24.1.09

Cast Lead – ein (vorläufiges) Fazit

Die Operation Cast Lead („Gegossenes Blei“) ist – vorerst zumindest – beendet. Die israelische Armee hat vor einigen Tagen eine vorläufige Waffenruhe ausgerufen, die an die Bedingungen geknüpft ist, dass die Hamas ihren Raketenbeschuss dauerhaft einstellt und nicht weiter mit Waffen beliefert wird. Auf seinem Weblog hat sich der israelische Historiker Yaacov Lozowick (Foto) – Autor des vorzüglichen Buches Israels Existenzkampf und bis 2007 Leiter des Archivs der Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem – Gedanken darüber gemacht, was mit der Operation erreicht wurde. Lizas Welt hat den Beitrag ins Deutsche übersetzt.


VON YAACOV LOZOWICK


Ein Freund und Unterstützer Israels, der in weiter Entfernung lebt und die hebräischsprachigen Medien nicht verfolgen kann, hat mir geschrieben und mich gefragt, was Israel eigentlich erreicht hat, wenn es überhaupt etwas erreicht hat. Weil ich seine grundlegenden Positionen kenne, kann ich sagen: Das ist eine legitime Frage und keine Stichelei. Das Problem mit dem Bloggen, wie überhaupt mit Einschätzungen, ist es, dass wir nicht einmal ansatzweise den Durchblick haben. Aber er fragt jetzt und nicht in fünf Jahren, also ist hier der Versuch einer Antwort.

Der innerisraelische Schauplatz

Die Operation in Gaza hat zwei extrem wichtige Ziele erreicht und ein drittes womöglich verfehlt. Der erste wichtige Erfolg war die Wiederherstellung der Solidarität in Israel. In diesem sehr langen Krieg befinden wir uns als Nation und Gemeinschaft, nicht als Ansammlung von Individuen. Als die zweite Intifada 2002/03 geschlagen worden war, kehrten die meisten von uns zu einem normalen Leben zurück – nicht aber die Bewohner von Sderot und der Nachbarorte. Irgendwann werde ich einmal über die Lähmung schreiben, die der jahrelange Raketenhagel auf Sderot zur Folge hatte. Und je länger er dauerte, umso schlimmer wurde diese Lähmung. Aber der Rest von uns tat so, als ob es den Beschuss nicht gäbe. Der offensichtlichste Beleg dafür war, dass diejenigen Organisationen, die eigentlich für gesellschaftliche Solidarität und soziales Bewusstsein da sind, diesen hilfsbedürftigen Teil der Gesellschaft dort im Süden einfach links liegen ließen. Nachdem wir in den Krieg gezogen waren, haben die meisten von diesen Organisationen unsere Grausamkeit gegenüber den Palästinensern gegeißelt, ohne ein Wort über die Bewohner von Sderot zu verlieren (siehe auch den Artikel von David Grossman).

Aber das Hauptproblem gab es nicht mit der armseligen und verrückten Linken, sondern mit dem israelischen Mainstream. Der hat nämlich gelernt, mit dem Leiden der Sderoter nach dem Motto zu leben: Wir können die Hamas nicht stoppen, weil sie in der Bevölkerung von Gaza eingebettet ist, also sollen die Sderoter bitte aufhören zu nörgeln. Können Sie sich etwas Gemeineres vorstellen? Die Operation in Gaza hat uns wieder zur Vernunft kommen lassen: Wir leben hier einer für den anderen, und es ist nun einmal so, dass die Verteidigung einiger von uns die Entschlossenheit und den Willen der anderen erfordert.

Das zweite interne Ziel war es, uns selbst noch einmal zu bestätigen, dass wir wissen, wie wir zu handeln haben. Der Zweite Libanonkrieg im Sommer 2006, der in verschiedener Hinsicht ein Fiasko war, hatte daran Zweifel aufkommen lassen. Die Operation in Gaza, die auf vielen Ebenen ein Erfolg gewesen ist, hat uns gezeigt, dass dieses Handeln eine Frage der Willensstärke ist, aber auch eine der Professionalität. Jemand muss Informationen über den Feind zusammentragen, jemand muss in den Orten, die unter Feuer stehen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln regeln, und dann gibt es noch hunderte weitere Dinge zu regeln. 2006 ging viel daneben – erstaunlich viel. Im Januar 2009 lief es wesentlich besser. Ich habe keinen Zweifel daran, dass alle Beteiligten nun genau analysieren, was passiert ist, um ihren Job beim nächsten Mal noch besser zu machen. Und wir alle wissen, dass es ein nächstes Mal geben wird. Dann könnte es gut sein, dass nicht mehr Sderot mit kleinen Raketen angegriffen wird, sondern Tel Aviv mit großen. Und darauf müssen wir vorbereitet sein. Jetzt wissen wir aber wieder, dass wir wissen, was zu tun ist.

