22.5.07

Mediale Parallelwelt

Seit einer Woche steht in Israel der westliche Negev, vor allem die Stadt Sderot, erneut unter massivem Beschuss durch aus dem Gazastreifen abgefeuerte Kassam-Raketen. Über 130 dieser Geschosse wurden bislang gezählt. Eines davon traf gestern eine 35-jährige Frau tödlich; außerdem gab es mehrere Verletzte. Zahlreiche Häuser und darüber hinaus auch ein Klassenzimmer einer Oberschule wurden beschädigt oder gar zerstört. Nicht wenige Bewohner wollen Sderot verlassen. In den deutschen Medien wurde über die neuerliche Terrorwelle zunächst so gut wie gar nicht berichtet. Als Israel sich zur Wehr setzte, änderte sich das jedoch – und brachte die gewohnten Schlagzeilen.

Denn es standen nicht die Raketenangriffe auf israelische Zivilisten, ihre Wohnungen, Autos und Schulen im Mittelpunkt, sondern die Reaktion darauf: „Israelische Armee tötet acht Menschen“ und „Israelische Kampfflugzeuge beschießen Gazastreifen“ (Die Welt), „Israel droht Hamas-Spitze mit gezielter Tötung“ (Frankfurter Rundschau) oder „Israel droht Hamas mit schwerer Vergeltung“ (Spiegel Online), verkündeten die Überschriften. In den jeweiligen Beiträgen kam man zwar zumeist nicht umhin, den Beschuss von Sderot und anderen Ortschaften wenigstens kurz zu erwähnen, doch erheblich umfangreicher fielen wie stets die Berichte über die israelischen Abwehrmaßnahmen und Pläne aus. Tenor: Israel überzieht mal wieder maßlos und tötet Unschuldige.

Aus der Vielzahl der Beiträge ragen drei heraus (die junge Welt spielt hier nur außer Konkurrenz mit), die sich in der medialen Parallelwelt besonders hervortun und es in bemerkenswerter Weise vermögen, Sachverhalte zu verrenken. Einer davon entstammt der gestrigen Ausgabe der taz. Das Blatt druckte 59 Zeilen einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa), versehen mit der Überschrift „Israel bombardiert Gaza“. Das klingt nicht nur nach flächendeckendem Beschuss, das ist auch so gemeint: „Nach israelischen Luftangriffen mit vier Toten im Gaza-Streifen hat Ministerpräsident Ehud Olmert der Hamas gestern mit noch härteren Schlägen gedroht. Hamas-Mitglieder würden ‚einen noch höheren persönlichen Preis zahlen’, sollten die Raketenangriffe auf Israel weitergehen, kündigte Olmert während der Kabinettsitzung in Jerusalem an.“

Noch härtere Schläge? Ein noch höherer persönlicher Preis? Hört sich nach einem archaischen Racheritual an statt nach Selbstverteidigung – doch so formuliert eine nicht ganz unbedeutende Nachrichtenagentur eine Nahost-Meldung, die deshalb auch einem Alternativblatt höchst willkommen ist, zumal der im nächsten Satz der Nachricht eingeführte, verniedlichende Terminus „militante Palästinenser“ ein bisschen an die guten alten Zeiten erinnert, als man noch die internationale Solidarität hochleben ließ. Anschließend folgt ein Zitat von „Israels ultrarechtem Vize-Premier Avigdor Lieberman“, dem es gar nicht hart genug zur Sache gehen zu können scheint: „Entweder wird Hamas zerschlagen oder die Regierung.“ Antifa, bitte übernehmen! Keinen Fußbreit dem Faschismus!

