1.11.08

Was heißt da Fake?

Angesichts mehrerer Dutzend E-Mails von Leserinnen und Lesern, verschiedener Blogbeiträge (beispielsweise hier, hier und hier) und diversen Diskussionen in Foren (unter anderem hier, hier und hier) sei es dann doch aufgelöst: Der angebliche Kompromissvorschlag für einen Allparteienbeschluss zum Antisemitismus ist ein Fake. Aber was heißt da Fake? Der medienwirksam ausgetragene Streit der Fraktionen des Bundestages über die Beschlussvorlage verdeckt, dass es in Bezug auf den (Nicht-) Begriff von Antisemitismus hierzulande tatsächlich einen sehr weit reichenden Konsens gibt. Und bemerkenswerter als das, was letztlich in dem Antrag stehen wird, ist allemal das, was er nicht enthält. Nichts dagegen, dass ein „Bundesbeauftragter für die Bekämpfung des Antisemitismus“ die Schändung jüdischer Friedhöfe, die tätlichen Angriffe auf Jüdinnen und Juden oder die antisemitische Propaganda von Neonazis scharf verurteilt und Gegenmaßnahmen einleitet. Diesbezüglich gibt es fraglos immer noch reichlich zu tun. Aber diese Form von Judenhass ist die einer – wenn auch nach wie vor bedrohlichen – Minderheit. Die große Mehrheit hat längst andere, gesellschaftsfähigere Mittel und Wege gefunden, sich antisemitisch zu äußern und zu betätigen – und zwar gerade in der Abgrenzung von dieser Minderheit. Es sind jene Mittel und Wege, die Henryk M. Broder Mitte Juni vor dem Innenausschuss des Bundestages so überaus treffend benannt hat:
Der moderne Antisemit tritt ganz anders auf. Er hat keine Glatze, dafür Manieren, oft auch einen akademischen Titel, er trauert um die Juden, die im Holocaust ums Leben gekommen sind, stellt aber zugleich die Frage, warum die Überlebenden und ihre Nachkommen aus der Geschichte nichts gelernt haben und heute ein anderes Volk so misshandeln, wie sie selber misshandelt wurden. Der moderne Antisemit glaubt nicht an die „Protokolle der Weisen von Zion“, dafür fantasiert er über die „Israel-Lobby“, die Amerikas Politik bestimmt, so wie ein Schwanz mit dem Hund wedelt. Der moderne Antisemit gedenkt selbstverständlich jedes Jahr der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, zugleich aber tritt er für das Recht des Iran auf atomare Bewaffnung ein. [...] Der moderne Antisemit findet den ordinären Antisemitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbefangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglichkeit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten Form auszuleben. [...] Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt. Und deswegen beteiligt er sich so leidenschaftlich an Debatten über eine Lösung der Palästina-Frage, die für Israel eine Endlösung bedeuten könnte, während ihn die Zustände in Darfur, in Zimbabwe, im Kongo und in Kambodscha kalt lassen, weil dort keine Juden involviert sind. [...] Früher – sagen wir: zur Zeit von Wilhelm Marr, Karl Lueger und Adolf Stoecker – war alles ganz einfach. Es gab die Juden, die Antisemiten und den Antisemitismus. Nach 1945 gab es dann aus den bekannten Gründen einen Antisemitismus ohne Juden, und heute haben wir es wieder mit einem neuen Phänomen zu tun: einem Antisemitismus ohne Antisemiten.
Um diesen Antisemitismus ohne Antisemiten jedoch wird sich ein prospektiver „Bundesbeauftragter“ nicht kümmern, denn diese Antisemiten, die keine sein wollen, sitzen auch im Bundestag – in allen Fraktionen. Und selbst diejenigen, die in wohlklingenden Reden ihre Solidarität mit dem jüdischen Staat bekunden, lassen ihren Worten im entscheidenden Moment keine Taten folgen. Mag auch die Bundeskanzlerin vor dem israelischen Parlament versichert haben, für sie sei das Existenzrecht Israels „nicht verhandelbar“ – was sind solche Beteuerungen wert, wenn gleichzeitig die Geschäfte mit dem Iran, Israels größtem und gefährlichstem Feind, laufen wie geschmiert? Was nützt ein „Bundesbeauftragter für die Bekämpfung des Antisemitismus“, wenn gleichzeitig ganz offiziell der „kritische Dialog“ mit dem antisemitischen Mullah-Regime gepflegt wird? Und was ist von einem Gedenken an die von den Nazis ermordeten Juden zu halten, wenn die (Über-) lebenden Juden in Israel erneut von der Vernichtung bedroht sind, ohne dass das hierzulande eine nennenswerte Zahl von Menschen juckt?

Übrigens ist im Land der stolzen Vergangenheitsbewältiger nicht einmal der in dem Fake angeführte Satz von den Deutschen als den „eigentlichen Leidtragenden“ der Judenvernichtung eine Übertreibung. Der großartige Eike Geisel schrieb schon vor knapp zwanzig Jahren gegen die deutsche Selbstfindung im „Biotop mit toten Juden“ an, zu der ein „unerträgliches Gemisch aus jugendbewegtem Begegnungskitsch und immergleicher Beschäftigungstherapie, aus betroffenen Christen, schwärmerischen Israeltouristen, geduldigen Berufsjuden, bekennenden Deutschen, eifernden Hobbyjudaisten und akribischen Alltagshistorikern“ gehöre. „Man könnte nachgerade sogar sagen, die Deutschen seien, wenn man sie beim Wort nähme, das größte jüdische Volk“, befand er. Diese Eifersucht auf die Opfer sei „am besten als Judenneid bezeichnet“. Und deshalb beteuerten alle tränenfeuchten Auges, wie groß der Verlust durch die Austreibung und Ermordung der Juden sei. Doch diesen Verlust habe nicht nur nie jemand verspürt, er sei gar keiner: „Denn in Wahrheit hat die Massenvernichtung bewiesen, erstens, dass man sie veranstalten kann, und zweitens, dass ein derartiges Verbrechen langfristig gut ausgeht und sich nicht nur in Exportquoten, sondern auch in Kultur auszahlt. Die Klage über den Verlust ist ohnehin nicht ernst gemeint. Es handelt sich dabei um eine weinerliche Selbstbezogenheit, nicht um Trauer über andere, sondern um Mitleid mit der eigenen Banalität, kurz: um die Behauptung, die Deutschen hätten sich mit ihren Verbrechen selbst etwas angetan.“