Prantls Praxis

Doch darum geht es hierzulande einfach nicht, denn auf der Agenda steht etwas ganz anderes: Etwas, das Heribert Prantl in seinem heutigen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung – Linksliberaler und geachteter Journalist, der er ist – so formuliert: „Bomben auf Beirut, Krieg im Gaza-Streifen, Hunderttausende auf der Flucht. Welche und wie viel Israel-Kritik ist in diesen Tagen in Deutschland erlaubt?“ Sein Beitrag ist mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ überschrieben – eine bloße Koketterie, wie Prantl gleich zu Beginn versichert:
„Die Überschrift dieses Artikels ist antisemitisch. Sie findet sich, als Chiffre für Rachsucht und Vergeltung, Hochmut und Vernichtungswut, in jedem zweiten bösen Kommentar gegen Israel – ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’. Diese Regel steht im Alten Testament, und wer diesen Satz zur Erklärung der Situation im Südlibanon oder im Westjordanland gebraucht, unterstellt damit eine jüdische Mentalität, die von Moses bis Ehud Olmert reicht. Der biblische Satz wird so zur Formel für einen angeblich religiös-genetischen Defekt; und aus der Formel wird ein politisches Deutungsmuster dergestalt: ‚... so steht es im Alten jüdischen Testament, und so praktizieren es die Israelis.’“Der Süddeutsche hat seine Lektion gelernt. „Welche und wie viel Israel-Kritik ist in diesen Tagen in Deutschland erlaubt?“, fragt er im Vorspann, ohne im weiteren Verlauf näher auszuführen, wer es denn eigentlich sein soll, der verfügen könnte, was denn nicht mehr „erlaubt“ ist. Es ist ein, nein: der taktische Trick par excellence aus dem Repertoire des modernen Antisemitismus. Denn „Israel-Kritik“ verbietet definitiv niemand – ganz im Gegenteil: Sie ist in Deutschland majoritär –, und dennoch glaubt eine Mehrheit, die sich als unterdrückte Minderheit wähnt, sehr genau zu wissen, welche Instanzen da aktiv werden: Der Zentralrat der Juden in Deutschland beispielsweise, die israelische Botschaft oder auch die jüdischen Gemeinden. Die Macht, die ihnen zugeschrieben wird, haben sie nicht, und dennoch halluziniert man Tabus, die niemand in die Welt gesetzt hat, um sie desto lustvoller brechen zu können. Auch Prantl tut das, nur stellt er sich ein bisschen geschickter an als die meisten seiner Landsleute, wenn er gleich im Anschluss großzügig konzediert, dass nun mal nicht alles gehe. Doch bevor die Fangemeinde aufhört zu lesen, bekommt sie ein Zückerchen verabreicht:
„Desaströse israelische Politik wird also als Ausfluss angeblich jüdischer Charaktereigenschaft verurteilt. Kritik solcher Art gibt es an den USA nicht, auch wenn die US-Regierung völkerrechtlich fast so jenseits von Gut und Böse agiert wie die israelische.“

„Zahn um Zahn – die inflationäre (und falsche) Verwendung dieses Satzes (der eigentlich für die Verhältnismäßigkeit der Mittel plädiert) ist ein Beispiel dafür, wie Israel-Kritik sich auflädt, wie sie mit Stimulantien für negative Assoziationen arbeitet.“Prantl hat durchaus nicht Unrecht, wenn er das biblische Zitat in seinen Kontext zurückführt und seinen falschen Gebrauch als Beleg für das antisemitische Stereotyp der „jüdischen Rachsucht“ bringt, auch wenn er das Wort Antisemitismus tunlichst zu vermeiden versucht ist und – Klientel ist Klientel – lieber umständlich von „Stimulantien für negative Assoziationen“ schreibt, so, als handle es sich dabei um ein beliebiges Vorurteil oder sogar nur um einen bösen Traum und nicht um ein mörderisches Ressentiment. Aber das muss er auch, denn seine Intention ist eine ganz andere: Es gilt, die vorgeblich bloß schwarzen Schafe auszusortieren, die einem prinzipiellen Bedürfnis schlechte Publicity verschaffen; gleichwohl läuft die Herde schon in die richtige Richtung:
„Derer bedarf man nicht, um Israels Aggression im Libanon zu kritisieren, die sich als Rekrutierungshilfe für die Hizbollah erweisen wird. Man darf, muss es beklagen, dass Israel sich seine Feinde selbst züchtet und zur Verewigung eines mörderischen Konflikts beiträgt. Gegen islamistischen Fanatismus hilft israelische Selbstfanatisierung nicht. Und das Recht auf Selbstverteidigung kann nicht dazu führen, internationale Regeln wie den Schutz der Zivilbevölkerung außer Kraft zu setzen.“

