16.9.08

Mord und Totschlag



Deutschland in Angst: Nicht den Antisemitismus, sondern den Antisemitismusvorwurf meint man hierzulande fürchten zu müssen. Die Ahnung, dass dieser berechtigt ist, treibt zu irren Projektionen.


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Die gute Nachricht: Der Antisemitismus wächst nicht, sondern er geht ständig zurück. Die schlechte Nachricht: Der das sagt, hat keine Ahnung und gibt das auch offen zu. Damit ist die gute Nachricht schon wieder perdu. Die Rede ist von Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Berlin und heutiger Leiter des Zentrums für Europäische Studien an der Universität Herzliya. In dieser Doppelfunktion als politischer und wissenschaftlicher Kompetenzträger erklärte er jüngst im Deutschlandradio Kultur, dass „der Antisemitismus regelmäßig seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpft“ – in Amerika, in Europa und auch in Deutschland. Gleichzeitig gestand Primor: „Den Antisemitismus genau zu beschreiben, das konnte ich noch nie. Ich konnte nur sagen, wer kein Antisemit ist. Das ist mir klar.“ Wie aber kommt jemand, der erklärtermaßen keinen Begriff vom Antisemitismus hat, dazu, dessen Schwinden festzustellen? Ganz einfach: Indem er gewissermaßen ex negativo vorgeht, also ein Ausschlussverfahren anwendet und immer mehr Menschen auch dann für Nicht-Antisemiten hält, wenn diese – heftigst „israelkritisch“ erregt – erheblichen emotionalen und rhetorischen Aufwand betreiben, um das genaue Gegenteil zu beweisen.

Der begriffslose Experte

So findet es Primor zwar „äußerst grotesk“, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit dem Vernichtungswahn der Nationalsozialisten in eins zu setzen, doch dass das „mit Antisemitismus verbunden ist, glaube ich nicht“. Für ihn ist jedenfalls mit der Dämonisierung Israels, wie sie sich überdeutlich in den NS-Vergleichen ausdrückt, die Grenze zum Antisemitismus noch nicht überschritten. „Dieser ganze Vergleich“, kommentierte Primor exemplarisch die Analogisierung von Westbank und Warschauer Ghetto, „ist derartig grotesk, dass ich überhaupt keine Begriffe dazu habe“. Eben: Den einzig passenden Begriff, den des Antisemitismus nämlich, führt Primor nicht im Repertoire. Vielmehr müht er sich um Nachsicht: „Ich glaube, dass Leute die Tendenz haben zu übertreiben, wenn sie eine These beweisen wollen.“ Und statt solche „Thesen“ wie auch ihre „Beweise“ als rundweg indiskutabel – weil aus antiisraelischem respektive antisemitischem Ressentiment entsprungen – abzulehnen, fordert Primor ganz im Gegenteil, den „Diskurs“ nicht zu verweigern. Statt vom Antisemitismus zu reden, so seine Mahnung an die Israelis und ihre Freunde, sei es besser, sich mit der „Kritik“ am jüdischen Staat auseinanderzusetzen, die ja meistens „sachlich“ und „ehrlich“, wenn auch „sehr oft falsch“ sei.

Primor glaubt gleichwohl, erklären zu können, woher die Auffassung rührt, es gebe kein Abflauen, sondern ein Anwachsen des Antisemitismus. Sie stamme, so der Nicht-Antisemitismus-Experte, von den immer zahlreicher werdenden Nicht-Antisemiten, die immer sensibler würden: „Weil die Leute eben nicht Antisemiten sind, sind sie gegenüber Antisemitismus empfindlich geworden und wollen es immer wahrnehmen. Je eher also der Antisemitismus schrumpft, desto eher meinen die Leute, dass er wächst.“ Eine erstaunliche Logik: Die (Über-) Empfindsamen wollen bloß immer stärker spüren, was doch angeblich immer weniger Substanz hat. Nicht der Antisemitismus also, sondern die Sensibilität ihm gegenüber ist, folgt man der Primorschen Ableitung, falsche Projektion. Damit steht er selbst für die Tendenz, dass die Furcht in Deutschland weniger dem Antisemitismus denn dem Antisemitismusvorwurf gilt.