Doch was war passiert? „Die israelische Luftwaffe hatte bei neuen Luftangriffen im Gaza-Streifen in der Nacht zum Sonntag vier Palästinenser getötet. Insgesamt seien sechs Ziele bombardiert worden, bestätigte eine Armeesprecherin.“ Um was für Palästinenser und um welche Ziele es sich dabei handelte, erfährt man nicht, dafür aber dies: „Im Norden des Gaza-Streifens wurden drei Palästinenser, die mit einem Auto unterwegs waren, durch einen Raketentreffer getötet. Bei einem anderen Luftschlag wurde in Djabalia ein 15-jähriger Palästinenser getötet, so ein Rettungsdienst.“ Soll heißen: Es wurden Zivilisten getroffen. Alles in allem scheint Israel also wieder einmal ohne Sinn und Verstand herumgeballert zu haben. Und das auch noch, nachdem sich „nach einwöchigen blutigen Kämpfen im Gaza-Streifen mit mehr als 50 Toten die rivalisierenden Palästinensergruppen Hamas und Fatah am Samstag unter ägyptischer Vermittlung erneut auf einen Waffenstillstand geeinigt“ hatten, und zwar mit Erfolg: „Gestern wurden zunächst keine neuen Zwischenfälle gemeldet.“

In der von der taz gedruckten Meldung stellt sich die Situation demzufolge so dar, dass Israel just in dem Moment sein Militär einsetzte, als sich die Palästinenser entschlossen hatten, die Waffen schweigen zu lassen. Dass die Feuerpause zwischen den Parteien der Einheitsregierung vor allem deshalb vereinbart wurde, weil der Krieg gegen den jüdischen Staat alle Kräfte erfordert und die Gewalt nach innen daher vorläufig ruhen soll, war nicht der Rede wert. Auch über die Kassam-Raketen und ihre verheerenden Folgen fand sich in der Zeitung kein Wort. Gleiches gilt für die Drohung der Gotteskrieger, die von der taz aus der dpa-Nachricht herausgekürzt worden war: „Ein Vertreter der Hamas kündigte unterdessen die Fortsetzung der Raketenangriffe auf israelische Siedlungen an.“

Ein weiteres bezeichnendes Stück Nahostberichterstattung geht auf das Konto der Deutschen Welle. Unter der Rubrik „Palästinenser“ und der Überschrift „Israel fliegt Luftangriffe“ finden sich auf der Website des Senders seit dem 17. Mai – also vor dem Agreement zwischen Hamas und Fatah – ein Foto des getroffenen Hauptquartiers der Hamas-Milizen in Gaza, die Bildunterzeile „Keiner hält sich an die Waffenruhe“ sowie diese einleitenden Worte: „Eigentlich hatten Israel und die Palästinenser eine Waffenruhe vereinbart. Doch jetzt fühlt sich Ministerpräsident Olmert provoziert. Die internen Kämpfe zwischen rivalisierender Hamas und Fatah dauern an.“ Bereits die Behauptung, dass sich niemand an die Feuerpause halte, verdreht Ursache und Wirkung; durch das Bild, das die Folgen eines israelischen Militärschlags zeigt, wird das Ganze dann sogar noch zugespitzt. Denn so entsteht der Eindruck, dass es Israel ist, das einen Waffenstillstand gebrochen hat.

Und die Einleitung des Berichts bestätigt das: „Eigentlich“ – eigentlich! – gab es sie ja, die relative Ruhe, aber nun „fühlt (!) sich (!) Ministerpräsident Olmert provoziert“. Mit anderen Worten: Es liegt an sich gar keinen Grund für eine Reaktion auf die Kassam-Attacken vor. Schließlich geht es zuvörderst um „interne Kämpfe“ zwischen „rivalisierenden“ Organisationen – was sich, wie schon bei der taz, eher nach pubertierenden Jugendgangs anhört, die es bei ihren testosteronschwangeren Spielen übertreiben, als nach einem Bürgerkrieg zur Klärung der Frage, welche Mittel zur Beseitigung Israels am effektivsten sind. Dass es im Beitrag dann heißt, Israel sei „in die Kämpfe hineingezogen“ worden, „um die Palästinenser im Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu einen“, stellt zwar einen offenkundigen Widerspruch dar, doch das fiel entweder niemandem auf, oder es war gegenüber den Schlagzeilen zu Beginn des Artikels schlicht nebensächlich.

