10.5.06

Briefgeheimnis

Im Grunde kann man es kurz machen und der US-Außenministerin Condoleezza Rice beipflichten, wenn sie dem Schreiben Mahmud Ahmadinedjads an den amerikanischen Präsidenten George W. Bush das Prädikat belanglos verleiht – denn was, bitteschön, soll man erwarten, wenn dieser Mann seine Sicht der Dinge auf achtzehn Seiten ergießt? Gleichwohl überschlugen sich einige deutsche Medien geradezu: Von einem „sensationellen Schwenk“ in Richtung „Ende des Konfrontationskurses“ schrieb beispielsweise die Süddeutsche Zeitung, und die Frankfurter Rundschau kommentierte:
„Wenn der Brief aus Teheran in Washington zu der Bereitschaft führen sollte, von Staat zu Staat über die gegenwärtige Krise zu sprechen, wäre viel erreicht. Die Krise ist im Kern bilateral. Sie hat mehr mit der Vorherrschaft in der Golfregion zu tun als mit dem iranischen Atomprogramm, für dessen militärische Komponente bisher kein Beweis vorgelegt worden ist, so sehr es unter Verdacht stehen mag. [...] Vier Vetomächte und Deutschland sollten es vermeiden, sich vor den Karren spannen zu lassen, der die Interessen des fünften – der USA – transportiert.“
Das entspricht ganz der Linie des Kritischen Dialogs, der das Gespräch „von Staat zu Staat“ – man könnte auch sagen: von Mann zu Mann, wie es sich für echte Kerle gehört – favorisiert und dabei en passant das Mullah-Regime und seinen antisemitischen Vorsteher einer bürgerlichen Demokratie und ihrem gewählten Präsidenten gleichstellt; nicht umsonst bezeichnete die Frankfurter Rundschau Absender und Adressat des Schreibens als „Amtskollegen“, zwischen denen es nun zu vermitteln gelte. In der hierzulande veröffentlichten Meinung hieß es nahezu durchweg anerkennend, Ahmadinedjad habe die „Funkstille“ (u.a. tagesschau.de und Spiegel Online) respektive „ein 27 Jahre währendes diplomatisches Schweigen zwischen beiden Staaten“ (Hamburger Abendblatt) beendet, einen „diplomatischen Vorstoß“ unternommen und „einen neuen Akzent“ gesetzt (Kölner Stadt-Anzeiger). Das Briefgeheimnis, die auf diese Weise übermittelt wird, besteht auch und vor allem aus dem, was nicht gesagt wird: Die eigentlichen Sturköpfe sind die Amis, die nicht reden, sondern nur Bomben werfen können.

Ähnlich fielen die Reaktionen in der deutschen Politik aus, etwa bei den Sozialdemokraten:
„‚Bush oder ein Vertreter seiner Regierung sollten jetzt zur Feder greifen und auf den Brief antworten’, sagte der außenpolitische Sprecher der Fraktion, Gerd Weisskirchen. Zwar strotze das Schreiben ‚vor Unsinn und ist voll von Versatzstücken, die mit der Realität wenig zu tun haben’, sagte der SPD-Politiker. ‚Man kann den Text aber auch als Versuch lesen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und Schluss zu machen mit dem gegenseitigen (!) Bewerfen (!) mit Vorwürfen (!)’, sagte Weisskirchen.“
Statt also Partei für die Vernunft und gegen den Wahnsinn zu ergreifen, ergeht man sich in Äquidistanz; der Verweis auf den „Unsinn“, den der Brief enthalte, dient in diesem Zusammenhang nur dazu, umso stärker auf die vorgebliche Chance hinzuweisen, die er biete. Da wird man denn auch beim Regierungspartner schwach:
„Für Andreas Schockenhoff, Vizefraktionschef der Union, könnte der Brief den Weg zu bilateralen Gesprächen zwischen Iran und den USA ebnen. Im Gegensatz zur US-Regierung sieht er in dem Schreiben einen bemerkenswerten Strategiewechsel, der für Ahmadinedjad mit innenpolitischen Risiken verbunden sei.“
Das, was einem deutschen Regierungspolitiker als „bemerkenswerter Strategiewechsel“ vorkommt, der mit „innenpolitischen Risiken“ für den Ärmsten verbunden sei – gemeint ist vermutlich der mögliche Widerspruch anderer Regimeverantwortlicher –, qualifizierte Condoleezza Rica weitaus treffender als „Ablenkungsmanöver“ und als Versuch, „die internationale Gemeinschaft kurz vor dem Außenministertreffen in New York durcheinander zu bringen“, woraus allemal zu folgen habe, dass ein Ende des iranischen Atomprogramms auf der Agenda steht und nicht ein ergebnisoffenes bilaterales Verhandeln. Mag Angela Merkel auch die Anerkennung George W. Bushs genießen: Deutsche Außenpolitik ist auch nach dem Ende von Rot-Grün von einem nur schlecht verklausulierten Vorwurf an die Adresse der USA geprägt, die eigentlichen Kriegstreiber zu sein. Demgegenüber präsentiert man sich als ehrlicher Makler, der nach einer friedlichen Lösung in einem festgefahrenen Konflikt suche, statt den Weg des Unilateralismus zu beschreiten.