Eine Dame, ihr Name und eine Obsession

Von diesem Vorwurf betroffen fühlte sich jüngst auch Evelyn Hecht-Galinski; erhoben wurde er vom auf solche „Israel-Experten“ spezialisierten Henryk M. Broder. Der nämlich hatte in einem Brief an die WDR-Intendantin Monika Piel Auskunft darüber erbeten, warum in einer Hörfunksendung zum Thema Israel sich jemand ausbreiten durfte, dessen Spezialität „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“ seien. Und um nichts anderes handelt es sich bei Behauptungen wie jener, die Weltgemeinschaft hofiere „einen Staat, der über die besetzten Gebiete einen in seiner Grausamkeit fast einmaligen Belagerungszustand verhängt hat“. Hier steht das Wörtchen „fast“ zwar noch etwas schüchtern gegen die unmittelbare Relativierung des Nationalsozialismus; die Dämonisierung Israels steuert aber schon irre Höhepunkte an: „Die zionistische Ideologie und später die israelische Politik haben 1948 zum Untergang der Palästinenser beigetragen.“ Dieser „Untergang“ kann so umfassend allerdings nicht gewesen sein, denn noch immer betreibe Israel, so Hecht-Galinski im Präsens, eine Politik der „Apartheid“ gegenüber den doch angeblich längst untergegangenen Palästinensern.

Ferner sieht sie eine „jüdisch-israelische Lobby“ am Werk, die Kritiker der israelischen Politik „mundtot machen“ wolle und hinter der die deutschen Medien verschwänden. Den Vergleich der palästinensischen Autonomiegebiete mit dem Warschauer Ghetto, für den die deutschen Bischöfe Gregor Maria Hanke und Walter Mixa im März 2007 einige Kritik einstecken mussten, hält sie für „moderat“. Spätestens hier aber wird die Politik Israels mit der Raserei der Nazis unmittelbar gleichgesetzt. Derlei geht selbst der Europäischen Union zu weit, die in der Antisemitismus-Definition ihres European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) festhält, dass die Grenze zum Antisemitismus dann überschritten ist, wenn Israel dämonisiert oder mit NS-Deutschland verglichen wird oder wenn jemand behauptet, es gebe eine jüdische Kontrolle der Medien und der Politik. Wer Israel derart obsessiv verteufelt wie Hecht-Galinski, muss sich also tatsächlich begründete Sorgen machen, als antisemitisch zu gelten. Und dabei ist es nebensächlich, ob man die Tochter eines prominenten Juden ist oder nicht, ob man nun Evelyn Hecht heißt oder – wie in der Berliner Jüdischen Gemeinde kolportiert wird – erst vor einigen Jahren den Namen Galinski hinzugefügt hat. Antisemitismus drückt sich im Ressentiment, nicht in der Herkunft aus.

Henryk M. Broder bescheinigte Hecht-Galinski deshalb sehr zu Recht „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“, was ihm die derart Gescholtene prompt gerichtlich untersagen lassen wollte. Das Landgericht Köln fällte dazu Anfang September ein denkwürdiges Urteil: Zwar habe Broder durchaus das Recht, Hecht-Galinski als antisemitisch zu bezeichnen; er müsse dies aber stets unmittelbar und hinreichend begründen. Andernfalls sei seine Einschätzung als „Werturteil, bei dem die Grenze zur sog. Schmähkritik überschritten sei“, zu betrachten. Es komme, so die Urteilsbegründung, stets auf den „Sachbezug“ an. Und „ob ein solcher Sachbezug vorliegt“, könne „nur im Einzelfall anhand einer konkreten, dann zu überprüfenden Äußerung beurteilt werden“.