Das Ziel, das – zumindest bislang – nicht erreicht wurde, war es, Gilad Shalit zurückzuholen. Ich weiß nicht, warum wir das nicht geschafft haben, und es ist denkbar, dass die Operation das Kräftespiel mit der Hamas verändert hat und er bald gegen Hunderte ihrer Leute ausgetauscht wird. Aber das ist noch nicht geschehen. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge haben wir es nicht vermocht, ihn zurückzuholen. Dieser Fehlschlag hat etwas mit dem Thema Solidarität zu tun, und er ist schlimm. Aber das Gesamtbild ist trotzdem immer noch positiv. Ich habe es hier schon oft geschrieben: Schlussendlich liegt die historische Erklärung für die äußerste Langlebigkeit der Juden und für die beharrlichen Erfolge Israels darin, dass die Juden und Israelis entschlossen sind, zu leben und Erfolg zu haben. Das ist der Schlüssel. Die Operation in Gaza hat das nachdrücklich gezeigt.

Die Palästinenser

Was hat die Operation in Bezug auf sie erreicht? Wir müssen zwischen mindestens zwei, vielleicht sogar drei verschiedenen Gruppen von Palästinensern unterscheiden:
  • Erstens: die Hamas. In der heutigen Printausgabe der Haaretz gab es einen Artikel, in dem stand, Khaled Meshaal [der Leiter des Politischen Büros der Hamas] habe eingeräumt, es sei die Taktik der Hamas gewesen, einem dreitägigen israelischen Angriff standzuhalten und dann den Sieg zu verkünden. „Wir haben nicht erwartet, dass die Israelis so entschlossen und destruktiv sind“, sagte er. Es war derselbe Khaled Meshaal, der noch letzten Donnerstag den Sieg der Hamas ausgerufen und erklärt hatte, die Hamas habe keine Verluste zu beklagen – selbst, als am unteren Rand des Bildschirms die Nachricht von der Tötung ihres Mitstreiters [und „Innenministers“] Said Siam entlang flimmerte. (Nebenbei bemerkt: Die Hamas ging davon aus, dass Israel sich exakt so verhalten würde, wie es David Grossmans Forderung entsprach. Grossman schrieb am dritten Tag der Operation, wir hätten uns durchgesetzt und sollten nun aufhören. Sein Beitrag wurde in mehrere Sprachen übersetzt und weltweit veröffentlicht.) Wird Meshaals Erstaunen zu einem Zögern führen, auf Israelis zu schießen? Die Zukunft wird es zeigen, aber das Beispiel Hassan Nasrallah ist schon mal ermutigend.

  • Zweitens: die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Wie wir alle wissen, hat die Fatah die IDF größtenteils dabei unterstützt, mit der Hamas das anzustellen, was sie selbst nicht kann. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wichtiger ist aber, dass die PA unter Salam Fayad den Israelis ein größer werdendes Maß an Sicherheit gewährt und der Bevölkerung eine größere Prosperität (ausgerechnet jetzt!) sowie ganz generell eine gewisse Normalität. Die Unterschiede zwischen Israel und der West Bank auf der einen Seite und Israel und dem Gazastreifen auf der anderen hätten nicht größer sein können. Wird die PA es schaffen, das in förderliche politische Ergebnisse münden zu lassen? Wer weiß, vielleicht.

