Wo die Erde eine Scheibe ist
Über den linken Antisemitismus in Deutschland ist inzwischen einiges zu Papier gebracht worden, und wer dessen Existenz in Gegenwart und Vergangenheit noch immer in Abrede stellt, darf als besonders borniertes Exemplar gelten. Denn an geradezu erdrückenden Beispielen mangelt es nicht – sei es nun die Bombe, die von den Schwarzen Ratten/Tupamaros Westberlin am 9. November 1969 im jüdischen Gemeindehaus deponiert wurde (und glücklicherweise nicht zündete), sei es der Protest des SDS und anderer antizionistischer Gruppen gegen den Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban im Februar 1970, sei es die Entführung einer Air France-Maschine nach Entebbe, bei der zwei Mitglieder der Revolutionären Zellen mit deutscher Gründlichkeit jüdische Passagiere von den nichtjüdischen selektierten, bevor eine israelische Spezialeinheit der Geiselnahme am 4. Juli 1976 ihr Ende bereitete. Linke Gruppierungen und Organisationen haben oft genug gezeigt (und tun es weiterhin), dass der Judenhass nicht nur bei den Rechten ein festes Zuhause hat. Die Tarnung als „Antizionismus“ oder „Israelkritik“ war und ist dabei nie mehr als Camouflage.
In Österreich sieht es nicht anders aus; auch dort zogen und ziehen Linke regelmäßig mit Vehemenz gegen Israel zu Felde, stets in der unerschütterlichen Überzeugung und mit dem chronisch guten Gewissen, als fortschrittliche Menschen gar nicht antisemitisch sein zu können. Wie unsinnig das war und ist, mag exemplarisch ein Vorfall illustrieren, der sich am 8. Mai 1978 in Wien zutrug und über den die Tageszeitung Kurier seinerzeit wie folgt berichtete:*
Linksradikale störten Feier im MessepalastDoch in Zwischenwelt, der von der Theodor Kramer Gesellschaft drei bis vier Mal pro Jahr herausgegebenen Zeitschrift für Literatur des Exils und des Widerstands, fand sich in der Dezemberausgabe des vergangenen Jahres ein erstaunlicher Aufsatz, in dem rundweg und hartnäckig bestritten wird, dass es so etwas wie linken Antisemitismus überhaupt gibt; namentlich die Achtundsechziger erhalten dort einen glatten Freispruch. Karl Pfeifer hat den Beitrag gelesen und kam aus dem Staunen kaum mehr heraus.
Paradeiser und Eier gegen Israel
Mit einer Saalschlacht endete Sonntagabend eine Festveranstaltung der jüdischen Jugend Österreichs zum 30-jährigen Bestandsjubiläum Israels im Wiener Messepalast: Unbemerkt von vor und im Gebäude postierten Ordnungshütern hatte sich ein knappes Dutzend Linksradikaler unter die etwa 1.000 Festgäste gedrängt. Als dann der israelische Botschafter Dr. Avigdor Dagan das Rednerpult betrat, sausten plötzlich faule Eier und Paradeiser [österreichischer Ausdruck für Tomaten] durch die Luft.
Umrahmt war die Kanonade von blitzartig entfalteten Transparenten, auf denen die Linken gegen das „imperialistische Israel“ zu Felde zogen, und von Sprechchören, in denen für die PLO Partei ergriffen wurde. Während der israelische Diplomat – er war von einem Ei auf die Schuhe getroffen worden – fluchtartig die Tribüne verließ, versuchten von der jüdischen Jugendorganisation bereitgestellte Saalordner die ungeladenen Gäste zur Tür hinauszudrängen.
Auch die Polizisten griffen schließlich ein: es kam zu einem handfesten Tumult, wobei es den linken Hauptakteuren gelungen sein dürfte, das Gebäude zu verlassen. Es gelang der Polizei jedenfalls nicht, die Eier- und Paradeiserschmeißer zu identifizieren. Verständlich, da sie ja ihre Wurfgeschosse zur Gänze verfeuert hatten. Drei Transparentträger hatte es nicht rechtzeitig geschafft, zu flüchten. Sie wurden festgenommen und auf freiem Fuß wegen Störung der Ruhe und Ordnung und Veranstaltungsstörung angezeigt.