Der dritte bemerkenswerte Beitrag schließlich ist ein Interview, das in der Radiosendung Morgenecho des Westdeutschen Rundfunks geführt wurde. Gesprächspartnerin war Sumaya Farhat-Naser, Autorin von Büchern mit gefühligen Titeln wie „Thymian und Steine – Eine palästinensische Lebensgeschichte“ und „Verwurzelt im Land der Olivenbäume – Eine Palästinenserin im Streit für den Frieden“ sowie Botanik-Professorin an der Bir Zeit-Universität bei Ramallah. Ob sie eine „neue Großoffensive“ Israels im Gazastreifen befürchte, wurde sie von der Moderatorin gefragt, und da sprudelte es aus ihr heraus: „Ja, die Israelis werden immer wieder reinkommen. Und eigentlich war mit dem Abzug keineswegs die Besatzung zu Ende gegangen. Sondern die totale Kontrolle geht weiter von [den] Israelis. Und die sind immer wieder reingegangen und haben Menschen getötet oder Häuser bombardiert und so weiter.“

Alles völlig grundlos, versteht sich – der Gazastreifen muss fürwahr eine einzige große Friedensbewegung sein. Dass Israel für den Rückzug aus ihm, also die Aufgabe der Kontrolle, mit Raketen und Selbstmordattentaten bedacht wurde, will Farhat-Naser zwar nicht völlig leugnen, aber darauf reduzieren, „politisch unklug“ zu sein, denn: „Israel macht seinen Plan weiter [und schafft] Fakten am Boden, [es] nutzt diese Situation.“ Wie man’s also dreht und wendet: Die Palästinenser bleiben die Opfer. Und was ist mit dem Gemetzel untereinander? Logisch, auch dafür können sie eigentlich gar nichts: „Ich glaube, die Tatsache, dass diese Einheitsregierung nicht von der Welt anerkannt ist, vor allem vom Westen, hat dazu geführt, dass diese Regierung gelähmt blieb und keine Handlungsmöglichkeiten hat. [...] Das trägt dazu bei, dass die Leute am Verzweifeln sind. Und auch durch die Lähmung dieser neuen Regierung, und die Blockade ist da, konnte auch nichts Effektives entstehen, sei es mit den Geldern, die die Beamten zahlen oder irgendwelche Entwicklungsprojekte.“ Kurzum: „Was nutzt es, wenn die Menschen dort eine neue Regierung haben, und immer noch will die Welt sie nicht anerkennen?“ Wäre ja auch zu viel verlangt, einfach mit dem Judenmorden aufzuhören – Wählerwille ist Wählerwille.

Jedenfalls, so Farhat-Naser, dürften die „Sicherheitskräfte“ nicht darauf ausgerichtet sein, „die Hamas zu zerschlagen“; man müsse vielmehr die Sicherheit als eine Sicherheit haben“, und zwar „nicht gegeneinander, sondern miteinander“. Zwar gebe es zwischen der Hamas und der Fatah „grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten (!), wie der Weg zur Befreiung (!) geht und auch hinsichtlich der Friedensgespräche (!)“. Doch das sei „ein Teil des Demokratisierungsprozesses (!), der durchgemacht werden muss (!)“. Eines muss man der Schriftstellerin lassen: Das Stilmittel des Euphemismus beherrscht sie meisterlich. Wohl nicht zuletzt deshalb durfte sie auch das öffentlich-rechtliche Morgenecho geben, denn solche Töne hört man hierzulande ausgesprochen gerne.

„Die Hamas kennt keine roten Linien mehr“, verkündete gestern ein Sprecher der Islamistenpartei die Ausweitung der Angriffe auf Israel, die künftig auch von der Westbank aus geführt würden. Der jüdische Staat müsse von der Landkarte getilgt und durch einen palästinensischen ersetzt werden. Das sei Sinn und Zweck der Angriffe mit den Kassam-Raketen. In die deutschen Schlagzeilen schaffte es diese neuerliche unmissverständliche Vernichtungsdrohung übrigens nicht – das wäre ja auch noch schöner.

Hintergründe zu Sderot bei Planet Hop: Krieg gegen Israel. Ein vortrefflicher Kommentar zu den neuesten Auslassungen des Nahostkorrespondenten der Süddeutschen Zeitung findet sich bei Spirit of Entebbe.