22.6.07

Dialektik des Terrors

Die Spiegel-Korrespondentin Ulrike Putz weiß es schon seit langem: „Der Westen stuft die Hamas als Terrororganisation ein – in Gaza glänzt sie durch sozialen Einsatz. Wichtige Hilfsorganisationen bescheinigen ihr beste Arbeit ohne jede Korruption – kein Wunder, dass die Partei viele Anhänger gewonnen hat“, schrieb sie Mitte Dezember letzten Jahres. Der Leistungskatalog der Gotteskriegertruppe – Märtyrerrenten für Familien, Wohlfahrtseinrichtungen, Suppenküchen, Kindergärten und Koranschulen – hatte sie offenbar überzeugt. Jedenfalls gebe es eigentlich nichts zu meckern, denn „ob die Hamas ihre Wohltätigkeitsarbeit bewusst dazu einsetzt, Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen“, sei schließlich „schwer zu sagen“. Und selbst wenn: Was wäre schon dabei? „Dass Parteien mit ihren Leistungen auf Stimmenfang gehen, gehört überall auf der Welt zu den politischen Spielregeln.“ Warum die Hamas gleichzeitig als antisemitischer Terrorverein agiert, vermochte sich Putz hingegen nicht zu erklären – weil sie den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Fürsorge und Vernichtung nicht begreift.

Der Begriff des Rackets (Max Horkheimer) beschreibt am präzisesten die islamistischen Gruppen wie die Hamas, die Hizbollah oder den Islamischen Djihad, denn in ihm sind die Bedeutungen „Erpresserbande“, „Selbsthilfegruppe“ und „Wohltätigkeitsverein“ gleichermaßen aufgehoben. (1) Er kennzeichnet die Aufhebung aller Vermittlung – wie sie für die bürgerliche Gesellschaft typisch ist und sich im Privaten wie im Arbeitsprozess niederschlägt – zugunsten einer auf Totalität zielenden, unvermittelten Herrschaft, die auf persönlichen Abhängigkeiten und direktem Zwang beruht. „Jede Bande“, konstatiert Gerhard Scheit in seinem Buch Suicide Attack, „organisiert ein kleineres oder größeres Netzwerk der Wohlfahrt, das sich ökonomisch aus verschiedenen Quellen speist: von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft der reicheren arabischen Staaten, von Spendengeldern der NGOs und GOs aus aller Welt und Beiträgen aus dem Topf der Uno- und EU-Organisationen. Auf dieser Basis verwirklichen die Rackets – von staatlichen Institutionen nicht gebunden – die Anforderungen, die heute aus der Sicht der Finanzmärkte und der Weltbank an eine Armutsregion gestellt werden: Sie verwalten die Armut und bleiben privat. Der schlankste Staat ist die Verbrecherbande.“ (2)

Was die Hamas dabei von nichtislamischen Banden unterscheidet, liegt auf der Hand: „Die NGOs der Vernichtung, die im arabischen und islamischen Raum in Aktion getreten sind, verbinden die Organisation der Wohlfahrt, die sie im kleinen gewähren können, mit dem Selbstopfer im Großen. Während etwa eine Organisation wie die Mafia von den Leuten Schutzgeld verlangt, verbunden mit Morddrohungen, die auch wahr gemacht werden, treiben die Selbstmordrackets umgekehrt in den Familien das Anrecht aufs Leben der Söhne und Töchter ein und zahlen hinterher dafür ganz beachtliche Summen, organisieren aber auch einen regelrechten, massenmedial wie traditionell vermittelten Kult, um den Verlust des Familienmitglieds wie einen Kredit zurückzuzahlen.“ (3) Es ist vor allem diese Form von Wohlfahrt, die für Anerkennung, ja für eine massenpsychologische Identifikation in der Bevölkerung sorgt und im Verbund mit Gewaltdrohungen und -exekutionen eine Herrschaftsbasis ergibt, wie sie sonst nur der Staat hat: „Durch ihre sozialen und ökonomischen Hilfsleistungen nistet sich die Macht der Rackets zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Familie ein – und zwar immer dann, wenn der Staat von sich aus nicht imstande ist, die darin auseinanderstrebenden Kräfte zu integrieren.“ (4) Nicht zuletzt das hat der Hamas zu Beginn des Jahres 2006 ihren überwältigenden Wahlerfolg ermöglicht, und es verschafft ihr nun auch zunehmend Akzeptanz nach der Eroberung des Gazastreifens, wie noch zu zeigen sein wird.

