20.11.08

Theologik



Hätte der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Theo Zwanziger, die Gelassenheit und Souveränität besessen, über einen Leserkommentar in einem Internet-Blog einfach hinwegzusehen – es spräche heute vermutlich niemand mehr über den nämlichen Eintrag. Aber Theo Zwanziger wollte nicht darüber hinwegsehen, dass er dort Ende Juli als „unglaublicher Demagoge“ bezeichnet wurde, nachdem er die Entscheidung des Bundeskartellamts, den Vermarktungsmöglichkeiten für die Rechte an der Übertragung von Bundesligaspielen zugunsten der Konsumenten Grenzen zu setzen, als ultimative Katastrophe für den deutschen Fußball eingestuft und de facto wettbewerbsrechtliche Ausnahmeregelungen für den Sport gefordert hatte. Er schlug stattdessen das Wort „Demagoge“ im Duden nach, fand dort nach eigenen Angaben die Übersetzung „Volksverhetzer“, verlangte deshalb Mitte August eine Unterlassungserklärung und beantragte – da er sie nicht bekam – schließlich beim Berliner Landgericht, dem Kommentator seine vorgeblich grundlos und in diffamierender Absicht vorgetragene Äußerung per einstweiliger Verfügung zu verbieten. Damit brachte er einen Stein ins Rollen, der sich inzwischen zu einer regelrechten Lawine ausgewachsen hat.

Bei dem Kommentarschreiber handelte es sich um den Journalisten und Buchautor Jens Weinreich, bei dem Weblog um die viel gelesene Internetseite Direkter Freistoß. Das verlieh der Charakterisierung Zwanzigers – die man gewiss nicht teilen muss – zweifellos ein größeres Gewicht, als es eine gleich lautende Bemerkung eines Anonymus in einem täglich bloß von ein paar Dutzend Nutzern frequentierten virtuellen Tagebuch vermocht hätte. Dennoch wäre die Halbwertzeit dieses Postings, verglichen etwa mit einem Artikel in einer überregionalen Tageszeitung oder mit einer Stellungnahme in einem Fernsehinterview, normalerweise marginal gewesen. Angesichts dessen verwundert die Energie, die der DFB-Präsident aufwandte, um Weinreich seine Einschätzung untersagen zu lassen. In einem von Oliver Fritsch, dem Betreiber des Blogs Direkter Freistoß, geführten Interview erklärte Zwanziger, warum ihn der von Weinreich geäußerte Vorwurf so getroffen habe: „Ich bin 1945 geboren und habe meinen Vater im Krieg verloren. Wenn man eine solche Vita hat und außerdem, wie ich, in Yad Vashem war, denkt man anders über die Dinge nach. Ich bitte um Verständnis, dass meine Empfindlichkeit, was die Nazi-Zeit angeht, größer ist, als das vielleicht bei andern Leuten oder Jüngeren der Fall ist. Beim Stichwort ‚Demagoge’ denke ich an Goebbels.“

Das Landgericht Berlin dachte jedoch anders: Es sah das Persönlichkeitsrecht des Verbandschefs „nicht rechtswidrig verletzt“, weil es sich bei Weinreichs Kommentar „um eine zulässige Meinungsäußerung“ handle, „die keinen schmähenden Charakter“ habe, zumal sie den Kläger durchaus nicht automatisch mit einem Diktator gleichsetze. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wies es deshalb Anfang September zurück. Zwanziger legte Beschwerde ein, die jedoch ebenfalls abgeschmettert wurde, diesmal vom Berliner Kammergericht. Zwei glatte juristische Niederlagen also für den früheren Verwaltungsrichter. „Spätestens jetzt hätte Zwanziger, wäre er klug beraten gewesen, innehalten sollen“, urteilte Uwe Müller in der Tageszeitung Die Welt. „Doch der Sportfunktionär, den die Aura eines sympathischen Onkels umgibt, heizte den Konflikt, von dem die Öffentlichkeit bis dahin kaum etwas mitbekommen hatte, heftig an.“ Er forderte Weinreich ultimativ auf, die aus seiner Sicht verunglimpfende Wortwahl zurückzunehmen. Ansonsten werde er Klage in der Hauptsache einreichen. Der Journalist wiederum bekräftigte seinerseits das, was er zuvor schon mehrmals deutlich gemacht hatte (und was ihm auch juristisch bestätigt wurde): Zwanzigers Auslegung des Begriffs „Demagoge“ sei nicht die allein gültige und schon gar nicht die von ihm, Weinreich, beabsichtigte. Er habe daher nichts zurückzunehmen.

