15.5.06

Good night, Old Europe!

„Die Gesetze seien künftig nicht beachtet, in Erwägung, dass wir nicht mehr Knecht sein woll’n“, textete Bertolt Brecht 1934 in der ersten Strophe seiner Resolution der Kommunarden. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass Ayaan Hirsi Ali (Foto) dieses Lied im Kopf hatte, als sie vor vierzehn Jahren in die Niederlande kam und dort politisches Asyl beantragte. Gleichwohl geben die zitierten Zeilen treffend wieder, worum es ihr ging: nicht mehr geknechtet zu werden, nicht mehr die Zwangsverheiratung mit einem kanadischen Cousin fürchten zu müssen, nicht mehr den Zumutungen des Islam ausgesetzt zu sein. Sondern ein einigermaßen sicheres Leben in einem als liberal geltenden europäischen Land führen zu können.

Das war jedoch nur unter Umgehung des niederländischen Rechts in Form einer frisierten Biografie möglich. Denn Hirsi Ali war nicht, wie sie seinerzeit angab, vor dem Bürgerkrieg in Somalia geflohen, sondern sie kam aus Kenia, wohin sie zwölf Jahre zuvor mit ihrer Familie geflohen war. Sie hatte auch ihren eigentlichen Namen – Hirsi Magan – leicht verändert. Und sie war über Deutschland eingereist. Kurzum: Sie hatte ihren Asylantrag gefälscht, um überhaupt eine Chance zu haben, sich im Land ihrer Wahl niederlassen zu können. Hätte sie damals, 1992, nicht so gehandelt, wäre eine Abschiebung erst nach Deutschland und von dort aus nach Kenia oder sogar Somalia unausweichlich gewesen: Zwischen der Legitimität von Fluchtgründen und deren staatlicher Legalisierung klafft nicht selten eine riesengroße Lücke. Wer Hirsi Alis Buch Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen gelesen hat, wird einen Eindruck davon bekommen haben, was die damals 22-jährige bereits durchlebt hatte. Für eine Anerkennung als politischer Flüchtling hätte ihre Leidensgeschichte dennoch nicht ausgereicht. Da ist man in Europa bekanntlich gnadenlos.

1997 erhielt Ayaan Hirsi Ali die niederländische Staatsbürgerschaft, und seit 2002 sitzt sie für die bürgerlich-liberale Volkspartij voor vrijheid en democratie (VVD) im Parlament in Den Haag. Zuvor hatte sie die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) verlassen, weil man dort ihrer Kritik des Islam, um es vorsichtig zu formulieren, mit wenig Sympathie begegnete. Die Öffentlichkeit weiß seit vier Jahren, dass Hirsi Ali bei ihrer Einreise in die Niederlande teilweise falsche Angaben gemacht hatte, und erfährt daher eigentlich nichts Neues: „Ja, ich habe gelogen, um in Holland Asyl zu erlangen. Das ist seit mindestens September 2002 allgemein bekannt“, erklärte sie am vergangenen Wochenende noch einmal. Sie selbst hatte ihre Geschichte also bereits vor längerem publik gemacht – auch ihrer eigenen Partei. Bis vor kurzem nahm diese daran keinerlei Anstoß.

Das hat sich nun dramatisch geändert, nachdem Journalisten des niederländischen Fernsehmagazins Zembla in einem TV-Beitrag am vergangenen Donnerstag die Angelegenheit als angeblich brandneue Sensationsstory präsentierten. Integrationsministerin Rita Verdonk – Parteikollegin von Hirsi Ali! – bemerkte daraufhin, sie hätte die Ausweisung verfügt, wäre sie damals schon zuständig gewesen; nun wolle sie „Aspekte der Einbürgerung“ Ayaan Hirsi Alis „untersuchen lassen“. Unterstützung erhielt sie dabei von René de Groot, Hochschullehrer an der Universität Maastricht und Ausländerrechtler. Der sagte der Tageszeitung Trouw, Hirsi Ali müsse ihren Pass abgeben, weil sie falsche Angaben zu ihrer Person gemacht habe. Der ehemalige Vorsitzende der VVD, Hans Dijkstal, forderte sie auf, darüber nachzudenken, ob sie ihr Mandat nicht niederlegen wolle. Und Hilbrand Nawijn, ehemals Abgeordneter der Partei des Pim Fortuyn, zwischenzeitlich Direktor der Ausländerbehörde und heute mit einer eigenen Splittergruppe im Parlament vertreten, verlangte sogar, Hirsi Ali müsse abgeschoben werden.

