10.5.07

Kai und die Keule

Mal ehrlich: Eigentlich ist es nur mäßig reizvoll, sich über die Bild-Zeitung zu echauffieren. Deren Bigotterie ist schließlich dermaßen offensichtlich und kommt so dreist daher, dass schon ein Überzeugungstäter sein muss, wer sich nicht um sie schert. Die Millionen Deutschen, die sich das populistische Radaublatt regelmäßig einverleiben, wissen jedenfalls, was sie da tun; es ist ihnen schlicht und ergreifend ein Bedürfnis. Der Rest wiederum macht sich, seit Günter Wallraff dereinst seine Innenansichten kund getan hat, mit einiger Verve über das mächtige Boulevardorgan und seine Praktiken her. Inzwischen gibt es sogar einen BILDblog, der zu den wenigen Weblogs gehört, auf die auch die Alten Medien nicht verzichten mögen, und erst kürzlich hat Gerhard Henschel seinen Gossenreport vorgelegt; Untertitel: Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung. Was man dort zu lesen bekommt, hat mit Geheimnissen jedoch wenig zu tun, sondern eher mit ziemlich Bekanntem; die Zusammenstellung von allerlei Skandalen ist zwar solide, aber Henschels Kommentare sind teils redundant, teils schwer moralinsauer, was die Lektüre nicht eben zu einem Vergnügen macht. Dabei ist das Ganze so kompliziert eigentlich nicht: Jeder Zeitung die Leser, die sie verdient, und jedem Leser das Urteil, das er dafür verdient. Es wird schließlich niemand zur Wahl seiner Lieblingspublikation gezwungen.

Einen bekennenden Bild-Käufer (und die Dunkelziffer derjenigen, die im Auslandsurlaub aus tiefstem Herzen froh sind, dass sie mal ohne Gewissensbisse zum Blatt mit den großen Buchstaben greifen dürfen, wenn es keine andere deutsche Zeitung gibt) wird das verbreitete Naserümpfen nicht groß kümmern, denn der will schließlich lesen, was die da oben so alles versaubeuteln (und weshalb er trotzdem die Füße still zu halten hat), was die Ausländer wieder Schlimmes verbrochen haben, warum er hinten und vorne übers Ohr gehauen wird und sich deshalb an denen weiden soll, denen es entweder noch dreckiger geht oder die eine derartige Vollmeise haben, dass die eigenen Deformierungen demgegenüber wie harmlose Schrullen erscheinen. Bei dieser Spezies muss Kritik also zwangsläufig taube Ohren predigen. Das macht pointierte Einwände allerdings selbstverständlich nicht überflüssig. Und die lassen naturgemäß besonders dann aufhorchen, wenn sie – was selten genug ist – gewissermaßen aus dem eigenen Stall kommen.

Am 28. September letzten Jahres beispielsweise war das der Fall, als der Kommentarchef der Welt am Sonntag, Alan Posener, sich auf seinem vorzüglichen Weblog Apocalypso mit der Absage der Mozart-Oper Idomeneo und der Berichterstattung der Bild darüber auseinandersetzte, die unter anderem auf ihrer Titelseite unter der Überschrift „Warum kuschen wir vor dem ISLAM?“ ein Foto gedruckt hatte, das, so Posener, „zeigt, wie Idomeneo nach Art der djihadistischen Splatter-Videos auf Al-Djasira dem Propheten den Kopf abnimmt“. Dieses Vorgehen sei jedoch scheinheilig: „Hätte sich Papst Benedikt gegen die Inszenierung gewandt mit dem Hinweis, ihn verletze es, dass Christus geköpft werde, hätte wohl die ‚Bild’ mit einem Foto aufgemacht, wie Idomeneo Christus köpft und der Zeile: ‚Mit unseren Steuergeldern! Ist das noch KUNST?’“ Ein notwendiger Einspruch, zumal angesichts des damaligen Hypes um die Papst-Rede in Regensburg. Und Posener war noch nicht fertig: „Im Kommentar auf Seite 2 schreibt Georg Gafron: ‚Die Menschen hier fühlen sich ganz überwiegend der christlich-abendländischen Kultur verbunden...’ Was Bild darunter versteht, sieht man unter dem Islam-Artikel, wo ein Bild-Leser-Gedicht neben der üblichen Seite-1-Wichsvorlage abgedruckt ist: ‚Verloren in deinem heißen Schoß / Wird mein Liebesschwert ganz groß’. Was denn nun? Verloren? Oder ganz groß? (Wer’s glaubt...) Manchmal wünscht man sich die Zensur zurück. Oder wenigstens soviel Respekt vor den eigenen Lesern, dass man sie vor sich selbst rettet.“