Im Fall von Broders Brief an die WDR-Intendantin wollte das Gericht diesen „Sachbezug“ partout nicht erkennen. Dabei hätte es genügt, der von Broder kritisierten Hörfunksendung mit dem instruktiven Titel „Ganz schön kompliziert: Reden über Israel“ zu lauschen. Diese Sendung selbst ist nämlich der „Sachbezug“. Dort verkündete Evelyn Hecht-Galinski beispielsweise, die Bundeskanzlerin halte Reden, die auch vom „israelischen Propagandaministerium“ stammen könnten, sie sprach von sechzig Jahren „ethnischer Säuberung“ durch Israel, und sie präsentierte einen symbolischen Maulkorb, den sie sich „nicht mehr umhängen“ lasse, auch wenn er „von offiziellster Seite“ komme. Es ist all dies eben jene Mischung aus der Dämonisierung des jüdischen Staates und der Imaginierung einer zionistischen Lobby (die in Deutschland Regierung und Medien im Griff habe), die Broders Verdikt hinreichend begründet, die „Tochter“ sei auf „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“ spezialisiert. Trotzig bekannte Hecht-Galinski in der Radiosendung: „Wenn ich als jüdische Selbsthasserin oder Antisemitin verunglimpft werde, stört mich das nicht im Geringsten.“ Und es stört augenscheinlich auch ihre Logik nicht, dass sie trotzdem einen Rechtsstreit gegen Broder anzettelte. Offenbar kann man sich auch dann erfolgreich vor Gericht gegen „Schmähkritik“ wehren, wenn man sich gar nicht geschmäht fühlt.

Das Urteil des Kölner Gerichts impliziert nun, wenn man es streng auslegt, zweierlei: Zum einen kann keine für eine Person potenziell unangenehme Beschreibung mehr formuliert werden, ohne dass diese sogleich „hinreichend“ begründet werden muss. Das aber ist das Ende jeder Polemik. Darf man nun Putin noch einen „lupenreinen Demokraten“ und Horst Mahler einen „nationalsozialistischen Antidemokraten“ nennen, wenn man dem nicht sogleich zur ausführlichen Begründung ein akademisches Elaborat beifügt? (Dies dürfte im Falle Putins natürlich um einiges schwerer sein als bei Mahler, obwohl das Verdikt dem Erstgenannten mehr missfallen dürfte als letzterem.) Zum anderen nimmt das Gericht für sich in Anspruch, die Begründung – die nun zwingend zu formulieren ist – „im Einzelfall“ zu beurteilen. So werden politische Auseinandersetzungen um den neuen Antisemitismus auch künftig dort landen, wo sie nur nach Ansicht obrigkeitsstaatlicher Antidemokraten hingehört: vor dem Kadi. Die Evidenz des Antisemitismusvorwurfs wäre dann – so die Kölner Urteilsbegründung – „aus dem Blickwinkel eines unbefangenen und verständigen Durchschnittslesers zu beantworten, der mit der Materie nicht speziell vertraut ist“. Allein: Wie es beim „Durchschnittsleser“ als Kind oder Enkel des „Otto Normalvergasers“ (Eike Geisel) mit der Unbefangenheit und Verständigkeit aussieht, wenn es um den modernisierten Antisemitismus – mithin also um die Gretchenfrage bezüglich Israel – geht, wird vom Kölner Gericht nicht ausgeführt.

Die Stellvertreterin

„Evelyn Hecht-Galinski ist die Tochter von Heinz Galinski, dem verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und des Zentralrats der Juden in Deutschland.“ So sachkundig leitete der Feuilleton-Chef der FAZ, Patrick Bahners, einen Artikel im Vorfeld des Prozesses ein, in dem er Partei für die „Tochter“ ergriff und, gegen Broder gerichtet, schrieb: „Der Antisemitismusvorwurf eignet sich zum moralischen Totschlag.“ Aus Martin Walsers „Moralkeule Auschwitz“, das zeigen nicht nur Bahners’ Zeilen, ist längst schon die „Antisemitismuskeule“ geworden, erfunden und gefürchtet von jenen, die allen Ernstes der Ansicht sind, nicht einmal eine Jüdin dürfe hierzulande „kritische Meinungsäußerungen zur israelischen Politik und Staatsräson“ (Bahners) formulieren. Diese Sorge des FAZ-Kulturchefs drückte sich dabei bereits in der Überschrift seines Beitrags überdeutlich aus: „Was darf eine Jüdin in Deutschland gegen Israel sagen?“ Schon die Fragestellung ist antisemitisch aufgeladen; sie suggeriert, dass es eine Macht gibt, die „Kritik“ an Israel der Zensur überantwortet. Mehr noch: Hinter der Schlagzeile steht die besorgte Frage, was Nicht-Juden noch zu, über und vor allem gegen Israel zu sagen bleibt, wenn angeblich nicht einmal die „Tochter“ so reden darf, wie es im autochthonen Deutschen denkt. Dabei darf sie es ja, und sie tut es allenthalben. In Deutschland ist nämlich nicht der Antisemitismus, sondern allenfalls der Antisemitismusvorwurf justiziabel.