Mahmud Ahmadinedjads Schreiben dürfte derweil die Herzen vor allem der No Globals im Sturm erobern. Dem einen oder anderen wird es zwar ein bisschen zu religiös sein; ansonsten bietet es jedoch zahlreiche Ausführungen, die so oder ähnlich auch bei Attac, der Friedensbewegung oder den Antiimps zu finden sind: Ein Nein zum Irak-Krieg hier, ein Ja zur Hamas-Regierung dort, dazu Verschwörungstheorien – Verzeihung: kritische Fragen – zu 9/11, Klagen über Menschenrechtsverletzungen durch die USA, den Hunger und die Armut in der Dritten Welt sowie die Ablehnung des „Liberalismus und [der] Demokratien nach westlichem Muster“. Da gibt einer den Rächer der Enterbten, und nicht nur die nationalbolschewistische junge Welt sprach darob begeistert von einem „ungewöhnlichen, weltweit beachteten Schritt“ und einem „Versuch Teherans, einen umfassenden Dialog mit den USA einzuleiten“. Das Blatt setzte sogar noch einen drauf und erklärte die erneute Provokation des iranischen Präsidenten zur nachgerade rührenden Friedensofferte: „Welche Hoffnungen sich mit dieser Initiative auf Teheraner Seite verbinden, verdeutlichte eine von der iranischen Nachrichtenagentur FARS am Dienstag im Internet veröffentlichte Fotomontage: Sie zeigt Ahmadinedjad beim Überreichen des Briefes an Bush.“ (Foto)

Ins Deutsche übersetzte Auszüge aus dem Brief wurden von mehreren Nachrichtenagenturen verbreitet; eine bestenfalls untergeordnete Rolle spielte dabei jedoch, was Ahmadinedjad zu Israel zu sagen hatte. Das sei deshalb an dieser Stelle nachgeholt:*
„Junge Menschen, Universitätsstudenten und gewöhnliche Leute haben viele Fragen über das Phänomen Israel. [...] In der Geschichte wurden viele Länder besetzt, aber ich glaube, die Gründung eines neuen Landes mit einem neuen Volk ist ein neues und exklusives Phänomen. Studenten sagen, dass vor sechzig Jahren ein solches Land nicht existiert habe. Sie zeigen alte Dokumente und Globen und sagen, sie hätten kein Land namens Israel finden können. Ich sage ihnen, sie mögen die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs studieren. Einer meiner Studenten sagte mir, während des Zweiten Weltkrieges, in dem etliche Millionen Menschen verendeten, seien Nachrichten über den Krieg rasch von allen kriegführenden Parteien verbreitet worden. Jede warb für ihre Siege und für die jüngsten Niederlagen der anderen Seite an der Front. Nach dem Krieg behaupteten sie, sechs Millionen Juden seien getötet worden. Sechs Millionen Menschen, die gewiss zu mindestens zwei Millionen Familien gehörten. Unterstellen wir noch einmal, diese Geschehnisse sind wahr. Führt das logisch zur Gründung des Staates Israel im Nahen Osten oder zur Unterstützung eines solchen Staates? Wie kann dieses Phänomen rationalisiert oder erklärt werden? Herr Präsident, ich bin sicher, Sie wissen, wie – und mit welchen Kosten – Israel gegründet wurde:
  • Viele Tausend wurden während dieses Vorgangs getötet.
  • Millionen Eingeborene wurden zu Flüchtlingen.
  • Hunderttausende Hektar Ackerland, Olivenplantagen, Städte und Dörfer wurden zerstört.
Diese Tragödie spielte sich jedoch nicht nur zurzeit der Staatsgründung ab; unglücklicherweise setzt sie sich seit nunmehr sechzig Jahren fort. Es wurde ein Regime eingesetzt, das nicht einmal Kindern gegenüber Erbarmen kennt, das Häuser zerstört, während die Bewohner sich noch in ihnen befinden, das seine Listen und Pläne für die Ermordung palästinensischer Persönlichkeiten im Voraus bekannt macht und das Tausende von Palästinensern in Gefängnissen hält. Ein solches Phänomen ist einzigartig – oder zumindest extrem selten – im jüngsten Gedächtnis.“
Noch einmal zur Erinnerung: Für den außenpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion** ist Ahmadinedjads Brief ein „Versuch, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und Schluss zu machen mit dem gegenseitigen Bewerfen mit Vorwürfen“, für den Vizefraktionschef der Union der „Weg zu bilateralen Gesprächen“ und für nicht wenige deutsche Medien ein prinzipiell zu begrüßender diplomatischer Schritt. Vielleicht haben die antiisraelischen, antiamerikanischen und antiliberalen Tiraden nicht wenigen aber auch einfach aus der deutschen Seele gesprochen.

* Die französische Zeitung Le Monde veröffentlichte eine ins Englische übersetzte Fassung des Briefes (Übersetzung der Auszüge daraus: Liza).
** Passenderweise ist Weisskirchen auch noch der Persönliche Beauftragte des OSZE-Vorsitzenden zur Bekämpfung des Antisemitismus (Hattip: Daniel Rackowski).