10.9.08

Die Logik der Feinde

„Amerika hat, aus welchen Motiven auch immer, Europa von völliger Versklavung gerettet. Die Antwort ist heute überall, nicht bloß in Deutschland, eine weit verbreitete und tief gehende Amerika-Feindlichkeit. Über deren Ursache hat man sich schon viel den Kopf zerbrochen. Ressentiment, Neid, aber auch Fehler, die von der amerikanischen Regierung und ihren Bürgern gemacht werden, spielen eine Rolle. Überraschend ist der Umstand, dass überall dort, wo der Anti-Amerikanismus sich findet, auch der Antisemitismus sich breit macht. Die durch den Niedergang der Kultur bedingte allgemeine Malaise sucht nach einem Schuldigen, und aus den oben angedeuteten und anderen Gründen findet sie die Amerikaner und in Amerika selbst wieder die Juden, die angeblich Amerika beherrschen. Die Demagogen von rechts aber, bis zu einem gewissen Grad auch die von links, haben längst erkannt, dass sich hier ein fruchtbares Feld findet, und nützen die Lage in zunehmendem Maße aus.“ (Max Horkheimer, Mai 1967)


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Um an die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu erinnern, wird die amerikanische Botschaft in diesem Jahr gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde und der Stiftung Neue Synagoge in Berlin eine Gedenkfeier veranstalten. Eine sehr gute und sehr notwendige Sache, sollte man meinen. In einem Editorial des Tagesspiegel gab Malte Lehming unter der flapsigen Überschrift „Sind so viele Opfer“ unlängst jedoch zu bedenken, es fielen, erstens, inzwischen mehr Muslime dem Terror zum Opfer als Christen und Juden, und die geplante Gedenkfeier suggeriere, zweitens, „was Antisemiten und Antiamerikaner gleichermaßen behaupten: Zwischen Amerika und Israel gibt es eine ewige Freundschaft, eine Art unheilige Allianz zum Nachteil der Araber, gesteuert durch mächtige jüdische Lobbygruppen in den USA“. Lehming betonte zwar, dies alles sei falsch und oft widerlegt worden; dennoch machte er das Hauptproblem recht eindeutig bei der Botschaft und der Jüdischen Gemeinde aus: „Die Post-festum-Solidarität amerikanischer und jüdischer Opfer impliziert nun, dass Amerika für die Sünden Israels tatsächlich büßen kann. Sie folgt der Logik der Feinde.“ Schließlich forderte er: „Erst denken, dann gedenken!“

Auf diesen Beitrag des Leiters des Meinungsressorts beim Tagesspiegel reagierte der amerikanische Botschafter in Deutschland, William R. Timken, mit einem Leserbrief. „Wir sind jeder Organisation dankbar, die der Botschaft geholfen hat, der Opfer der Terroranschläge vom 11. September zu gedenken“, stellte er darin klar. Damit umschrieb der Diplomat freundlich das Problem, dass es – obwohl zu dieser Gedenkfeierlichkeit Vertreter verschiedenster Nationen und Religionen eingeladen sind und einige den Termin auch pflichtschuldig absolvieren werden – eben vor allem Amerikaner und Juden sind, denen es ein Bedürfnis ist, einen Rahmen für das Gedenken zu schaffen. Warum? Weil es ihnen ein wirkliches Anliegen ist. Weil ihre Trauer mit der Erkenntnis verbunden ist, dass der Terror im Namen Allahs eben nicht wahllos seine Opfer aussucht, sondern sich gegen jene richtet, die mit dem Westen und mit westlichen Werten identifiziert werden. Symbolisch dafür stehen Amerika und Israel – und (aus guten, also schlechten Gründen) weit weniger Europa, das sich erfolgreich bemüht, die politische Kontinentaldrift zu befördern.

Wenn Malte Lehming meint, es werde doch ganz allgemein „im Westen an jedem 11. September der Opfer der Anschläge gedacht“, dann ist dieser „Westen“ nicht mehr als eine Schimäre. Lehming ignoriert die Phrasenhaftigkeit der ersten Unterstützungsbekundungen nach den Anschlägen, wie sie sich etwa in Gerhard Schröders Parole von der „uneingeschränkten Solidarität mit den USA“ manifestierte. Er ignoriert das kaum zu überhörende deutsche Raunen über die „wahren“ Hintergründe der Attacken (oder doch wenigstens über die „tatsächlichen“ Ursachen des Terrors). Er ignoriert, dass es weder muslimische noch deutsche Organisationen und Initiativen für nötig erachten, in Erinnerung an die Opfer der Anschläge vom 11. September Gedenkveranstaltungen zu organisieren. Es bleibt – und das spricht Bände über die politischen Verhältnisse hierzulande – eben doch Amerikanern und Juden in Deutschland überlassen, genau dies zu tun. Das geplante Gedenken findet Lehming also falsch; er macht es aber nicht den gedanken- und gedenklosen Deutschen zum Vorwurf, sondern jenen, denen die Opfer von Nine-Eleven nicht gleichgültig sind.