Alles schien also darauf hinauszulaufen, dass sich die Kontrahenten vor Gericht wiedersehen. Doch am vergangenen Freitag verschickte der DFB eine Pressemitteilung, in der es plötzlich hieß: „Unmittelbar vor der Erhebung einer auf Unterlassung und Widerruf abzielenden Klage Dr. Zwanzigers gegen Weinreich hat der Berliner Journalist nunmehr über seinen Anwalt am 11. November 2008 dem DFB eine Erklärung zukommen lassen, die Dr. Zwanziger als ausreichende Entschuldigung und Eingeständnis eines Fehlverhaltens von Weinreich akzeptiert.“ Das war schlicht und ergreifend frei erfunden respektive pures Wunschdenken, und auch ansonsten strotzte die Erklärung des Fußballverbands förmlich vor Verdrehungen, Vorwürfen, Unterstellungen und Auslassungen. Weinreich selbst schrieb von einem „Lügengebilde“; auf seiner Website nahm er die Stellungnahme des DFB detailliert auseinander. Die beiden Gerichtsbeschlüsse – und das ist nicht nur befremdlich, sondern hochgradig anmaßend – erwähnte der Verband mit keinem Wort, gerade so, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen ließ er seinen Generalsekretär Wolfgang Niersbach treuherzig versichern: „Es ging dem DFB in diesem Verfahren niemals darum, die Meinungsfreiheit einschränken zu wollen oder empfindlich auf Kritik zu reagieren.“ Natürlich nicht. Wer würde das auch ernsthaft vom größten und mächtigsten Einzelsportverband der Welt denken?

Geradezu absurd ist darüber hinaus die Behauptung, Weinreich führe „seit nunmehr fast vier Monaten“ eine „Kampagne“ gegen Theo Zwanziger. Wolfgang Hettfleisch kommentierte diesen Unsinn treffend in der Frankfurter Rundschau: „Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist, wer hier eigentlich eine Kampagne gegen wen betreibt. Zwanziger will ein Exempel statuieren. Die Größe, auch harte Kritik wie die von Weinreich auszuhalten, hat er nicht. Dass der Journalist – gerichtlich verbrieft – nur sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnahm, juckt ihn nicht.“ Dreist versuche der DFB nun, „die Öffentlichkeit über die Zusammenhänge zu täuschen“, Weinreich „als Hetzer zu brandmarken“ und so seine „Geschäftsgrundlage zu zerstören“. Auch andere Kommentatoren und vor allem zahlreiche Blogs ergriffen Partei für den Journalisten und kritisierten den DFB für seine Desinformationspolitik. Wie es aussieht, haben der Deutsche Fußball-Bund und sein Präsident ein veritables Eigentor geschossen und dem schon in der Vergangenheit nicht selten zu hörenden Vorwurf, eine kritische Berichterstattung nach Kräften zu behindern, neue Nahrung gegeben.

Doch auch Jens Weinreich muss sich Kritik gefallen lassen. Selbst wenn er aus Theo Zwanziger mitnichten, wie dieser glaubt, einen Wiedergänger Joseph Goebbels’ gemacht hat: Ihn als Demagogen zu bezeichnen, war trotzdem überzogen. Weinreichs entsprechende Äußerung fiel offenkundig unter dem Eindruck einer in der Tat kritikwürdigen Rede des DFB-Präsidenten; eine etwas maßvollere Vokabel hätte es aber fraglos auch getan. Doch wie Zwanziger und sein Verband auf Weinreichs letztlich wenig bedeutsamen Eintrag in der Kommentarspalte eines Weblogs reagiert haben, ist derart unwürdig, unsouverän und unangemessen, dass es scheint, als sei geradezu auf eine passende Gelegenheit gewartet worden, um einen unliebsamen Medienvertreter regelrecht fertig zu machen. Und das wiegt weit schwerer. Hinzu kommt, dass Zwanziger einem Bericht des Gießener Anzeigers zufolge höchstselbst dem Moderator einer Podiumsveranstaltung vorhielt, „demagogische Fragen“ zu stellen. Ob er dabei an Goebbels dachte, ist nicht überliefert. Vielleicht ist er auch nur einem von ihm selbst kreierten Leitsatz gefolgt, der da lautet: „Wenn Sie die Kommunikationsherrschaft nicht haben, sind Sie immer Verlierer.“ Und wer ist das schon gerne?