19.6.07

Welcome to Hamastan

Unbeirrt grüßt das Murmeltier täglich weiter: Nachdem die Hamas den Gazastreifen erstürmt, vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner erschossen respektive von Hochhäusern gestoßen und sogar Arafats Friedensnobelpreis konfisziert, mithin also Fakten geschaffen hat, widmet sich die deutsche Medienlandschaft mehrheitlich wieder ganz der Frage, was Israels Anteil an dieser desaströsen Situation sein könnte. Und das mit dem gewohnten Engagement: Die notorische Ulrike Putz etwa hat auf Spiegel Online zwar Mühe, den Überblick zu behalten„Es ist in diesem Tagen schwierig, eine akkurate Einschätzungen der Lage in Gaza zu bekommen“ –, aber das liegt eher nicht an den Gotteskriegern: „Israel lässt keine ausländischen Medienvertreter in den abgeschotteten Landstrich hinein.“ Das ist fraglos misslich, denn „so bleiben nur das Telefon und die Augenzeugenberichte der Kollegen, mit denen man schon früher zusammengearbeitet hat und denen man vertraut“. Einen Dissens gebe es da jedoch nicht: „In einem sind sich alle einig, die nach mühsamem Herumtelefonieren zu erreichen sind: Die Situation im Gaza-Streifen hat sich nach den heftigen Kämpfen dieser Woche entschärft, die Bevölkerung kann aufatmen.“ Das bestätige auch der Journalist Safuat al-Khalut, laut Putz „kein glühender Hamas-Anhänger“: „Zum ersten mal seit Tagen können wir wieder auf die Straße gehen. Wenn die Hamas eins kann, dann Disziplin und Ordnung durchsetzen.“ John Ging, der Direktor des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge UNRWA, konnte sich da nur anschließen: „Ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung herrscht vor.“

Alles könnte also in bester Ordnung sein, gäbe es nicht ein Problem: „Was die Palästinenser im Gazastreifen umtreibt, ist die Reaktion, die die Machtübernahme des militärischen Flügels der Hamas am Mittelmeer nach sich ziehen wird.“ Keinesfalls dürfe es daher weitere Sanktionen geben, wird der „Uno-Experte“ zitiert, denn „die meisten Menschen hier wollen in Frieden leben, egal unter wem“. Und „wenn die Staatengemeinschaft wegen der Machtübernahme der Hamas nun noch einmal die Schraube“ anziehe, sei das „eine Kollektivstrafe“. Wie man überhaupt sagen müsse, findet Ulrike Putz, dass die „fast andauernde Schließung der Grenzübergänge seit dem Abzug der Israelis“ die palästinensische Bevölkerung „jeder Freiheit beraubt“ und „die Einstellung der Hilfszahlungen öffentliche Institutionen handlungsunfähig gemacht“ hätten. „Das hat dazu geführt, dass zivilisierte Menschen“ – die die Palästinenser zuvor offenbar stets gewesen sein müssen – „aufeinander losgehen“, stimmt ihr Gesprächspartner Ging zu. Und auch Kollege Khalut weiß, dass die Israelis nichts Gutes im Schilde führt: „Sie wollen uns belagern, uns endgültig isolieren.“ So weit zu Frau Putz und ihren „Augenzeugenberichten der Kollegen, mit denen man schon früher zusammengearbeitet hat und denen man vertraut“. Sie weiß halt, wo sie durchklingeln muss, um das zu erfahren, was sie schreiben will.

Auch für den DLF-Kommentator Marcel Pott ist der vermeintliche Boykott gegenüber der von der Hamas geführten palästinensischen Administration – der seinen Namen nicht verdient – schuld an den Eskalationen: „Die USA weigerten sich, die Koalitionsregierung anzuerkennen, Israel lehnte es ab, mit ihr zu sprechen, und die Europäer redeten zwar mit einzelnen Ministern, konnten sich aber nicht dazu durchringen, ihre ablehnende Haltung zu revidieren.“ Und das stärke – na klar – „jene Kräfte in der Hamas, die jeden politischen Kompromiss ablehnen“. Gibt es auch andere? Egal: „Als sie merkten, dass die Menschen in Gaza ihre Hoffnung auf ein Ende des Boykotts aufgaben, und Amerika al-Fatah gegen sie aufrüsten wollte, schlugen die al-Kassam-Brigaden los.“ Ein bisschen wie Robin Hood, auch wenn mancher die hehren Motive in Zweifel zu ziehen wagt: „Man vermutet“ – aber „man“ weiß es nicht genau –, „dass sie dabei von iranischen Spezialeinheiten und vielleicht“ – vielleicht aber auch nicht – „von al Qaida-Terroristen unterstützt wurden“.

