14.1.08

Münchner Husarenstreich

Im Fußball – und nicht nur dort – ist es selten geworden, dass ein Coup, der seinen Namen auch verdient, tatsächlich von denen verkündet wird, die ihn eingefädelt haben. Zu oft wissen die Medien bereits, was passieren wird, und lancieren die entsprechende Nachricht, bevor die Beteiligten selbst zu Wort kommen. Gemessen daran darf die Bekanntgabe, dass Jürgen Klinsmann (Foto) im Sommer Trainer des FC Bayern München wird, ausnahmsweise als echte Sensation gelten. Nicht einmal die für gewöhnlich bestens versorgte Bild-Zeitung ahnte etwas. Dabei hatte Uli Hoeneß einem Reporter dieses Blattes noch am Neujahrsmorgen gesteckt, dass Ottmar Hitzfeld seinen Vertrag nicht verlängern wird – eine Entscheidung, die ursprünglich erst Ende Januar bekannt gegeben werden sollte, obwohl die Bayern sie schon länger kannten. Was zunächst so schien, als ob der Manager der Münchner sich verplappert hatte, entpuppte sich nun als gezielte Vorbereitung der Nachricht über Hitzfelds Nachfolger. Diese wurde dann nicht etwa per offizieller Pressemitteilung verkündet, sondern wie nebenbei auf der Homepage des Klubs – wo man es noch Anfang des Jahres hartnäckig vermieden hatte, die Demission des Noch-Coaches bekannt zu geben, obwohl längst alle von ihr wussten.

Der erfolgreich geheim gehaltene, gänzlich unerwartete Husarenstreich mit Klinsmann war insofern zweifellos eine Demonstration der Stärke und darüber hinaus eine Konsequenz aus dem letzten halben Jahr, in dem der FC Bayern letztlich Opfer jener Medienpräsenz wurde, die er selbst ausgelöst und angekurbelt hatte: Nach einer beispiellosen Einkaufstour und einem so berauschenden wie bestaunten Start in die Saison verflachte das Niveau des Erfolgsvereins bedrohlich, und spätestens seit Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge sich nach dem UEFA-Pokalspiel gegen die Bolton Wanderers zu einer Bemerkung über Trainer Hitzfeld hinreißen ließ, die einer Demontage gleichkam („Fußball ist keine Mathematik“), dürften die Verantwortlichen der Bayern gespürt haben, dass ihnen die Kontrolle über ihre ehrgeizigen Pläne mehr und mehr entgleitet und genau das die sportlichen Ziele zu gefährden droht. Der folgerichtige Entschluss des stets loyalen Hitzfeld, sich dieses Tollhaus nicht über die laufende Spielzeit hinaus anzutun, spielte den Bayern-Chefs letztlich in die Karten: Sie beendeten die sofort einsetzende Trainerdiskussion höchstselbst, indem sie zu einem für die Öffentlichkeit überraschend frühen Zeitpunkt mit einem nicht minder überraschenden Ergebnis die Nachfolge klärten – und die Gegenwart damit in den Hintergrund drängten.

„So groß ist der Coup der Klinsmann-Verpflichtung, dass das Jetzt keine Bedeutung mehr hat“, befand Christian Gödecke auf Spiegel-Online völlig zu Recht: „Noch-Trainer Ottmar Hitzfeld könnte beichten, er sei von Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge mit heißem Kerzenwachs gefoltert worden – ja und? Es zählt nur noch das Bald mit Klinsmann.“ In der Tat nahmen die Zuständigen mit ihrer Entscheidung eine Menge Druck von der Mannschaft, denn selbst wenn die Saisonziele – die nicht weniger umfassen als den Gewinn der Meisterschaft, des UEFA-Cups und des DFB-Pokals – ganz oder teilweise verfehlt werden sollten: Im Sommer beginnt eine neue Zeitrechnung, schon wieder. Für die Bayern ergibt sich daraus vorläufig eine Win-win-Situation: Holen sie die avisierten Titel sämtlich oder wenigstens zum Teil, dann haben sich die millionenschweren Investitionen frühzeitig amortisiert; andernfalls verschiebt sich der Masterplan eben um ein Jahr, ohne dass er grundsätzlich in Frage gestellt werden würde. Für Jürgen Klinsmann bedeutet die eine wie die andere Situation eine ultimative Herausforderung: Entweder muss er Trophäen verteidigen oder sie endlich wieder an die Säbener Straße holen. Doch genau das weiß er auch, so viel ist sicher.