  • Drittens: die palästinensische Bevölkerung. Es ist das zweite Mal in einem Jahrzehnt, dass wir ihr demonstriert haben, dass sie uns nicht mit Gewalt in die Knie zwingen kann, sondern dass wir im Gegenteil sehr böse werden, wenn sie es übertreibt. Nicht so böse allerdings, wie sie es im umgekehrten Fall würde, nicht mal im Entferntesten. Das scheint sie auch zu erkennen, und dennoch: Wenn wir uns ärgern, werden wir definitiv böse. Jetzt haben sie also zwei Modelle zur Wahl. (Und: Nein, ich habe keine Angst, dass wir nur eine neue Generation hasserfüllter junger Palästinenser hervorgerufen haben, die entschlossen ist, Selbstmordattentate zu verüben. Ich wüsste nicht, wie sie uns noch mehr hassen könnten, als sie es ohnehin schon tun. Und ich werde nie vergessen, dass die Monate, die unmittelbar auf die Unterzeichnung des Rahmenabkommens im September 1993 folgten, den steilsten Anstieg palästinensischer Gewalt aller Zeiten brachten, nur noch überboten im Herbst 2000, nachdem Ehud Barak das Angebot unterbreitet hatte, die meisten Siedlungen zu räumen.)

Die arabische Welt

Die Operation in Gaza hat noch einmal belegt, was kenntnisreiche Beobachter ohnehin schon wussten: Es gibt einen tiefen Riss zwischen den Arabern, die ihre eigenen Verrückten hassen und fürchten, und denen, die entweder die Verrückten sind oder glauben, die Verrückten nutzen zu können. Diese Verrückten müssen aus dieser Welt verschwinden, denn sie sind die Feinde der Menschheit. Letztlich können sie nur von der übrigen muslimischen Welt besiegt werden. Ich wüsste nicht, wo die Operation diesbezüglich Schaden angerichtet haben sollte; es ist vielmehr denkbar, dass sie recht nützlich war. Immer wieder gab es Artikel in den israelischen Medien, in denen viele Araber den Israelis zuflüsterten, sie könnten die Hamas zerschlagen, aber nur, wenn sie es nicht wieder so verbockten wie im Libanon mit der Hizbollah. Ich glaube nicht, dass wir es diesmal verbockt haben, aber ich glaube auch nicht, dass das eine große Rolle spielt. Es sind die Muslime und Araber, die ihre Teufel besiegen müssen. Wir können das nicht für sie tun. Und Obama auch nicht.

Europa

Wie einige Leser auf diesem Blog bereits geschrieben haben, waren die europäische Reaktionen alles in allem womöglich besser, als es den europäischen Medien lieb war. Mit Sicherheit stand im Guardian während der Operation nichts, was den Besuch von sechs europäischen Regierungschefs in Israel erklären würde – einen überwiegend freundlichen und solidarischen Besuch. Entweder haben diese Regierungschefs von ihren Geheimdiensten Informationen bekommen, die nicht in den Medien standen, oder sie wissen, dass ihre Wähler den eigenen Medien nicht glauben. Oder beides.

Vor einiger Zeit war es angesagt, ein Jahr des 20. Jahrhunderts auszuwählen und uns in es zurückzuversetzen. (Wir befinden uns im Jahr 1938. Nein, im Jahr 1941. Nein, im Jahr 1945. Nein, ihr Idioten, im Jahr 2003.) Nun, wir befinden uns auf eine verstörende Art und Weise im Jahr 1909. Zu dieser Zeit griff eine gebildete Minderheit endgültig zu einer Weltanschauung des Hasses, deren Kern aus einem abscheulichen Antisemitismus bestand. Der Nationalsozialismus war, wie alle Studenten wissen, keine Erfindung einiger Irrer nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und den folgenden politischen und ökonomischen Umwälzungen. Die Ideen des Nazismus wurden vielmehr samt und sonders bereits Jahre vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt.

Einhundert Jahre später gibt es wieder eine gebildete Minderheit mit einer Weltanschauung des Hasses, deren Kern ein abscheulicher Antisemitismus ist. Das ist beunruhigend – oder sollte es zumindest sein. Die Operation in Gaza hat diese Minderheit nicht erst hervorgebracht, und umgekehrt brauchte die Minderheit die Operation nicht, um ihr Gift zu entwickeln. Da aber nun jeder weiß, wer und wo diese Minderheit ist, sollte vielleicht jeder etwas gegen sie unternehmen (was natürlich nicht jeder tun wird).

Zum Schluss die entscheidende Frage: Hat die Operation bei der kommenden Regierung Obamas etwas verändert? Ich weiß es nicht. Wissen Sie es? Aber ich glaube es nicht. Wenn sie die letzten Wochen gebraucht haben sollten, um etwas über den israelisch-arabischen Konflikt zu erfahren, wären sie Dummköpfe. Ich bezweifle jedoch, dass sie das sind.

Foto: privat. Siehe auch das Interview mit Yaacov Lozowick auf diesem Weblog vom 12. April 2007.