Zivilbevölkerung als Volksgemeinschaft

Karitative Einrichtungen – private wie kirchliche und politische – sollen gewöhnlich die Lücken, die der Sozialstaat mit seinen Alimentierungen lässt, ein wenig füllen, unentgeltlich und „ehrenamtlich“, aber nicht ohne Anerkennung. „Vordem erwarteten sich die Barmherzigen ihren Lohn von Gott“, schreibt Gerhard Scheit in Der Jargon der Demokratie. „Für die bürgerlichen Wohltäter, die an ihn oder an die himmlische Belohnung nicht mehr glauben, bleibt davon nur das gesellschaftliche Ansehen, das man durch seine Taten erwirbt. Der kollektive Wohltäter jedoch, der auf religiöse und nationale Identität baut, fordert von seinen Schützlingen als Dank zumindest eine Gesinnung.“ (5) Unter diesem politischen Druck verlieren die Almosenempfänger auch noch den letzten Rest ihrer Autonomie; sie geraten in eine unmittelbare und personale Abhängigkeit. Im Unterschied zum Sozialstaat, der in der Regel eine relative Privatheit gewährt, ist es den Rackets eigen, „dass sie sich persönlich um den einzelnen kümmern, der einzelne seine Anonymität [...] aufgibt oder aufgeben muss. [...] Das Individuum findet sich wieder in einer sekundären Familie, in Beziehungen, die nicht durch Tausch konstituiert sind, sondern durch Gabe: durch einen Tausch also, dessen Gegenstände und Leistungen sich vom Individuum nicht loslösen – wie die Waren und die Arbeitskraft per Vertrag; die ihm vielmehr zuwachsen oder gleichsam anwachsen – wie die Privilegien und Pflichten den Individuen in vorkapitalistischen Verhältnissen. Wer in den Genuss solcher Wohltätigkeit kommt, fühlt sich so persönlich wie nur möglich, also mit Seele, Leib und Leben, gebraucht.“ (6)

Gemünzt auf den „islamistischen Marshallplan“ sieht das dann etwa so aus: „Das Wohnhaus wird von einem Bauunternehmen mittels Lohnarbeit errichtet. In die Finanzierung fließen Gelder einer Wohltätigkeitsorganisation ein, die auch sonst manches beitragen kann, dass die Bewohner finanziell über die Runden kommen. Dann schiebt der karitative Verband seine Raketenabschussrampen in den Hof des Hauses – und es wird in der Folge zerstört, um die Raketenangriffe, die von dort aus erfolgten, zu verhindern. Sogleich treten die barmherzigen Raketenbrüder wieder auf den Plan und zahlen nicht nur erhebliche Summen für den Wiederaufbau des Hauses, sondern auch einzelnen Bewohnern eine Prämie dafür, dass Familienmitglieder bei dem Angriff getötet wurden. Märtyrertum zahlt sich aus.“ (7) Das will hierzulande jedoch kaum einem Medienberichterstatter auffallen, weshalb bei jeder israelischen Verteidigungsaktion wort- und gestenreich „Verluste in der Zivilbevölkerung“ beklagt werden. Mit jener im Gazastreifen oder dem Libanon können sich die Deutschen dabei umso besser identifizieren, „als sie selbst doch immer davon profitiert haben, ihre Volksgemeinschaft hinterher als Zivilbevölkerung zu deklarieren. [...] Während aber Goebbels noch aus dem Volksempfänger brüllte, das Weltjudentum hetze die amerikanischen und englischen Bomber aufs deutsche Volk, wird in den Medien von heute in besonnen klingendem Tonfall von der Zivilbevölkerung gesprochen, um den jüdischen Staat, also den Juden unter den Staaten, durchaus zurückhaltend als Mörder unschuldiger Menschen ins Spiel zu bringen. [...] Als hätten Gruppen wie Hizbollah und Hamas die Trennung zwischen zivilen und militärischen Einrichtungen, die von den deutschen Freikorps, der SA und SS schon einmal beseitigt worden waren, nicht erneut aufgehoben; als wären die Terroristen nicht selber Zivilisten und der Djihad nicht eine ebenso zivile wie militärische Anstrengung: als wäre der Islam nicht eine Religion, die von vornherein eine solche Differenzierung der Gesellschaft unterlaufen hat.“ (8)