Treffer versenkt, könnte man sagen. Der Beitrag blieb von Bild respektive dem Springer-Verlag unbeanstandet, auch wenn man dort nicht glücklich mit dieser Wahrheit gewesen sein dürfte. Doch ein weiteres Mal wollte man Posener seine Kritik nicht durchgehen lassen: Als er gestern auf Apocalypso den Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (Foto oben) für dessen neues Buch Der große Selbstbetrug zusammenfaltete und ihm – der Bild-Parole „Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht“ folgend – unter anderem quittierte, „auf fast allen Seiten die niedrigsten Instinkte der Bild-Leser zu bedienen“, wurde der Beitrag nach wenigen Stunden von der Online-Redaktion der Welt gelöscht. Wenn man nun den Text aufzurufen versucht, erhält man nur eine der handelsüblichen Fehlermeldungen: „Möglicherweise sind Sie einem falschen oder veralteten (!) Link gefolgt.“ Die Pressestelle des Springer-Verlags verbreitete zusätzlich eine dürre Stellungnahme, in der es hieß: „Dies ist die Entgleisung eines einzelnen Mitarbeiters. Der Beitrag von Alan Posener über Kai Diekmann ist ohne Wissen der Chefredaktion in den Weblog von Alan Posener gestellt worden. Der Beitrag ist eine höchst unkollegiale Geste und entspricht nicht den Werten unserer Unternehmenskultur. Bei Axel Springer gilt Meinungspluralismus, aber nicht Selbstprofilierung durch die Verächtlichmachung von Kollegen.“

Posener selbst mochte den Vorgang nicht kommentieren, aber das war auch gar nicht nötig. Denn mit dem Statement des Verlags verhält es sich wie mit der Bild-Zeitung: Wer die Bigotterie nicht bemerkt, will sie nicht bemerken oder begrüßt sie sogar. Abgesehen davon, dass es schon reichlich eigenartig wäre, wenn ein leitender Redakteur seine Beiträge auf seinem Internet-Tagebuch vorher einer Kontrolle unterziehen lassen müsste, ist die Behauptung, Kollegialität sei etwas, das zu „den Werten unserer Unternehmenskultur“ gehöre, ziemlich gewagt, um es vorsichtig zu formulieren. Außerdem stellt sie keine nachhaltige Begründung für die Streichung von Poseners Ausführungen dar – es sei denn, man wollte jeder Form von Kritik von vornherein ihre Legitimität absprechen. Und was die „Selbstprofilierung durch die Verächtlichmachung von Kollegen“ betrifft: Darauf versteht man sich bei Bild seit jeher bestens, selbstredend alles im Namen des „Meinungspluralismus“. Die „Entgleisung“, derer Alan Posener schuldig sein soll, ist deshalb keine, sondern ein sehr notwendiger Einwand; bei Bild hingegen verhält man sich, mit Beanstandungen konfrontiert, stets wie der Geisterfahrer, der die ihm geltende Radiomeldung mit den Worten kommentiert: „Einer? Ich sehe hunderte!“

Wer gestern auf Poseners Blog klickte, nachdem der Text zu Diekmann entfernt worden war, las gezwungenermaßen als ersten Eintrag den Artikel vom Vortag, der fast wie ein Menetekel wirkte; er war mit „Wozu Zensur gut ist“ überschrieben und hatte mit den Worten angehoben: „Manche Leute scheinen es darauf anlegen zu wollen, zensiert zu werden, damit sie sich nachher beschweren können über die undemokratischen Zustände bei Welt-Debatte.“ Die taz kommentierte diese Zeilen so hämisch wie dümmlich: „Da hatte sich der Kommentarchef von Springers Welt am Sonntag wohl noch nicht vorstellen können, dass er selbst einen Tag später zensiert werden würde.“ Dabei hatte Posener bloß zum wiederholten Male gute Gründe dafür geltend gemacht, nicht noch die größten Unsäglichkeiten seiner Leser zur Veröffentlichung zuzulassen. Doch mit der Reflexion inhaltlicher Fragen – etwa der, was eine nicht freigeschaltete Pöbelei von der Löschung einer guten Polemik gegen die Bild-Zeitung unterscheidet – befasst man sich bei Dutschkes Erben nicht so gerne, vor allem dann nicht, wenn es um die eigenen Befindlichkeiten geht.

Da Poseners Beitrag nicht mehr aufgerufen werden kann, sei er hier vollständig dokumentiert.


Alan Posener

Wir sind Papst!