Spielt alles jedoch ohnehin keine Rolle, denn wichtig ist etwas ganz anderes: „Was geschehen ist, zeigt, dass die Politik des Westens, Hamas zu isolieren, auf der ganzen Linie gescheitert ist.“ Denn: „Die Finanzsanktionen stürzten die Menschen noch tiefer ins Elend.“ Und das hatte Folgen: „Statt Hamas zu entmachten oder die Anerkennung Israels zu erzwingen, wuchs in der Bevölkerung die Verzweiflung und damit die Gewaltbereitschaft und der Hass gegen den Westen.“ Logische Konsequenz: „Wenn die Araber, der Westen und auch Israel in Gaza das Feld nicht dem Iran und den Terroristen von al Qaida überlassen wollen, muss Hamas in einen politischen Prozess eingebunden werden.“ Und da kann es nur einen geben: „Jetzt ist also zuallererst wieder der saudische König Abdallah gefragt.“ So hat jeder Pott seinen Deckel; ersatzweise tut es aber auch eine Kopfwindel. Da muss man nicht kleinlich sein.

Die taz wiederum ließ zwischenzeitlich gleich einen Autochthonen ran, der schon immer wusste, wo der Hammer hängt: Tarafa Baghajati, Mitbegründer und Sprachrohr der Initiative Muslimischer ÖsterreicherInnen (IMÖ). Der fand es zwar „traurig und zugleich beschämend, dass jetzt sogar gezielte innerpalästinensische Tötungen vollzogen werden“, doch die seien letztlich das „Ergebnis einer langfristigen Entwicklung“. Und zwar dieser: „Vor wenigen Tagen feierte Israel den 40. Jahrestag seines Sieges über seine arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Syrien, Jordanien sowie die Palästinenser im Sechstagekrieg. Für die Palästinenser ist der 5. Juni 1967 hingegen al-Naksa, ein Tag der Trauer. Wörtlich übersetzt bedeutet al-Naksa in etwa ‚der Rückschlag, der kaum verkraftet werden kann’. Der Ausdruck spiegelt wider, dass es sich für die Araber nicht nur um eine militärische Niederlage handelte, sondern um ein Ereignis mit schwerwiegenden Folgen für die kommenden Generationen.“

Und das sei längst nicht der Anfang gewesen; dieser müsse vielmehr auf den Teilungsplan der Uno datiert werden, der Israel 1947 „über die Hälfte des Gebiets des historischen Palästina zusprach. In der Folge wurden ca. 800.000 Palästinenser in die umliegenden Nachbarländer vertrieben“. Dies in aller Kürze zur Geschichte der Gründung des jüdischen Staates; weitergehende Erkenntnisse muss man von Dutschkes Erben in der Berliner Kochstraße aber auch gar nicht erwarten. Oder doch? „Im Libanon hat die vielfältige Diskriminierung der Palästinenser, die von vielen Berufen ausgeschlossen sind und nicht einmal Grundbesitz erwerben dürfen, dazu geführt, dass sich die Flüchtlingslager zu Brutstätten militanter Extremisten wie der Fatah al-Islam entwickeln konnten. Wenn sich dieses Szenario jetzt im Gaza-Streifen wiederholt, wird Israel es eines Tages bereuen, auf die Hamas als stabilisierende Kraft verzichtet zu haben.“ Doch, doch: Der Mann meint das ernst.

Aber nicht nur in Deutschland liest man befremdliche Expertisen. Gabriel Schoenfeld zeigt in einem Beitrag für das Weblog des Commentary Magazine, dass auch andernorts Unsinn erzählt und Illusionen gepflegt werden. „Es ist natürlich vorstellbar – so wie alles vorstellbar ist –, dass die zu neuer Stärke gelangte Führung der Hamas den Weg Richtung Pragmatismus einschlagen wird; das ist es, was unserer eigenen, pragmatischen Logik folgt“, schreibt er. „Aber vielleicht operieren diese islamischen Radikalen einfach unter einem anderen logischen System“ – wie auch die Hizbollah im Libanon. Lizas Welt hat Schoenfelds Text aus dem Englischen übersetzt.