So weit wird diese es nicht kommen lassen. Denn Ayaan Hirsi Ali verlässt die Niederlande, verlässt Europa – und geht dorthin, wo man ihr nicht in den Rücken fällt, sondern ihre scharfe und treffende Kritik des Islam zu schätzen weiß und ihre Fluchtgründe respektiert: in die USA, genauer gesagt nach Washington, zum American Enterprise Institute (AEI). Aus ihrer Begründung für diesen Schritt spricht nicht nur Enttäuschung, sondern Resignation: „Ich mache hier mehr kaputt, als ich gut mache. Bei den Bürgern kommt meine Botschaft ganz verformt an.“ Für diese Verformung hat jedoch nicht sie gesorgt, sondern Politiker aller niederländischen Parteien inklusive ihrer eigenen – und die Medien. Der Schockzustand in den Niederlanden, der nach der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh (Foto) im November 2004 durch einen Islamisten und dessen anschließender Todesdrohung gegen Hirsi Ali eingetreten war, ist umgeschlagen und hat sich letztlich gegen die Islamkritikerin als Störerin der islamophilen Friedhofsruhe gerichtet, das Opfer also zur Täterin gemacht. Der diesbezügliche Tiefpunkt dürfte erreicht gewesen sein, als Hirsi Ali von ihren Nachbarn erfolgreich aus ihrer Wohnung geklagt wurde: Sie soll im August dieses Jahres ausziehen, weil die Dauerbewachung und die Polizeipräsenz störten; die Nachbarn argumentierten weiterhin, Angst vor Anschlägen zu haben. Ein Gericht gab ihnen Recht, und man ist fassungslos ob solcher Unglaublichkeiten.

Clemens Wergin befindet in seinem Tagesspiegel-Kommentar daher vollkommen zu Recht: „Jetzt haben die Niederländer Ayaan Hirsi Ali außer Landes getrieben.“ Und er macht sich Gedanken über die Hintergründe der erneuten Flucht der Politikerin:
„Hirsi Ali hat die gemütliche niederländische Politik zu sehr durcheinander gewirbelt. Indem sie die Probleme der Integration von Muslimen auf drastische Art thematisierte, zerstörte sie die multikulturelle Utopie der holländischen Linken. Und den Rechten in der Regierung diente ihr Fall dann als Exempel dafür, dass man bei der neuen harten Einwanderungslinie keine Kompromisse macht – nicht mal für eine Verteidigerin demokratischer Werte. Ein Gericht hat sie dann auch noch aus ihrer Wohnung hinausgeschmissen, nachdem Nachbarn geklagt hatten, die Parlamentsabgeordnete stelle ein Sicherheitsrisiko dar.“
Dem kann man nur beipflichten. Genauso wie Wergins Resümee:
„Verständlich, dass Hirsi Ali in solch einem Land nicht bleiben will und in die USA auswandert. Die Botschaft dieser Affäre ist allerdings deprimierend. Offenbar haben viele autochthone Europäer ein Problem damit, wenn eingewanderte Muslime sie an die eigenen liberalen Werte erinnern. Man könnte fast den Eindruck bekommen, die unterdrückte muslimische Frau, die wenigstens den Mund hält, ist den Europäern lieber als eine wie Hirsi Ali, die sich mit unbequemen Wahrheiten zu Wort meldet. Davon jedenfalls können auch deutsch-türkische Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates ein Lied singen.“
Ayaan Hirsi Alis neuerliche Emigration ist die Folge des längst auch in Holland hegemonialen Kulturrelativismus’, der einmal mehr Beute gemacht hat. Das ist eine niederschmetternde Erkenntnis. Und für sie in hohem Maße verantwortlich ist eine Linke, der Statler & Waldorf mit Recht ein vernichtendes Zeugnis ausstellen:
„Ich möchte die Reaktion der jetzt so hämischen linken Kommentatoren sehen, wenn so nicht mit der aus ihrer Sicht unbequemen Ayaan Hirsi Ali, sondern mit einem sozialistischen Dissidenten verfahren würde, der aus irgendeiner Operettendiktatur geflohen ist. Da wäre die Aufregung groß, und das völlig zu Recht. Aber wenn es eine provozierende, liberale Bürgerrechtlerin trifft, die ihr Leben einsetzt, um gegen die perverse Interpretation einer Religion durch fanatische Irre zu kämpfen? Naja, dann gibt es eben Schadenfreude. Wie gesagt, keine Sorge um Hirsi Ali. Für sie wird der Absprung nach Washington in jeder Hinsicht eine Verbesserung sein. Und als Abschiedsgeschenk hinterlässt sie uns sogar noch den völligen und kompletten Moral-Striptease der opportunistischen Linken.“
Der einzige Hoffnungsschimmer ist, dass Ayaan Hirsi Ali in den USA endlich das wird, was ihr Vorname bedeutet: ein glücklicher Mensch.