Kai Diekmann hat ein Buch angekündigt. Der Titel, Der große Selbstbetrug, scheint zutreffender zu sein, als dem Autor lieb sein kann.

Kai Diekmann, Chefredakteur der Bildzeitung, hat ein Buch geschrieben. Was an und für sich nichts Besonderes ist. Dieter Bohlen hat auch ein Buch geschrieben. Interessant ist jedoch der Inhalt. Diekmann sagt, so die Vorschau des Piper-Verlags, „was Sache ist“. Und zwar so:
„Meine Generation betrügt sich selbst. Wir wollen Reformen, aber ändern soll sich nichts. Wir erwarten ehrliche Politiker, wählen aber die mit den haltslosesten Versprechen. Wir fordern Freiheit, scheuen jedoch Verantwortung.“
Hey, das klingt nach ehrlicher Selbstkritik. Endlich. Ein Berufsleben lang haben diese Mittvierziger davon gelebt, auf die 68er einzudreschen, was sicher Spaß gemacht, ihnen jedoch weder intellektuelle Anstrengung noch moralischen Mut abverlangt hat. Jetzt ist Katerzeit angebrochen; jetzt wird Selbstkritik geübt, jetzt will man sich ehrlich machen; jetzt wird mal gefragt, was diese Generation, die Kinder der fetten Kohl-Jahre und ihrer „fröhlichen Restauration“, denn so viel besser gemacht haben als wir Kinder von Marx und Coca-Cola.

Aber das klingt eben nur nach ehrlicher Selbstkritik. Denn gleich wird sie wieder hervorgeholt, die gute alte 68er-Keule:
„Das Erbe der 68er hat uns in eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, endlich umzukehren.“
Ah ja, klar. Die 68er haben K.D. gezwungen, Politiker zu wählen, die haltlose Versprechen abgaben. (Wen meint er? Den Mann, dessen Autobiographie er als Ghostwriter mitverfasste? Den Mann der „blühenden Landschaften“?) Die 68er haben K.D. gezwungen, Verantwortung zu scheuen. (Was meint er damit?) Die 68er haben K.D, gezwungen, als Chefredakteur der Bildzeitung nach Auffassung des Berliner Landgerichts „bewusst seinen wirtschaftlichen Vorteil aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung Anderer“ zu ziehen. Die 68er zwingen ihn noch heute, täglich auf der Seite 1 eine Wichsvorlage abzudrucken, und überhaupt auf fast allen Seiten die niedrigsten Instinkte der Bild-Leser zu bedienen, gleichzeitig aber scheinheilig auf der Papst-Welle mitzuschwimmen. Die 68er zwingen ihn, eine Kampagne gegen die einzige vernünftige Reform der Großen Koalition zu führen, die Rente mit 67. Die 68er zwingen ihn… aber das wird langweilig. Hier die Kurzfassung: ich bin’s nicht, die 68er sind’s gewesen. Das ist jämmerlich.

Wenn man etwas macht, soll man dazu stehen, oder aber es lassen. Man kann nicht die Bildzeitung machen und gleichzeitig in die Pose des alttestamentarischen Propheten schlüpfen, der die Sünden von Sodom und Gomorrha geißelt. So viel Selbstironie muss doch sein, dass man die Lächerlichkeit eines solchen Unterfangens begreift.

Gegen Ende der 60er Jahre verwandte eine Arbeitsgruppe des SDS viel Zeit und jede Menge Marx, Freud und Co. darauf, das Geheimnis der Bildzeitung zu enträtseln. Als sie fertig waren, fiel den Amateur-Analytikern eine professionelle Analyse in die Hand, die von der Bildzeitung in Auftrag gegeben worden und an ihre Anzeigenkunden verteilt worden war. Die verblüfften SDSler stellten fest, dass sich die Analysen glichen. Die Bildzeitung präsentiere die Welt als Dschungel, als einen gefährlichen und unübersichtlichen Ort, wo „die da oben“ machen, was sie wollen, und wo „wir hier unten“ verloren wären, wenn es nicht die Bildzeitung gäbe. Sie spricht die Wahrheit aus, sie ist Anwalt des „kleinen Mannes“, sie sagt, „was Sache ist“.

So macht sie das bis heute, und sie macht das sehr professionell. Wenn man ein bisschen zynisch ist, auf miniberöckte Vorzimmermiezen großen, auf Ernsthaftigkeit eher weniger Wert legt, kann man dort Karriere machen, und das ist völlig OK so. Einer muss es ja machen, so wie einer den Dieter Bohlen machen muss, und einer den Papst. Aber wenn Dieter Bohlen den Papst geben würde, müsste man auch lachen, oder?