29.4.06

It’s Zombie time

Was, so fragt man sich, kann man am bevorstehenden Kampftag der Arbeiterklasse – der dieses Jahr lohnabhängigenfreundlich auf einen Montag fällt und somit das Wochenende verlängert – eigentlich Vernünftiges anstellen? Ausschlafen vor allem! Außerdem vielleicht, schönes Wetter vorausgesetzt, einen Ausflug machen, die Seele baumeln und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Traditionsbewusste Proletarier und andere kampferprobte Zeitgenossen jedoch nutzen den 1. Mai für allerlei Manifestationen. Landauf, landab ruft es nach Arbeit für alle, und um diesem schnöden Anliegen, das sich selbst Zweck ist, ein bisschen mehr Attraktivität zu verleihen – zumal an einem Feiertag –, werden ausgefallene Rahmenprogramme ausgetüftelt und angeboten. Alleine in Berlin findet sich das komplette Spektrum – von der obligatorisch-rituellen Randale „für eine andere Welt“ bis hin zum „Run for the future“ des DGB. Nur hier und da verweigern sich ein paar versprengte Aufrechte derlei Zumutungen – die oft genug auch noch mit wüsten Attacken gegen „amerikanischen Raubtierkapitalismus“, „Neoliberalismus“, „israelische Besatzungspolitik“ oder „Kriegstreiberei“ (nein, nicht die des Irren von Teheran – wo kämen wir da hin?) einhergehen – und stellen Rückwärtsgewandtheit und regressive Bedürfnisse linksdeutscher Kämpfer und ihres Anhangs mit guten Gründen an den Pranger.

Die Bonner Gruppen Verein freier Menschen und Never Again! erläutern in einem Flugblatt, warum die Linke sie an Zombies erinnert, was sie von deren Etatismus und Identitätshuberei halten und weshalb die Mai-Aufzüge Ausdruck einer Selbstentmündigung sind. Da die Druckschrift nicht im Netz zu finden ist, soll sie hier in Gänze dokumentiert werden.

Nie wieder Arbeit!
Der 1. Mai, oder: Land of the Dead

Als arbeiterbewegter Linker hat man in diesem Land schon seit geraumer Zeit nichts mehr zu lachen. All die über die Jahre erkämpften und lieb gewonnenen rechtlichen, sozialen und materiellen Güter werden mit Verweis auf marktwirtschaftliche Sachzwänge wieder einkassiert. Der in der korporatistischen Nachkriegsrepublik regelrecht eingeschlafene Klassenkampf erscheint als wieder aufgenommen, nur will das überlieferte, leicht angestaubte Bild der Akteure nicht länger auf die Gegenwart zutreffen. Angesichts des objektiven Fehlens von zylindertragenden und zigarrerauchenden Erzkapitalisten in Zweispännern ist der Gegner auch gar nicht so leicht auszumachen; aber dass es einen Gegner gibt, gilt zumindest als gewiss, anders ist die verkehrte Welt des Kapitalismus nicht recht zu rationalisieren.

Dass die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Substanz und Entwicklung nicht auf persönliche Entscheidungen einzelner übermächtiger Menschen zurückgeführt werden kann, sondern einer mittlerweile verallgemeinerten Eigenlogik, einer zwanghaften und selbstzweckhaften, somit subjektlosen Verwertung des Werts unterworfen ist, spielt nach wie vor in linksdeutschen Analysen kaum ein Rolle. Stattdessen werden konsequent Heuschrecken, Fremdarbeiter und andere nebulöse Unmenschen für all jenes verantwortlich gemacht, was mit dem Weltverständnis einer etatistischen Linken nicht erfasst werden kann: Dass die eigene Existenz und die ihr noch verbliebene Würde (= Arbeitskraft) nicht mehr gebraucht werden, da die allgemeine gesellschaftliche Reproduktion sich in Zeiten eines globalisierten Kapitalismus und der mikroindustriellen Revolution mehr und mehr jenseits proletarischer Wertarbeit vollzieht. Trotz stetig wachsender Produktionskapazitäten immer irrsinnigeren Reichtums gerät – zunehmend auch in den industrialisierten Zentren – die bloße Reproduktion des nackten Lebens in Gefahr. Und der ungeschminkte Anblick des Kapitals offenbart im Gegenzug auch die ungeschminkte Begriffslosigkeit (nicht nur) der deutschen Linken.