Hecht-Galinskis juristische Bemühung, Broder die Äußerung politischer Wahrheiten zu verbieten, steht stellvertretend für das Hoffen jenes „israelkritischen“, nicht-jüdischen Mainstreams von FAZ bis taz, der sich nur zu gern hinter einer vorgeblich innerjüdischen Auseinandersetzung versteckt. So wichtig die Thematisierung der Tatsache ist, dass auch Juden sich antisemitisch exponieren können – erst recht in Zeiten gesellschaftlich höchst opportuner „Israelkritik“ –, so sehr droht dabei der entscheidende Aspekt vernachlässigt zu werden: Jüdische Antizionisten agi(ti)eren zuvörderst für ein deutsches, nicht-jüdisches Publikum, das sich daraus die jüdische Legitimation für ihr eigenes antiisraelisches Ressentiment verspricht. Die von Patrick Bahners bang gestellte Frage „Was darf eine Jüdin in Deutschland gegen Israel sagen?“ verweist keinesfalls auf eine (ausschließlich) innerjüdische Debatte. Im Gegenteil: Das höchst interessierte Publikum der „Tochter“ findet sich im Kulturteil der Frankfurter Allgemeinen ebenso wie in der Redaktion der jungen Welt, im Westdeutschen Rundfunk ebenso wie im Deutschlandfunk. Es findet sich überall dort, wo der Antisemitismus sich – noch – öffentlichkeitsscheu hinter der „Israelkritik“ und seinen jüdischen Proponenten versteckt.

In besagten Medien kann Evelyn Hecht-Galinski den Zentralrat der Juden in Deutschland als „Sprachrohr der israelischen Regierung“ bezeichnen und so das antisemitische Gerücht von der „wahren“ Loyalität der Diaspora-Juden nähren. Hier kann sie eine jüdische Medienmacht halluzinieren, schließlich sei die „deutsche Politik hinter den israelischen Medien verschwunden“. Hier kann sie irre und wirre Sätze über die weltweite jüdische „Allmacht“ formulieren wie diesen: „Überall, wo, ich muss es leider sagen, wie Tony Judt das auch schon festgestellt hat, die jüdisch-israelische Lobby mit ihrem Netzwerken am Arbeiten ist, das zieht sich heute über die ganze Welt, und dank Amerika ist die Macht so groß geworden, dass wir als europäische Juden für einen gerechten Frieden zwar eine Minderheit sind, aber immer stärker werden in der ganzen Welt.“ Hier kann sie ebenso irr und wirr ihre antisemitischen Vergleiche zwischen Israel und dem NS-Staat ziehen: „Es kann nur in ein absolutes Unglück führen, was dort passiert, weil man kann nicht ewig ein ganzes Volk unterdrücken und sich wirklich – ich muss diese Vergleiche wagen –, wir haben ja gerade erlebt, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist und was heute passiert.“

All dies kann sie also behaupten: immer wieder und in den prominentesten politischen Medien Deutschlands. Sie hat keine Zensur und keinen Maulkorb zu befürchten. Nur eines kann Evelyn Hecht-Galinski nicht: ertragen, dass dergleichen als antisemitisch qualifiziert wird.

Ein schrecklicher Vorwurf

Eben das macht auch dem Kölner Landgericht Sorge: Der „Durchschnittsleser“ nämlich müsse annehmen, „dass jemand, der auf antisemitische Statements spezialisiert ist, auch eine antisemitische Gesinnung vertritt, weil üblicherweise nur solche Personen antisemitische Statements abgäben, die auch einer antisemitischen Geisteshaltung anhingen“. Brillant geschlossen, allein der Konjunktiv ist fehl am Platz: Wer sich antisemitisch äußert, ist ein Antisemit. Dass dabei „der Antisemitismus-Vorwurf aufgrund der damit verbundenen historischen Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus besonders schwer“ wiege und „wie kaum ein anderer geeignet“ sei, „den mit dieser Geisteshaltung in Verbindung Gebrachten in den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen“, steht dem gerade nicht entgegen. Denn nicht einmal mehr Antisemiten wollen als solche bezeichnet werden. Eben deswegen wird der Antisemitismusvorwurf auch als so untragbar und schrecklich empfunden, besonders von denen, die ihn am meisten verdienen.