Unklar ist nur, wie es den Unruhestiftern trotz Polizeisicherung und Eintrittskartenzwanges gelingen konnte, mit den nicht ganz kleinen Spruchbändern in den Festsaal zu kommen. Die Veranstaltung wurde schließlich um 21 Uhr ohne weitere Zwischenfälle abgeschlossen. Für die Störaktion übernahm Montagnachmittag ein bislang unbekanntes „Nahostkomitee Wien“ die Verantwortung.
Karl Pfeifer
Flat earther in der Zwischenwelt?
Auf einer englischen Website fand ich kürzlich den Ausdruck political flat earther, den man leider nur unzureichend ins Deutsche übersetzen kann. Schreibende, die offensichtliche Tatsachen leugnen, könnten als flat earther charakterisiert werden, als Menschen also, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist. Unter dem Kürzel „K.K.“ erschien unlängst in der Wiener Zeitschrift Zwischenwelt ein Artikel, in dem der unübersehbare Antisemitismus auch unter Linken während der Regierungszeit Bruno Kreiskys geleugnet respektive verharmlost wird und dessen Autor daher als Beispiel für einen flat earther gelten kann. „K.K.“ schreibt unter dem Titel „Verstreutes/Linker Antisemitismus“:*
„Die 68er Bewegung war tout en tout anti-antisemitisch, der Antisemitismus markierte den Protestierenden wesentlich die Umrisse dessen, was sie nicht mehr hinnehmen wollten. Alle empirischen Untersuchungen bestätigen dies: Die Periode 1967 bis etwa 1976 brachte einen signifikanten Rückgang offen eingestandener Verleugnung der Shoah und ein vermehrtes Bekenntnis zu den Werten der Demokratie mit sich. Jene, denen an der 68er Bewegung deren Antisemitismus das Auffällige ist, stellen die wirkliche Geschichte auf den Kopf.“**Ich bezweifle, dass „K.K.“ einen signifikanten Rückgang der offenen Leugnung des Holocausts in Österreich während der siebziger Jahre mit Fakten belegen kann. Im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) finden sich im Gegenteil viele Beweise, dass die Holocaustleugnung gerade in diesem Zeitraum zunahm. Aber sei es, wie es ist: Wer den Antisemitismus auf die Leugnung des Holocausts reduziert, versteht von ihm ohnehin nicht viel. Untersuchungen der österreichischen Soziologin Hilde Weiss haben übrigens nachdrücklich gezeigt, dass der Antisemitismus in der Zeit, als Bruno Kreisky Bundeskanzler war, nicht rückläufig war.
Wie aber kann in einer dem Exil und dem Widerstand gewidmeten Zeitschrift ein derartiger Text erscheinen? Allein im siebten Band von Jean Amérys Werken (Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, Klett-Cotta 2005) befinden sich sieben Beiträge, die als Reaktion auf den Antisemitismus in der 68er-Bewegung in der Zeit von 1969 bis 1977 erschienen sind. Offensichtlich hat „K.K.“ sich mit Jean Améry jedoch nicht befasst – was für einen Autor von Zwischenwelt allemal ein Armutszeugnis ist. „K.K.“ behauptet zudem:
„Doch richtete sich die 68er-Bewegung, zumindest soweit ich sie selber erfahren habe und mitverantworten muss, nicht nur gegen den Popanz längst ausgehöhlter höherer Werte und gegen die Unselbständigkeit von Menschen in lebenslangen Hörigkeitsverhältnissen, sondern ebenso gegen jenes postfaschistische Arrangement, in dem der antisemitische Affekt an die politische und kulturelle Struktur delegiert und das Wissen über das Geschehene dem Schweigen überantwortet war.“Tatsächlich gab es 1965 linke Demonstrationen gegen die antisemitischen Ausfälle von Taras Borodajkewicz, der NSDAP-Mitglied war und von der ÖVP protegiert wurde. Doch als ein paar Jahre später Bruno Kreisky und seine Helfer, die fast alle zu den Achtundsechzigern zählten, mit antisemitischen Sprüchen und Unterstellungen Simon Wiesenthal angriffen, da schwieg – mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen – diese Generation. So wie ihre Eltern und Großeltern schwiegen sie, mit dem wichtigen Unterschied, dass man in der Nazizeit durch Widerstand sein Leben gefährdete. Barbara Kaindl-Widhalm (1990), Leopold Spira (1981), Ruth Wodak (1990) und Margit Reiter (2001) setzten sich mit dem Antisemitismus in der österreichischen Linken und in der 68er-Bewegung kritisch auseinander und wiesen nach, dass es diesen gibt und wie er sich manifestiert.