Doch die Frage, „warum diese Zivilbevölkerung sich denn zu ‚menschlichen Schutzschildern’ machen lässt und welche Verhältnisse es Hamas und Hizbollah ermöglichen, ihre Waffen in oder bei den Wohnhäusern, Schulen und Spitälern unterzubringen“, stellt kaum einer derjenigen, die sich betroffen geben, wenn die israelische Luftwaffe solche Depots unschädlich macht. Im Gegenteil kommt dann regelmäßig der „Demokratisierungsprozess“ ins Spiel, an dem sich die Hizbollah im Libanon und die Hamas im Gazastreifen beteiligten, der nun aber von Israel unterbrochen werde. „Und wirklich handelt es sich um eine Art Demokratisierung, soweit die Bandenherrschaft, die zunehmend den Alltag der Menschen zu umfassen vermag, auch noch von ihnen bejaht wird, und sie wird offenbar nicht zuletzt deshalb bejaht, weil die islamischen Terrorgruppen zugleich islamische Wohltätigkeitsorganisationen sind. Genau so dürften Islam und Islamismus, die auseinander zu dividieren das Geschäft der Islamexperten und Journalisten ist, auch im Allgemeinen zusammenhängen. Wohltätigkeit im Sinne Allahs und seines Propheten stellt nur die andere Seite jenes direkten Zwangs und jener offenen Gewalt dar, die eine wirklich direkte Demokratie durchherrschen. Organisationen wie Hamas und Hizbollah, die an den Grenzen Israels wohltätig sind, verkörpern unmittelbar diese Einheit von Terror um seiner selbst willen und Wohlfahrt um dieses Terrors willen. Mittelbar findet sie sich jedoch im ganzen Netz islamischer Hilfsorganisationen, das inzwischen als groß angelegte Akkumulation von finanziellen, technischen und personellen Ressourcen für die NGOs der Vernichtung betrachtet werden muss.“ (9)

Repressive Wohlfahrt

Es ist diese repressive Wohlfahrt, die mit dem Vernichtungsterror gegen Israel und dem ungehemmten und erbarmungslosen Bürgerkrieg einher geht. Die Erschießung von Fatah-Funktionären und die Ermordung politischer Gegner durch einen Wurf aus dem fünfzehnten Stock waren deshalb auch die Voraussetzung dafür, im Gazastreifen Friedhofsruhe entstehen zu lassen und sich an die Errichtung eines islamischen Staats zu machen. Ganz in diesem Sinne hat Mahmud Al-Sahar, ein Mitbegründer der Hamas, im Interview mit Ulrike Putz Klartext gesprochen: „Unsere Lebensweise und Tradition in Gaza ist islamisch. Der Handel, die Hochzeiten, die Scheidungen, alles ist islamisch. Wenn wir erst einmal einen Staat haben werden, wird es Freiheit für alle geben. [...] Wenn es in der ganzen arabischen Welt freie und faire Wahlen gäbe, würde die islamische Gesellschaftsform überall gewinnen. Denn der Islam ist gegen die Korruption, die Verweichlichung und den Materialismus, der die Gesellschaft in Europa und Amerika zerstört hat. Dort sind die Familien kaputt, es gibt Aids und Drogen. Solche Dinge gibt es hier nicht.“ Es ist dies ein Plädoyer für die Unterwerfung unter personale Abhängigkeiten und gegen die Vermitteltheit gesellschaftlicher Verhältnisse, gegen selbstbewusste Individualität, gegen den Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Interesse und gegen Glück und Genuss. Es ist ein antisemitisches Plädoyer und eines wider die Emanzipation des Individuums. Und es ist deshalb eine Drohung, wie auch Al-Sahars Mitstreiter Ahmed Yousef, Berater des von Abbas geschassten Premierministers Haniya, bekräftigt: „Unser erklärtes Ziel nach dem Gewinn der Wahlen war es, Reformen durchzuführen, die Korruption zu beenden und Wohlstand zu schaffen. Unser Fokus liegt einzig auf den Rechten der Palästinenser und guter Regierungsarbeit. Wir hoffen nun, ein Klima des Friedens und der Ruhe in unserer Gemeinschaft erzeugen zu können, das zu einem Ende der internen Kämpfe führt.“