„Solche Mahnung gehört zu der Solidarität mit Israel, wie sie der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert. Solidarität verlangt nicht ein ‚Ja und Amen’ zu Israels Politik in toto, wie das der Zentralrat gerne hätte, und schon gar kein ‚Bravo’, wie es sich der israelische Botschafter in Deutschland erwartet. Einen solchen Solidaritätszuschlag kann es nicht geben.“Es ist kaum mehr als sechzig Jahre her, als man in Deutschland definierte, wer Jude ist. Heute definiert man hierzulande ganz selbstverständlich höchstselbst, wer Antisemit ist – und da exkulpiert man zunächst einmal 82 Millionen Deutsche, deren politische Vertretung schließlich dafür gesorgt hat, dass der größte Massenmord der Geschichte mit dem größten Mahnmal der Welt abgegolten wurde. Das lässt man sich von Zentralräten oder Botschaftern nicht klein reden. Mehr noch:
„In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland haben sich die Gewichte bei der Bewertung des Nahost-Konflikts dramatisch verschoben: Vor fast vierzig Jahren, im Sechs-Tage-Krieg, trieb die Angst um das bedrohte Israel die Menschen zu Sympathie-Demonstrationen auf die Straße. Von dieser Sympathie ist nicht viel übrig geblieben; daran ist nicht allein Antisemitismus schuld. Heute dominiert die pauschale Verurteilung Israels. Zur notwendigen Korrektur dieser Schieflage tragen Forderungen nach bedingungsloser Solidarität mit Israel nicht bei. Israel-Kritik ist geboten.“Wenn der jüdische Staat Maßnahmen zu seinem Schutz ergreift, tut er das in dem Wissen, dass das nicht nur seinen Feinden missfällt, sondern auch denen, die sich als seine Freunde ausgeben, es aber nicht sind. Israel weiß, dass es sich im Zweifels-, das heißt Kriegsfall nur auf sich selbst verlassen kann, und die deutschen und europäischen Reaktionen bestätigen dieses Wissen – desto mehr, je überheblicher und oberlehrerhafter sie ausfallen:
„Solidarität mit Israel misst sich nicht an der Lautstärke von Kritik oder Beifall, sondern am deutschen und europäischen Beitrag zur Befriedung in Nahost. Praktische Solidarität wäre es, sich um einen Gefangenaustausch zu kümmern.“Kurz: Die beste Hilfe für Israel wäre das Appeasement mit seinen Feinden, ginge es nach den Prantls dieser Welt. Gut, dass sie vorerst nur schreiben und leichten Herzens überlesen werden können.
Die Fotos entstammen einer antisemitischen „Demonstration gegen den israelischen Angriffskrieg auf den Libanon und im Gazastreifen“ in Berlin vom 21. Juli 2006, zu der „kurzfristig innerhalb von ein paar Tagen verschiedenste Gruppen und Zusammenhänge der linken Antikriegs- und Friedensbewegung und der palästinensischen Gemeinde sowie libanesische und arabische Vereine aufgerufen“ hatten, wie es bei Indymedia, dem linksdeutschen Intifada-Portal, formuliert wurde.