29.10.08

Deutscher Konsens



Seit einigen Tagen tobt ein Streit über einen geplanten Allparteienbeschluss des Bundestages zum Thema Antisemitismus. Der Antrag sollte eigentlich pünktlich zum 9. November verabschiedet werden, dem 70. Jahrestag der Reichspogromnacht von 1938. Doch dann gab es Zoff: Die Unionsfraktion fand, die Linke sei kein Partner im Kampf gegen den Antisemitismus, weil sie sich nie vom Antizionismus der DDR distanziert habe und Abgeordnete ihrer Fraktion noch heute an antisemitischen Demonstrationen teilnähmen. Die Linke beschwerte sich, diese Vorwürfe seien „ahistorisch“ und eine Gleichsetzung der DDR mit dem „Dritten Reich“. Die Grünen wiederum waren der Meinung, die Union solle erst einmal vor ihrer eigenen Haustür kehren. Und die kreuzunglücklichen Sozis forderten die CDU und die CSU auf, endlich einzulenken.

Nun hat das Bundeskanzleramt einen Kompromissvorschlag vorgelegt; die ersten Reaktionen darauf fielen durchweg zustimmend aus. Bislang ist der Text zwar noch nicht öffentlich; Lizas Welt hat ihn jedoch bereits zugespielt bekommen. Die Vorlage umreißt in bemerkenswerter Deutlichkeit und Offenheit den deutschen Konsens in Bezug auf das Verständnis von Antisemitismus und den Kampf gegen ihn. Auch das parteiübergreifende Selbstverständnis hinsichtlich der deutschen Geschichte und Gegenwart wird überaus anschaulich. Nachfolgend sei der Entwurf deshalb in voller Länge dokumentiert.

Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen

Den Kampf gegen den Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland fördern, Israels Sicherheit berücksichtigen


70 Jahre nach den Schrecken der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 hat jüdisches Leben in Deutschland neue Wurzeln geschlagen. Unsere früheren Feinde sind enge Freunde geworden. Dies ist Anlass zu großer Freude, wenngleich der Antisemitismus noch immer nicht besiegt ist. Denn weiterhin werden in Deutschland jedes Jahr Straftaten begangen, die sich gegen Jüdinnen und Juden richten. Damit wird dem internationalen Ansehen unseres Landes schwerer Schaden zufügt. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die dunklen Jahre unserer Geschichte erfolgreich aufgearbeitet worden sind, wovon sinnbildlich das Holocaust-Mahnmal in Berlin zeugt, das weltweit größte seiner Art. Letztlich weiß niemand besser als die Deutschen, wie gefährlich und schädlich Antisemitismus ist: Die nationalsozialistische Judenvernichtung beraubte die Deutschen eines wesentlichen Teils ihrer Kultur und machte sie so zu den eigentlichen Leidtragenden. Diese Erfahrung schmerzt noch heute.

Umso bedeutsamer ist das gute und freundschaftliche Verhältnis, das die Bundesrepublik Deutschland – im Unterschied zur DDR – seit ihrer Gründung zum Staat Israel aufgebaut hat. Dessen Existenzrecht ist für alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen nicht verhandelbar; dies hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auch in ihrer Ansprache vor dem israelischen Parlament im März 2008 bekräftigt. Wenn wir unseren israelischen Partner dennoch kritisieren, handelt es sich um eine Kritik unter Freunden und keinesfalls um Antisemitismus. Wir wissen aus eigener Erfahrung wie kein anderes Volk, was Unrecht ist, und stehen deshalb in der Pflicht, neues Unrecht zu verhindern. Krieg, Vertreibung und Besatzung können und dürfen keine Mittel der Politik sein. Die deutsche Außenpolitik unternimmt daher alles Erdenkliche, um die Sicherheit des jüdischen Staates zu garantieren – eine Sicherheit, die nicht zuletzt durch die fortdauernde israelische Besatzungspolitik gefährdet wird.

Mit Sorge betrachten wir aber auch verschiedene Äußerungen aus dem Iran. Die verbalen Attacken des iranischen Präsidenten gegen Israel sind moralisch verwerflich und unakzeptabel. Am 70. Jahrestag der Angriffe auf die Synagogen in Deutschland erklären wir deshalb feierlich: Wehret den Anfängen! Wir halten es jedoch bei aller Notwendigkeit einer deutlichen Kritik an solchen antisemitischen Ausfällen für gefährlich, den Iran zu isolieren oder in eine fundamentalistische Ecke zu drängen. Gewalt ist erst recht keine Option. Wer die Entwicklung in der Islamischen Republik beeinflussen will, darf die traditionell gute wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit nicht gefährden. Diese Zusammenarbeit im Rahmen des kritischen Dialogs ist ein Wesenskern der deutschen Außenpolitik. Deshalb werden wir uns von niemandem in die Falle einseitiger Sanktionen locken oder uns gar zu militärischen Drohungen verleiten lassen. Das ist unzweifelhaft auch im Interesse Israels, selbst wenn man dies dort anders beurteilt. Im Einklang mit dem UN-Sicherheitsrat treten wir für eine Aussetzung der iranischen Anreicherungsaktivitäten ein.

Unsere Maxime muss aber letztlich jene sein, die der israelische Friedensforscher Dr. Reuven Moskovitz so formuliert hat: „Nicht der ist ein Held, der einen Feind tötet, sondern wer einen Feind zu einem Freund macht.“ In diesem Sinne fordern wir alle Staaten des Nahen Ostens zu einer gedeihlichen Kooperation auf – einer Kooperation, die die Bundesrepublik Deutschland seit jeher nicht nur mit Israel, sondern auch mit dessen nahen und fernen Nachbarn pflegt, besonders mit dem Iran. So sehr wir parteiübergreifend den Antisemitismus und die Leugnung des Holocausts durch die Machthaber im Iran kritisieren, so sehr waren und sind sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages darin einig, dass eine Einschränkung der diplomatischen Beziehungen zum Iran, das Unterbinden der Hermes-Exportförderung oder eine Aussetzung der bilateralen Wirtschaftsförderung durch die Deutsch-Iranische Industrie- und Handelskammer nicht in Frage kommt.

Aus alledem folgt die innen- wie außenpolitische Notwendigkeit, die Stelle eines Bundesbeauftragten für die Bekämpfung des Antisemitismus einzurichten, der in einem ersten Schritt eine tragfähige Definition des Antisemitismus erarbeiten soll. Ausschlusskriterien müssen dabei jedoch sowohl die in der deutschen Bevölkerung dominierende Verurteilung der israelischen Politik als auch – insbesondere mit Rücksicht auf kulturell bedingte Eigenheiten – die teilweise plakative, jedoch nachvollziehbare Ablehnung des jüdischen Staates durch Zuwanderer aus islamischen Staaten sein. Stellen wir uns also der Aufgabe, „den Antisemitismus wirklich zu ächten und das auch der jungen Generation durch eigenes Handeln sehr, sehr deutlich zu machen“, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich formulierte. 70 Jahre nach der Reichspogromnacht ist das allen Deutschen eine Herzensangelegenheit.
Siehe auch: Was heißt da Fake?