Gabriel Schoenfeld

Willkommen, Hamas!

Contentions (Weblog des Commentary Magazine), 15. Juni 2007


Geschichte wiederholt sich auf eine Art, aber nicht immer schreitet sie von der Tragödie zur Farce fort, wie es ein gebräuchliches Zitat von Karl Marx will. „Stille hat sich auf Gaza niedergelassen“, berichtete die New York Times heute früh. Im Zuge des vollständigen Rückzuges Israels im Jahre 2005 und des darauf folgenden Gerangels um die Macht zwischen der Hamas und der Fatah ist erstgenannte jetzt im Gazastreifen zur Macht gelangt. Was nun? Es gibt bereits Stimmen, die erklären: Wenn die Hamas die Hoffnungen der seit langem leidenden Einwohner Gazas erfüllen soll, wird sie unweigerlich gezwungen sein, ihre terroristische Taktik aufzugeben und einen pragmatischeren und realistischeren Umgang mit Israel und der restlichen Welt zu wählen.

Wie zum Beweis dafür gab es an diesem Morgen eine Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press: „Die Hamas gelobte am Freitag, die Freilassung des entführten britischen Journalisten Alan Johnston sicherzustellen – ein Versprechen, das offenbar dazu bestimmt ist, die Welt da draußen nicht zu verprellen und gleichzeitig den bewaffneten Gruppen in Gaza deutlich zu machen, dass man beabsichtigt, die Kontrolle zu übernehmen.“ Der britische Minister für das Hochschulwesen, Bill Rammell, gab im Rahmen eines Israel-Besuchs zu Beginn der Woche zu Protokoll, er habe „weiter die Hoffnung, dass die Hamas oder zumindest einige ihrer Mitglieder sich noch mäßigen“. Der Jerusalem Post sagte er: „Ich glaube wirklich nicht, dass die Positionen der Hamas für immer in Stein gemeißelt sind.“

Mag sein. Aber was können wir aus der jüngsten Vergangenheit lernen?

Als sich Israel aus der Sicherheitszone zurückzog, die es im Südlibanon im Jahre 2000 eingerichtet hatte, habe es zahlreiche Prognosen gegeben, „dass die radikale Schiitengruppe Hizbollah, deren Kampfeinheiten unbarmherzig die israelischen Besatzungstruppen angegriffen haben, ihre militärischen Operationen nun beenden und sich künftig ausschließlich um die inneren Angelegenheiten des Libanon konzentrieren werde“, notierte der israelische Analyst Gal Luft 2003. Doch was geschah wirklich? Zunächst, schrieb Luft, habe die Hizbollah erklärt, ihr Ziel sei „die Befreiung des ganzen Landes Palästina und die Zerstörung der ‚zionistischen Entität’“. Dann habe sie die Kontrolle über die gesamte Pufferzone übernommen, die von Israel besetzt worden war, und sie „de facto in einen Staat im Staate“ verwandelt. „Hizbollahland“ taufte Luft dieses Gebiet, als er darauf hinwies, dass die Terrororganisation es geschafft habe, „einen beträchtlichen Vorrat an Waffen anzuhäufen, inklusive 10.000 Raketen, mit denen ein Viertel der israelischen Bevölkerung getroffen werden kann.“

Das war 2003. Drei Jahre später hatte die Hizbollah 20.000 Raketen, und ihre Verwüstungen zogen Israel und den Libanon in einem schweren und blutigen Krieg.

Wie sieht die Zukunft in Hamastan aus? Es ist natürlich vorstellbar – so wie alles vorstellbar ist –, dass die zu neuer Stärke gelangte Führung der Hamas den Weg in Richtung Pragmatismus einschlagen wird; das ist es, was unserer eigenen, pragmatischen Logik folgt. Aber vielleicht operieren diese islamischen Radikalen einfach unter einem anderen logischen System. Das Spektakel, bei dem die Verlierer die Kampf um die Macht im Gazastreifen – ihre palästinensischen Landsleute – von fünfzehnstöckigen Hochhäusern geworfen und in die Knie geschossen wurden, bevor sie einen Kopfschuss erhielten, legt jedenfalls nahe, dass es manchmal nicht nur die Geschichte ist, die sich im Kreis dreht, sondern genauso die Illusionen über sie.

Hattips: barbarashm, Spirit of Entebbe