und der Araber andererseits setzt. Aber den politisch dämlichen Fehler, den Teilungsplan abzulehnen, hat die arabische Seite begangen. Soll Israel sich politische Klugheit und taktische Raffinesse vorwerfen lassen? Sind die Israelis schuld an der Blödheit der arabischen Führer?

Was soll da bewiesen werden? Dass Deutschland heute noch viel größer wäre, wenn es weder Hitler noch Wilhelm II. gegeben hätte? Genau so ist es! Und es gäbe auch längst ein Palästina, wenn die arabische Seite das nicht verhindert hätte. Vielleicht hätten die palästinensischen Staatsbürger schon 1949 um die Annexion durch Jordanien gebettelt. Menschlich nachvollziehbar und politisch durchführbar wäre das gewesen.

Oder anders: Sollen wir Juden dankbar sein, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto niedergeschlagen wurde, da man uns ansonsten bis heute die grausame Tötung zahlloser SS-Männer hätte vorwerfen können?

Und was, bitte, ist eine „autochthone Bevölkerung“? Die einstigen Volksdeutschen an der Wolga oder in Siebenbürgen, im Sudetenland und im Elsass, die „heim ins Reich“ geführt wurden? Die türkischen Deutschen in Berlin-Kreuzberg sind heute längst „autochthon“ – ebenso wie die jüdischen Bewohner Jaffas.

Was beweisen zudem die Tagebücher Ben Gurions, so lange man sie nicht mit denen von Wilhelm II., Robespierre oder Napoleon, von Heinrich VIII. oder Lenin, von Fürst Metternich oder Josef Pilsudski vergleicht? Nichts – außer, dass Politik in Zeiten der Revolution und des Krieges ein hartes Geschäft ist.

Der Vorschlag, „die Palästinenser zu deportieren“, hört sich in deutschen Ohren sofort nach Eichmann und Endlösung an. So hätte es Julius Streicher dargestellt. Dahinter steckt aber, historisch betrachtet, nichts anderes als das, was die jüdische Bevölkerung der gesamten arabischen Welt – von Marokko bis zum Irak – nach 1948 erlebte und Europa seit dem Ende des Römischen Reiches bis 1945. David Ben Gurion (Foto, Mitte) wird von Monsieur Eric Rouleau korrekt zitiert: „Diese Maßnahme hat nichts Unmoralisches!“

Der von Rouleau verehrte Ilan Pappé stellt darüber hinaus richtig fest, dass diese Maßnahme – wenn man Pappé eins zu eins übernimmt, wozu Rouleau neigt, ohne es zu begründen – in einer Reihe mit den Maßnahmen (fast) aller anderen Völker steht. Jetzt aber ist diese Zeit Geschichte geworden – „Narrativ“ der einen wie der anderen Seite wird so etwas heute gerne genannt. Damit sind die Geschichten gemeint, die sich die Enkel und Urenkel der vertriebenen arabischen Einwohner Jaffas ebenso wie deutsche Touristen erzählen – die Letztgenannten, wenn sie Verdun oder die Strände der Normandie besuchen, wenn sie in Danzig und Stettin auf Spurensuche gehen.

Die vertriebenen Palästinenser leben heute im Libanon und in Syrien oder in der Westbank, so wie die Schlesier und Ostpreußen in Bayern und Niedersachsen leben. Für die Integration haben diejenigen zu sorgen, die diese Menschen in Verantwortung für die Folgen ihres kriegerischen Handelns aufgenommen haben. Wenn sie das zu teuer kommt, mögen sie sich bei ihren einstigen Führern und deren historischer Weitsicht (siehe oben) bedanken. In Friedland gibt es kein Schlesier-Lager mit Menschen, die darauf warten, endlich wieder nach Breslau ziehen zu dürfen. Und es gibt heute auch keinen Versuch einer deutschen Bundesregierung mehr, aus einem solchen Umstand Forderungen an Polen abzuleiten.

Erinnert sich noch jemand an das in den achtziger Jahren legendäre Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ des Uruguayers Eduardo Galeano? Was sind die Argentinier, Chilenen und Brasilianer anderes als die Erben der „ethnischen Säuberungen“ von Spaniern und Portugiesen? Wohin konnten die Inkas und Mayas fliehen? Argentinien sollte sich um sein Existenzrecht Sorgen machen!

Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt nicht „verwunderlich“, wie Rouleau meint, dass die internationale Gemeinschaft die „Gräueltaten“ Israels nicht verurteilt hat. Denn beim Anblick der Ereignisse 1948 ff. hat sie in den Spiegel gesehen. Nicht nur Deutschland mit seinem Menschheitsverbrechen, auch Großbritannien, Frankreich, die USA. Diese zivilisierte Welt ließ danach in Indien, Algerien und Vietnam noch einiges folgen, was die Pläne von zionistischen Hardlinern wie Zeev Jabotinsky als Fantasien eines Schwächlings erscheinen lässt.

Man mag es Unrecht nennen, was der arabischen Bevölkerung Palästinas in Teilen widerfahren ist, wie den Indianern Nord- und Südamerikas im 18. und 19. Jahrhundert, den Slawen im Osten des Heiligen Römischen Reiches oder den Iren vom 16. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – ja, man kann sogar den Normannen bei der Einnahme der keltischen Insel 1066 ihr Unrecht vor Augen halten. Steht deshalb das Existenzrecht Großbritanniens in Frage? Muss die Krone endlich dieses Unrecht anerkennen, „um ein normaler Staat zu werden“? Oder das Nato-Mitglied Türkei die Massaker an den Armeniern öffentlich bedauern, bevor man den Türken die territoriale Integrität zugesteht?

Die Welt, auch die jüdische, muss aufhören, die Staatswerdung Israels als etwas Heiligeres zu betrachten, als es die Herausbildung anderer Nationalstaaten war. Umgekehrt kann niemand, der bei Verstand ist, auch nur den geringsten Zweifel haben, dass die Zeitspanne, in der der immer noch sehr junge jüdische Staat in einem wahrhaftigen Friedenszustand mit allen seinen Nachbarn leben und gedeihen wird, um Jahrhunderte kürzer sein wird, als sie es etwa im Falle Deutschland/Frankreich oder Irland/Großbritannien war.

Wo also, bitte, ist das Problem?

* „Wenn sie die Bombe kriegen, werden sie Israel zerstören“. Interview mit Benny Morris und Nasrin Amirsedghi, in: konkret 6/2008, S. 28f. (nur Printausgabe)
** Der Originalbeitrag erschien in Le Monde diplomatique