Die Protokolle der Weisen vom Campus

Aber das steht da nicht, sondern vielmehr dies: „Doch die uneingeschränkte Solidarität schwindet. Nun brechen zwei Experten mit fundierter Kritik ein Tabu und lösen eine überfällige Debatte aus.“ Fünf Lügen in nur zwei Sätzen, das muss man erst mal schaffen: Eine „uneingeschränkte Solidarität“ mit Israel gab es nie, die „zwei Experten“ sind ihrer akademischen Funktion zum Trotz nichts als Demagogen, bei der „fundierten Kritik“ handelt es sich de facto um eine Neuauflage der Protokolle der Weisen von Zion, das behauptete „Tabu“ war zu keiner Zeit existent, und die „überfällige Debatte“ braucht nicht erst ausgelöst zu werden, weil sie sich schon seit Jahrzehnten austobt. Da es aber das Credo der „Israel-Kritiker“ ist, auszusprechen, was angeblich niemand sich zu sagen traut – wiewohl es alle ungehindert tun –, und weil dieses Credo mainstreamkonform ist, obzwar respektive weil sich seine Vertreter als verfolgte Minderheit wähnen, kann die Wahrheit eine Pause einlegen, ohne dass es einem wissenschaftlichen Verlag schaden würde. Im Gegenteil dürften sowohl Campus als auch Mearsheimer und Walt ihre Reputation mit der Publikation deutlich befördern.

Und dazu passt, dass sich Mearsheimer und Walt allen Ernstes als Opfer dieser „Israel-Lobby“ fühlen und sich darüber beklagten, deretwegen kein Gehör zu finden. Aber „wieso haben sie dann einen Vorschuss von 750.000 Dollar von einem Verlag, Farrar Strauss, bekommen, dessen legendärer Mitgründer Roger Strauss Jude war?“, fragte Josef Joffe in der Zeit vollkommen zu Recht. „Stephen Walts Professur in Harvard wurde von Robert und Renée Belfer gestiftet, zwei jüdischen Philanthropen und Israel-Freunden.“ Und das sind nicht die einzigen Widersprüche. Warum erkannte die Sowjetunion den jüdischen Staat schneller an als die USA? Warum weigerten sich die Vereinigten Staaten bis weit in die sechziger Jahre hinein, Waffen an Israel zu liefern, das deshalb in dieser Hinsicht auf den Ostblock und Frankreich angewiesen war? Warum nötigte Henry Kissinger die Israelis, sich im Yom-Kippur-Krieg 1973 hinter den Suezkanal zurückzuziehen? Warum wollte Ronald Reagan 1982 nicht, dass sie Beirut einzunehmen? Warum verlangte George Bush senior 1991 von Israel, sich trotz Saddam Husseins Raketenangriffen passiv zu verhalten? Warum bestand Bush junior darauf, der Hamas trotz israelischer Bedenken die Beteiligung an den palästinensischen Parlamentswahlen zu gestatten? Warum verlegen die USA ihre Botschaft nicht von Tel Aviv nach Jerusalem? Und schließlich: Warum hat die „Israel-Lobby“ eigentlich nicht das Buch von Mearsheimer und Walt verhindert?
Wohl deshalb, weil sie nicht zu viel, sondern viel zu wenig Einfluss hat. Josef Joffe hat jedoch noch eine andere Erklärung: „Entweder die Israel-Lobby muss noch üben – oder sie geht besonders infam vor. Demnach, schreibt Max Boot in der Los Angeles Times, hätten die Hebräer mit Walt einen schlappen Einflussagenten alimentiert, damit er mit seiner löchrigen Streitschrift die Anti-Israel-Kräfte ein für alle Mal als garstige Amateure diskreditiere. Diese Verschwörungstheorie ist zumindest witzig.“ Robert Misik wird über sie allerdings nicht lachen können: „Die proisraelischen Organisationen haben in den vergangenen Jahren den Bogen entschieden überspannt, und die vielen Führer jüdischer Gruppen und Gemeinden haben weder ihren Mitgliedern noch Israel einen Dienst erwiesen, dass sie sich vor den Karren von Scharon, Olmert & Co. spannen ließen“, geiferte er in der taz. „Spätestens mit den aggressiven, global orchestrierten (!) Kampagnen gegen jüdische Kritiker der israelischen Militär- und Siedlungspolitik, die zuletzt beinahe im Monatsrhythmus vom Zaun gebrochen wurden, wurde eine Grenze überschritten“: die nämlich, dass Juden angeblich keine Antisemiten sein können. Das ist für Misik und Seinesgleichen tatsächlich ein Problem. Denn wenn die Kronzeugenregelung entfällt, können sie nicht mehr auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren. Aber die Strafe, sie fällt vergleichsweise milde aus. Denn die Sozialstunden lassen sich im Zweifelsfall beim Campus Verlag absolvieren: Im Lektorat oder der Pressestelle ist sicher immer ein Plätzchen frei.