Mehr noch: Obwohl die Berliner Veranstaltung sich explizit auf die Terrorattacken vor sieben Jahren bezieht, empfiehlt Lehming einen umfassenderen Blick, denn „seit langem sterben durch Anschläge militanter Islamisten mehr Muslime – wie jüngst in Algerien gezeigt und ständig im Irak und Afghanistan – als Juden oder Christen“. Das stimmt zweifellos, nur: Was will er damit erklären? Lehming glaubt, der Angriff vom 11. September 2001 habe „weder Frauen noch Juden, weder Muslimen noch Christen“ gegolten, „sondern der Freiheit, der Demokratie, der Emanzipation und dem individuellen Streben nach Glück“. Das ist wahr und falsch zugleich: Es wurden Amerikaner als Amerikaner und Juden als Juden angegriffen; es traf konkrete Individuen und nicht nur abstrakte Werte. Der islamische Terror richtet sich grundsätzlich gegen alles als „jüdisch“ oder „amerikanisch“ Verstandene, gerade weil seine Proponenten mit Juden und Amerikanern Freiheit, Demokratie, Emanzipation und individuelles Glücksstreben assoziieren. Er richtet sich aber niemals gegen Muslime als Muslime, sondern er trifft sie genau dann, wenn sie nicht als „wahre“ Gläubige, sondern als „verwestlicht“ betrachtet werden.

Weiter hieß es in Lehmings Editorial: „Was macht den 11. September 2001 zu einem speziell jüdischen Trauertag?“ Diese Frage geht an der geplanten Veranstaltung, die ja zuvörderst von der amerikanischen Botschaft getragen wird, irritierend weit vorbei. Gleichwohl: Der 11. September ist nicht „speziell“, aber eben auch ein jüdischer Trauertag. Denn Nine-Eleven war ein antisemitisch motivierter Anschlag. Und das wird auch nicht dadurch dementiert, dass die wenigsten Opfer Juden waren, sondern vielmehr in der Motivation und Begründung von Al-Qaida besonders evident: Der Terror richtete sich erklärtermaßen gegen New York als „Zentrum des Weltjudentums“, er richtete sich gegen das „jüdische Finanzkapital“, er richtete sich gegen die amerikanische Unterstützung Israels. Die Djihad-Bewegung von den Moslembrüdern bis zu Al-Qaida ist ideologisch nicht nur am Rande, sondern im Grunde antisemitisch. Antisemitismus, so darf eine Basisbanalität in Erinnerung gerufen werden, findet sich eben nicht nur dort, wo tatsächlich Juden getroffen werden, sondern überall, wo Juden vermutet werden und gemeint sind. Eben das unterschlägt Lehming in seiner Polemik gegen die Berliner Jüdische Gemeinde gänzlich.

Diese reagierte in einer Presseerklärung denn auch recht ungehalten auf seinen Kommentar: „Jetzt wird die zionistische Weltverschwörungsthese hervorgeholt, weil die Jüdische Gemeinde zu Berlin gemeinsam mit der US-Botschaft der Terroranschläge des 11. September gedenkt.“ Lehming polterte daraufhin wenig einsichtig, dafür aber umso wuchtiger zurück: „Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Man sollte verantwortungsvoll mit der Kritik an dieser Freiheit umgehen.“ Dabei hat die Jüdische Gemeinde mit ihren Einwänden gegen das Editorial völlig Recht, insbesondere in Bezug auf Lehmings Ansicht, die geplante Gedenkveranstaltung suggeriere, „was Antisemiten und Antiamerikaner gleichermaßen behaupten“, sie zementiere folglich entsprechende Vorurteile, ja, die „Post-festum-Solidarität amerikanischer und jüdischer Opfer“ impliziere, „dass Amerika für die Sünden Israels tatsächlich büßen kann“. Daraus leitet Lehming für in Deutschland lebende Juden Ratschläge her, wie sie selbst am besten dem antisemitischen Ressentiment entgegentreten könnten: indem sie sich nämlich nicht so verhalten, wie es der antisemitischen Vorstellung entspricht. Andernfalls folgten sie „der Logik der Feinde“. Der Tagesspiegel-Redakteur kritisiert auf diese Weise weniger die Protagonisten des Ressentiments als vielmehr die Zielobjekte der antisemitischen Projektion, da diese ja höchstselbst die Manifestierung des Ressentiments betrieben. So ist Lehming gefährlich nahe an der These, Juden seien für den Antisemitismus durch ihr konkretes Verhalten selbst (mit)verantwortlich. Er ist es – um mit seinen Worten zu sprechen – „unabsichtlich zwar, aber das macht die Sache nicht besser“.