„K.K.“ wird doch beispielsweise nicht behaupten wollen, dass der Überfall von Maoisten auf die 30-Jahr-Feier Israels in der Wiener Messehalle 1978 (siehe die Kurier-Meldung im Vorspann dieses Beitrags und auf dem zweiten Bild von oben; zum Vergrößern auf das Foto klicken), an der auch eine Reihe von Holocaustüberlebenden wie Simon Wiesenthal teilnahm, ein Akt der zulässigen Kritik am Zionismus war? Und erst vor kurzem entdeckte ich in der Zeitschrift der trotzkistischen GRM, Rotfront, unter dem Aufruf „Für einen sozialistischen arabischen Osten“ einen Davidstern aus Hakenkreuzen (November 1973; drittes Bild von oben) und eine antisemitische Karikatur, die Golda Meir zeigt (März 1973, Bild rechts). Weiterhin behauptet „K.K.“:
„Nicht mehr gemein machen wollten sich die ‚68er’ mit der in der Adenauer-Ära geläufigen Bewunderung der Israelis als den ‚Preußen des Nahen Ostens’ und der fragwürdigen Bejahung des ‚Judenstaates’ als einer ‚Lösung der Judenfrage’. Doch war die Einstellung zu Israel in der 68er-Bewegung keine entscheidende, die Geister trennende Frage.“„K.K.“ bezeichnet die antiisraelische Haltung der Achtundsechziger also als legitime und verständliche Reaktion auf das, was in Deutschland staatsoffiziell und nicht zuletzt auch in der Springerpresse vertreten wurde (und was ja in der Tat mehr als problematisch war – man erinnere sich nur daran, wie die Bild-Zeitung den Sechstagekrieg als „Blitzkrieg“ feierte, oder wie sich Staberl in der NKZ für Israel begeisterte). Die Achtundsechziger als „Anti-Philosemiten“ sozusagen – als Antizionisten eben, was „K.K.“ offenbar unproblematisch findet. Die Tatsache, dass es unter Linken vor 1967 eine vollkommen unkritische Haltung gegenüber Israel gab, die dann bei vielen unmittelbar in eine feindliche Haltung umschlug, die so manchen Achtundsechziger auch in Österreich dazu veranlasste, sich antisemitischer Stereotypen zu bedienen – das ist für „K.K.“ anscheinend völlig normal und wird nicht hinterfragt.
Wenn sich „K.K.“ im Folgesatz auch noch zu der Behauptung versteigt: „Entscheidend war die entschiedene Ablehnung des Antisemitismus“, dann kann ihm tatsächlich bestätigt werden, ein politischer flat earther zu sein, weil er den Judenhass nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums bemerkt und vor seinem linken Pendant die Augen verschließt.
* Nur in der Printausgabe verfügbar.
** Zwischenwelt – Literatur, Widerstand, Exil. 24. Jg., Nr. 3 (Dezember 2007), Seite 34.