Es ist jedenfalls jetzt schon abzusehen, dass die Entscheidung für den 108-fachen Nationalspieler und Weltmeister von historischer Bedeutung für den Verein sein wird: Entweder gelingt diesem der Sprung aus der Provinzialität, oder er wird dort auf unabsehbare Zeit schmoren. Denn der FC Bayern München ist einer der letzten großen Klubs in Europa, die noch wie ein Familienunternehmen geführt werden. Das Sagen haben ausschließlich ehemalige Spieler aus den Glanzzeiten der „Roten“ vor allem in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Franz Beckenbauer natürlich und seit einiger Zeit auch Paul Breitner, der mit diesen dreien lange im Clinch lag. Eine solche Personalpolitik hat etwas ziemlich Inzestuöses; zudem ließen sich alle Genannten bisher nur äußerst ungern ihre Kompetenzen beschneiden. Zwar ist auch Klinsmann ein ehemaliger Bayern-Kicker – allerdings einer, der während seines zweijährigen Engagements immer wieder über Kreuz mit den Verantwortlichen lag und sich partout nicht in die „Familie“ integrieren wollte. Auch als Teamchef der deutsche Nationalmannschaft präsentierte er sich nicht gerade als Freund der Münchner – und genau hierin liegt paradoxerweise die Chance sowohl für ihn selbst als auch für den FC Bayern.

Denn Jürgen Klinsmann ist strikt erfolgsorientiert, und wenn ihm dabei allzu eingefahrene Strukturen im Weg stehen, kennt er keine Verwandten. Es ist kein Zufall, dass er bei mehreren europäischen Topklubs für die kommende Saison im Gespräch war, obwohl er über keinerlei Erfahrungen mit dem Training von Vereinsmannschaften verfügt: Klinsmann hat sich in der Fußballwelt vor allem einen Namen gemacht, weil er als Novize mit einem alles in allem sehr limitierten Team Dritter bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde und es dabei schaffte, selbst den eigentlich hoffnungslos reformfeindlichen und neuerungsresistenten DFB komplett umzukrempeln. Die Bayern gehen nun offenbar bewusst das Risiko ein, ähnlich einschneidende Maßnahmen zu gewärtigen. Denn dass der neue Coach sich vertraglich sehr weitgehende Freiheiten bezüglich der Umsetzung seiner Ideen zusichern lassen hat, darf man voraussetzen. Seine ambitionierten Pläne sind gleichwohl extrem erfolgsabhängig. Die Frage lautet daher nicht zuletzt: Werden die Bayern-Väter sich künftig stärker zurückhalten, wenn sie zur Gegenwart und Zukunft ihres verwöhnten Kindes befragt werden?

Sie werden es müssen. Denn anders als Ottmar Hitzfeld und Felix Magath duldet Jürgen Klinsmann es nicht, wenn andere in der Öffentlichkeit mehr Gewicht beanspruchen als er selbst. Möglicherweise steht seine Verpflichtung daher auch für eine Systemänderung: Uli Hoeneß will 2009 ohnehin seinen Posten als Manager aufgeben und Franz Beckenbauer als Präsident beerben. Wer auch immer ihm nachfolgt: Es wird jemand sein, der weit weniger dominant und polarisierend ist. Damit erhält der Trainer der Bayern automatisch mehr Gewicht, und Klinsmann scheint dem Vorstand diesbezüglich die Idealbesetzung zu sein. Das darf man durchaus als Professionalisierung werten: Der globalisierte Fußball nimmt immer weniger Rücksicht auf frühere Verdienste und Verbindungen; wer auch international Erfolg haben will, muss zwangsläufig zu schmerzhaften und unpopulären Maßnahmen bereit sein. Also stellen die Münchner jetzt einen Übungsleiter ein, der ihren verdienten Keeper Oliver Kahn vor der WM noch auf die Ersatzbank befördert und seinen Torwarttrainer Sepp Maier gleich mit ins Abseits geschoben hatte. Dabei nehmen sie Konflikte sehenden Auges in Kauf: No risk, no fun.

Gut möglich, dass die Bayern international renommierte Trainer wie José Mourinho oder Frank Rijkaard hätten haben können. Aber auch Klinsmann ist trotz fehlender Erfahrungen als Klubcoach „einer der ganz wenigen richtigen internationalen Persönlichkeiten im Fußball“, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Andrei Markovits in einem Interview mit dem Deutschlandfunk befand. Er hat in Italien, England und Frankreich gespielt und beherrscht die jeweiligen Landessprachen – ein unschätzbarer Vorteil, wenn man international aufgestellte Teams trainiert, denen launische Topstars wie Franck Ribéry und Luca Toni angehören. Er kennt die Methoden des modernen Managements und ist in der Lage, ein Training anzubieten, das von den Spielern nach anfänglichem Zögern mit Begeisterung angenommen wird. Er spricht die Sprache der Spieler, hat deren Akzeptanz und dennoch genügend professionellen Abstand zu ihnen. Mit einer Reihe grandioser Akteure – zu denen sich nun auch noch Tim Borowski gesellt – hat Jürgen Klinsmann sehr gute Voraussetzungen, um dem FC Bayern und sich selbst zu einem Quantensprung zu verhelfen. Das Wagnis des Klubs, ihn zu engagieren, könnte sich auszahlen.