Weil der Wandel der Welt nicht verarbeitet wird, müssen die altvorderen Begriffe herhalten, auch wenn diese eigentlich noch nie zugetroffen haben. So wird mal wieder der Staat als angeblich bewährter Krisenretter zum Hort der Emanzipation umgelogen. Er soll den „ungezügelten“, gar „raubtierhaften“ Kapitalismus zurücktransformieren in eine harmlose soziale Marktwirtschaft. Dem Sozialstaat, für Unzählige eine existenzielle, aber eben auch rein instrumentelle Errungenschaft, wird an seinem Sterbebett ein emanzipatorischer Gehalt zugeschrieben, den dieser nie inne hatte und haben konnte. Sein fortschrittlicher Wesenszug – konkreter Rechtsanspruch statt willkürlicher, paternalistischer Wohlfahrt – wird indes zum Wesen des Staates selbst verklärt. Aus einer verständlichen Angst und Abneigung heraus, sich der ideellen Gesamtzumutung des liberalisierten Marktes preiszugeben, verlangt der vereinzelte Einzelne nach Schutz durch den bevormundenden Zwangsapparat des Staats sowie nach Unterwerfung des Individuums unter die Gemeinschaft. Diese beiden Gedanken sind aufs engste mit einander verwoben.

Denn im selben Maße, wie die Fetischisierung des Staates einer freiwilligen Versklavung gleicht, ist die Wiederentdeckung der Gemeinschaft ein „Eingang in die selbst verschuldete Unmündigkeit“ (Gerhard Scheit). Der Glaube an das höhere, nach innen verbindende Prinzip dient nicht zuletzt der gleichzeitigen Veräußerung von Verantwortlichkeit: Da Staat und Volk als Gutes, weil irgendwie Organisches und Sorgendes ausgemacht sind, kann die Schuld für die Krise nur hinter dem Horizont liegen; bei Hedgefonds und multinationalen Konzernen, bei Sozialschmarotzern und Ausländern, in den USA, bei den Juden und „denen da oben“. Die eigene Aufopferung wird stolz als Dienst am Ganzen verstanden, nicht als die blinde Reproduktion von elenden Verhältnissen, die sie ist.

Wenn also am 1. Mai mit vereinten Kräften vor allem eines gefordert wird: „Arbeit, Arbeit, Arbeit!“, so veranschaulicht die Linke nicht mehr als ihre Rückwärtsgewandtheit und ihre regressiven Bedürfnisse. Arbeit wird noch im Augenblick ihrer objektiven Überwindung als ahistorische Naturnotwendigkeit, als Bedingung gesellschaftlichen Fortschritts und als unerlässliche Formierung des Charakters wahrgenommen. Deswegen macht man sich lieber keine Gedanken über die Etablierung einer emanzipatorischen Gesellschaftsformation jenseits von Staat und Kapital, von äußerem wie innerem Zwang in der sinnlos arbeitenden Gemeinschaft, oder wenigstens in einem Anflug von Reflektion, über die Vorzüge einer Loslösung von jener identitären und staatstragenden Großveranstaltung des „Tags der nationalen Arbeit“. Stattdessen werden schwülstige Appelle an die Politik bis zum Erbrechen wiederholt, dass eine andere Welt möglich sei; angesichts der Kategorien, von denen diese hohle Formulierung ausgeht – Nationalstaat, Sozialstaat, Vollbeschäftigung – erscheint eine andere Welt zwar weder möglich noch wünschenswert. Doch die Moral ist mit ihnen.

Der 1. Mai ist der Feiertag einer Linken, die nichts mehr zu feiern hat. Diese Linke ist begrifflich tot, ein Zombie, der wie einbetoniert auf seinem verherrlichenden und verharmlosenden Arbeitsstandpunkt verharrt, gerne auch noch von Klassenkampf und „Scheißkapitalisten“ fabuliert und gleichzeitig sich dem klammheimlich geliebten Staate anzubiedern versucht, während er behutsam ins Museum verfrachtet wird.