Patrick Bahners – der geflissentlich übergeht, dass per Gericht nicht Hecht-Galinski sondern Broder der Mund verboten werden sollte – sieht also „moralischen Totschlag“ am Werk, wenn Antisemiten Antisemiten genannt werden. Y. Michal Bodemann, Soziologe in Toronto und taz-Autor in Berlin, geht sogar noch weiter: „Vor allem in Deutschland kann der Antisemitismus-Vorwurf tödlich sein, und so hüten sich viele Juden wie Nichtjuden davor, den Mund aufzumachen.“ Die zu Tode gekommenen Opfer des Antisemitismusvorwurfs benennt der Wissenschaftler nicht; ob er damit beispielsweise den Fallschirmspringer Jürgen W. Möllemann meint – den gleichwohl mehr der Vorwurf der Steuerhinterziehung denn der des Antisemitismus zerknirschte –, bleibt unerhellt. Bodemanns mit „Rufmord und rassistische Hetze“ überschriebenes Bestreben hingegen, den Opponenten des neuen Antisemitismus eine Mischung aus Rassismus, Mordlust und Einschüchterungsversuchen zu attestieren, ist offensichtlich. Mit dieser perfiden Stigmatisierung soll Broders Position diskreditiert werden. Und es soll umgekehrt Hecht-Galinskis Antisemitismus salviert werden, da die „Tochter“ doch „den Mut aufbringt, in diesem überängstlichen, feigen Milieu die israelische Politik zu kritisieren“.

Alfred Grosser, der große alte Mann der Antisemitismusverharmlosung, stieß in der FAZ ins gleiche Waldhorn. Weil sein Freund Rupert Neudeck einmal keine Räumlichkeiten von der evangelischen Kirche zur Verfügung gestellt bekam, um sein mit exaltierter Tapferkeit geschriebenes Palästina-Soli-Buch „Ich will nicht mehr schweigen“ zu bewerben, sieht Grosser eine schreckliche und gewaltige Macht am Wirken: „Hier ging es nicht um Antisemitismusbekämpfung, sondern um brutale Zensur eines unbequemen Inhalts. Die Methode hat sich bewährt.“ Sind wir schon wieder so weit?

In alledem wird der Wahn deutlich, der den Antisemitismus seit je kennzeichnet: Der Verfolger wähnt sich als Verfolgter, der nicht agiert, sondern immer nur reagiert, weil ihm der Jude respektive Zionist ja keine andere Wahl lasse. Der Einschüchterungsversuch wird dem zugeschrieben, den man per Gericht selbst einzuschüchtern versucht; es wird der eigene „Mut“ betont, die „Israelkritik“ überhaupt zu wagen – als ob dies die Ausnahme und nicht die Regel wäre. So bezieht man heute Stellung gegen den „moralischen Totschlag“, den „Rufmord“, den Antisemitismusvorwurf, denn dieser könne „tödlich sein“. Man wähnt sich in seiner Meinungsfreiheit unterdrückt und verbreitet sich gleichwohl in FAZ und taz und Deutschlandfunk. Man versteht die eigene Position als Ausdruck größter Tapferkeit und Moralität – so, wie noch jede Form des Antisemitismus sich als tapfere und moralische Tat verstand. Man lässt mit Hecht-Galinksi, Bodemann und Grosser die immer gleichen jüdischen Exponenten eine Dämonisierung und Delegitimierung Israels vorantreiben, die der immer gleiche ehemalige israelische Botschafter als diskurswürdig und deshalb mitnichten antisemitisch legitimiert.

Deutschland kann aufatmen: Nicht der Antisemitismus, nein, der Antisemitismusvorwurf wird zum Tabu.

Zu den Fotos: Links (im Uhrzeigersinn): Evelyn Hecht-Galinski, Alfred Grosser, Avi Primor, Y. Michal Bodemann. Rechts: Henryk M. Broder.