Das scheint vorerst gelungen, wie auch Ulrike Putz befindet: „Die Strände des Gaza-Streifens sind knackvoll. Vom Kleinkind bis zum Teenager toben Tausende Jungs und Mädchen im Mittelmeer, ihre Väter surfen auf Bodyboards durch die Brandung. Frauen in bodenlangen Gewändern stehen nabeltief im Wasser und halten ein Schwätzchen. Unter den Sonnenschirmen, die Gaza-Stadt wie eine kilometerlange bunte Borte säumen, sitzen Oma und Opa und rauchen Wasserpfeife. Die fliegenden Händler machen beste Geschäfte, der Jüngling, der Kamelreiten für die Kleinen anbietet, hebt ein Kind nach dem nächsten auf den Rücken seines Tieres: Gaza in Woche eins nach der Machtübernahme der Hamas.“ Klingt nach geradezu paradiesischen Zuständen: „‚Endlich leben wir in friedvollen Zeiten’, ruft uns ein Mann, dessen Familie sich am Strand zum Picknick versammelt hat, zu sich. Er ist Englischlehrer bei einer von der Uno betriebenen Grundschule in einem Vorort von Gaza-Stadt. Noch vor zwei Wochen sei das Leben in Gaza furchtbar gewesen, sagt er. ‚Wer immer wollte, konnte dir ein Bestechungsgeld abpressen, konnte dich einfach anhalten und dein Auto stehlen’, sagt Abu Bashar. Das sei nun vorbei. Sicherheit ist auch seine Antwort darauf, was der Machtwechsel in Gaza für die Menschen bedeutet. Sicherheit nicht nur vor Gewalt: ‚Als die ersten Supermärkte angefangen haben, die Lebensmittelpreise zu erhöhen, haben Kämpfer der Kassam-Milizen der Hamas bei den Besitzern vorgesprochen’, sagt Abu Bashar. Am nächsten Tag seien die Preise wieder normal gewesen.“ Das Bestechungsgeld, das gestohlene Auto, die Preissenkungen – all das war bisher schon Folge der Willkür der Rackets, und dass sich jetzt eines davon im Gazastreifen opferreich durchgesetzt hat, ändert daran nichts, im Gegenteil: Indem die Hamas gebietsweise einen Konkurrenten los geworden ist, kann sie nun – wie es der Wählerwille war – ungehindert ihr Regime entfalten, mit allen beschriebenen Konsequenzen.

Putz jedoch will das nicht so negativ sehen: „Das Bild, das sich in vielen Begegnungen von der Herrschaft der Hamas formt, ist auf den ersten Blick sehr klar. Die Hamas garantiert Sicherheit, sogar die ihrer Feinde, loben die Leute. Wo vorher Willkür und Angst herrschten, wache nun eine prinzipienstrenge, aber gerechte Organisation über das Wohlergehen der Bevölkerung.“ Gleichwohl hegt auch sie leichte Zweifel an der Eitelkeit des Sonnenscheins: „Dass aus Fürsorge schnell Überwachung werden kann, und dass es doch etwas seltsam ist, dass die Hamas anscheinend über alles und jeden im Gaza-Streifen Bescheid weiß, haben die Menschen nicht im Blick.“ Dass die Überwachung der Hamas – um nicht zu sagen: ihr Terror – nicht nur aus der Fürsorge resultieren kann, sondern untrennbar mit ihr zusammenhängt, geht der Spiegel-Korrespondentin nicht ein, und deshalb vermag sie sich auch die Omnipräsenz und die Allwissenheit der Gotteskriegerbande nicht zu erklären. Daher bleibt ihr nur ein achselzuckendes „Die Einwohner Gazas sind entschlossen, das Heute zu genießen. Wer weiß, was morgen ist.“ Diejenigen, die es zumindest ahnten, haben den Gazastreifen bereits in Scharen verlassen. Dass die Hamas laut einer Umfrage an Popularität eingebüßt hat, dürfte jedoch nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Denn den „internen Machtkampf“ – laut Erhebung das für die Palästinenser drängendste Problem – hat sie im Gazastreifen gewonnen, und auch den derzeit zweitwichtigsten Komplex, die Armut, geht sie auf ihre Weise an. Bleibt die drittplatzierte Sorge, die „israelische Besatzung“. Und die wird – das ist bekanntlich das erklärte Ziel der Gotteskrieger – so bald wie möglich wieder Vorrang haben. So geht die Dialektik aus Terror und Wohlfahrt.

Anmerkungen
(1) Vgl. Wolfgang Pohrt: Brothers in Crime. Die Menschen im Zeitalter ihrer Überflüssigkeit. Über die Herkunft von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets, Gangs, Berlin 1997.
(2) Gerhard Scheit: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004, S. 433.
(3) Ebd.
(4) Gerhard Scheit: Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth, Freiburg 2006, S. 58.
(5) Ebd., S. 60.
(6) Ebd., S. 61.
(7) Ebd., S. 55.
(8) Ebd., S. 56.
(9) Ebd., S. 56f.

Hattip: barbarashm