Hansestadt ohne Pietät
Schon wieder eine Auszeichnung für Tony Judt in Deutschland: Nachdem ihm bereits die Stadt Osnabrück vor knapp drei Monaten für sein „engagiertes Eintreten für Meinungsfreiheit, Multilateralismus und friedliche Konfliktlösung“ einen nach Erich Maria Remarque benannten Friedenspreis schenkte, bedenkt der Bremer Senat den New Yorker Professor für Europäische Studien am kommenden Freitag mit dem diesjährigen Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. „In ihrer Begründung würdigte die Jury Tony Judt als eine Persönlichkeit, die sich in der öffentlichen Debatte über Europa und den Westen auf vielfältige Weise engagiere“, heißt es in einer Presseerklärung: „als Historiker, der wisse, dass historische Ereignisse nicht ohne ihre vielfältigen Kontexte verstanden werden können, als politischer Denker, der seine Sicht auf die Geschehnisse der Zeit in die öffentliche Kontroverse einbringe, schließlich als politischer Essayist, der streitbarer Zeuge seiner Zeit sei.“ Und damit nicht genug: „Die Jury würdigt mit der Preisvergabe auch seinen Einsatz für ein besseres Verständnis Europas im amerikanischen Raum, ein Verständnis, das nicht von unüberbrückbaren Gegensätzen, sondern von einer streitbaren Auseinandersetzung über eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft ausgeht.“
Was die Bremer Landesregierung da mit immerhin 7.500 Euro honoriert, lässt sich unter anderem in einem über tausend Seiten starken Wälzer nachlesen, den Judt (Foto) unlängst vorgelegt hat: Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Der Zweite Weltkrieg ist ihm darin eine allgemeine „Katastrophe, in die Europa sich gestürzt hatte“ und die irgendwie allerlei Opfer produziert habe, hüben wie drüben sozusagen. Wer will es da schon genauer wissen, zumal es von „den Vorstellungen einiger hochrangiger Nazis abgesehen“ im Krieg doch gar „nicht um die Juden“ gegangen sei – deren Vernichtung demzufolge offenbar so eine Art Kollateralschaden gewesen sein muss – und „die größten materiellen Zerstörungen“ darüber hinaus gar nicht von den Deutschen verursacht worden seien, sondern durch „die beispiellosen Luftangriffe der Westalliierten in den Jahren 1944 und 1945“ sowie den „unerbittlichen Vormarsch der Roten Armee nach Westen“. Ursache und Wirkung werden dabei völlig verdreht oder unkenntlich gemacht, und zum Schluss haben eben alle irgendwo „Kriegsverbrechen“ begangen. Auschwitz ist für Judt auch keine deutsche, sondern eine europäische Tat und deshalb so eine Art europäischer Gründungsakt, ein Erbe, das letztlich zur Sinnstiftung taugt, denn „die wieder entdeckte Erinnerung an Europas tote Juden“ sei schließlich „Definition und Garantie für die wiedergefundene Humanität des Kontinents“.
Und wenn es tote Juden sind, die das ideologische Gefüge zusammenhalten sollen, stören die (über)lebenden zwangsläufig umso mehr. Deshalb ist Judt auch der Staat Israel ein veritabler Dorn im Auge, denn dass dieser die Konsequenz aus der Vernichtung der europäischen Juden ist, kann und darf nicht sein. Israel sei „ein verspätetes Gebilde“, schrieb der Brite daher schon 2003, ein „typisches separatistisches Projekt des späten 19. Jahrhunderts“, das „in eine Welt importiert“ worden sei, „die sich weiterentwickelt hat“ – und zwar „in eine Welt der Menschenrechte, der offenen Grenzen und des Völkerrechts“. Dass es seit 1948 noch diverse Staatsgründungen gab und insbesondere nach 1989 so ziemlich jedes Völkchen eigene Pässe drucken durfte, ficht den Historiker dabei nicht an, schließlich geht es nicht um irgendwen: Die „Idee eines ‚jüdischen Staates’ an sich“ habe „ihre Wurzeln in einer anderen Epoche und in einer anderen Region“. Das heißt: „Israel ist, kurz gesagt, ein Anachronismus“, in dem sich „eine Volksgruppe – eben die jüdische – über die anderen erhoben hat. Obwohl heute für einen solchen Staat eigentlich kein Platz mehr ist“ – zumal die israelische Regierung ohnehin nur aus „Faschisten“ bestehe.
Das wird es wohl sein, was der Bremer Senat meint, wenn er Tony Judt als „politischen Denker“ rühmt, „der seine Sicht auf die Geschehnisse der Zeit in die öffentliche Kontroverse“ einbringe, und ihn als „politischen Essayisten“ feiert, „der streitbarer Zeuge seiner Zeit“ sei. Denn auch wenn die Jury nicht explizit auf die Invektiven des Preisträgers gegen den jüdischen Staat Bezug nimmt, darf man zweifellos mit einigem Recht davon ausgehen, dass sie sie zumindest wohlwollend zur Kenntnis genommen hat. Dieser Auffassung ist auch die Jüdische Gemeinde Bremens, die in einem offenen Brief an die Jury, den Senat und die den Preis mitfinanzierende Heinrich-Böll-Stiftung gegen die Ehrung protestiert: „Der Historiker Judt ist bei weitem nicht so anerkannt und gepriesen wie der Israelkritiker Judt“, heißt es darin. „Als Erbe Edward Saids vertritt er die offizielle palästinensische propagandistische Sicht auf die Geschichte, samt den erfundenen und verdrehten Fakten sowie dem antiisraelischen Vokabular.“ Judts Methode sei es, „Zitate, die seine Meinung untermauern, zu manipulieren oder schlicht zu erfinden“, und „sein Programm eines binationalen Staates ist, nach den treffenden Worten Leon Wieseltiers, ‚keine Alternative für Israel’, sondern ‚die Alternative zu Israel’“.
Hannah Arendt würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wüsste sie, wem man da eine nach ihr benannte Auszeichnung gewährt. „Will man auf solche Weise ein gutes Gewissen herzaubern, indem man sagt, sie sei eine Kritikerin Israels gewesen, die Preisverleihung an Judt geschehe ihr also ganz recht?“, fragen Elvira Noa und Grigori Pantijelew stellvertretend für das Präsidium der Bremer Jüdischen Gemeinde. „Wir würden dies als Pietätlosigkeit bezeichnen.“ Arendt selbst sagte einmal, auch das vermeintlich „andere“ und „bessere“ Deutschland, das aus seiner Geschichte gelernt zu haben glaubt, sei „noch durch einen Abgrund von der zivilisierten Welt getrennt“. Wie Recht sie bis heute hat, zeigt sich in Bremen einmal mehr. Am Tag nach seiner Huldigung nimmt Tony Judt übrigens im Institut Français der Hansestadt an einem Diskussionsforum teil – „in Erwartung einer Israel-Debatte“, wie die taz bereits frohlockt. Das Thema der Debatte: „Bedrohung und Politik“. Vielleicht kommen ja Mearsheimer und Walt auf einen Plausch vorbei. Schließlich tingeln die gerade mit ihrer Neuauflage der Protokolle der Weisen von Zion durch die Republik.
Hattips: Jan-Philipp Hein, Moritz A.