11.6.06

Laizismus oder Barbarei

Viele Diskussionen gibt es um die mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Nicht wenige argumentieren, der Beitritt eines solchen Landes mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung stärke den Islam und ermuntere seine Anhänger, auch und gerade die bereits in Europa lebenden, zu einer weiteren Radikalisierung. Franklin D. Rosenfeld ist in seinem Gastbeitrag* anderer Ansicht. Er argumentiert, der türkische Laizismus werde durch diese organisierte Westanbindung eher gefestigt als geschwächt; zudem habe die Türkei in der Vergangenheit schon oft bewiesen, dass sie eine zuverlässige Kraft gegen den Wahnsinn ist, und auch ihre Beziehungen zu Israel seien ohne Beispiel in der muslimischen Welt.


Warum die Türkei in die EU gehört

Ein Plädoyer für den Beitritt der Türkei zur EU und für den Ausbau ihrer Westanbindung ließe sich begründen, indem ganz einfach die Argumente der Gegner auseinandergepflückt werden. Dabei soll zunächst mit einer Analyse der Türkei und der Welt als Synekdoche begonnen werden, gefolgt von einer Bestimmung der Freunde und Feinde der Türkei sowie von einer Erörterung ihrer Ausnahmestellung in der muslimischen Welt – denn würde man eine Liste aller mehrheitlich muslimischen Länder erstellen, in denen ein liberal-westlicher Lebensstil möglich oder denkbar ist, so wäre die Türkei immer als eines der ersten zu nennen.

An der Bedeutung dieses Landes im 21. Jahrhundert werden wenige zweifeln, und noch weniger werden sie kritisieren. Die politische Richtung, die die Türkei einschlägt, wird höchstwahrscheinlich entweder einen bedeutenden Beitrag zum Überleben der westlichen Zivilisation darstellen – oder ihren Niedergang befördern. Meines Erachtens fehlt jedoch eine Diskussion darüber, wie diese Entwicklung beeinflusst werden kann. Das Gleiche gilt für deren Ergebnis – wo und an wessen Seite wird die Türkei stehen, und wie wird sie politisch eingebunden? Worum geht es letzten Endes, und wie profitieren die Freunde und Nachbarn der Türkei von einem positiven Einfluss auf diese Richtung?

Die Grundannahme dieses Beitrags ist, dass die Türkei ein würdiges Mitglied der Europäischen Union wäre, wie sie auch eine der besten Hoffnungen im Krieg gegen den radikalen Islam und Israels einziger verlässlicher regionaler Alliierter ist sowie zudem eine Inspiration für die gesamte muslimische Welt sein kann, einen anderen Weg zu gehen als den des Islam. Kein anderes Land hat das Potenzial, ein Leuchtturm der Modernität für Länder von Marokko bis Malaysia zu sein. Am Rande sei in diesem Zusammenhang bemerkt, dass die Verwendung der Bezeichnung islamisch für eher säkulare Staaten mit muslimischer Mehrheit – wie etwa die genannten Marokko und Malaysia oder auch Jordanien – nicht sonderlich treffend ist; sehr tauglich ist dieser Begriff hingegen beispielsweise für die beiden Säulen des radikalen Islam: die Islamische Republik Iran sowie das Königreich Saudi-Arabien.

Die Schwerpunkte des Islam sind tendenziell um das arabische Zentrum der muslimischen Welt konzentriert, in der Einflusssphäre der starken und aggressiven islamischen Staaten, die ständig versuchen, ihre Fantasien und ihren Wahn zu exportieren. Dies gilt sowohl für Saudi-Arabien als Zentrum des sunnitischen Islam gegenüber Ägypten und Algerien als auch für Pakistan gegenüber dem Afghanistan der Taliban. Die Türkei – an der Kreuzung zwischen Europa und Asien gelegen und über den strategisch unschätzbaren Canakkale (die Dardanellen) wachend – hat insgesamt gesehen diesen und anderen Versuchungen in den vergangenen Jahrzehnten widerstanden. Sicherlich haben Ideologien wie der Nationalismus, der sowjetisch dominierte Realsozialismus, die französisch unterstützte panislamische Hesperophobie und der schiitische Islamismus die nicht-arabische muslimische Welt nicht so stark wie die arabischen Kernländer betroffen, mit der tragischen und äußerst kritischen Ausnahme des Iran allerdings. Auch auf die Gefahr hin, gewisse zivilisatorische Standards bloß herunterzubeten, sollen hier Ereignisse und Zustände aufgelistet werden, die der Türkei seit ihrer Gründung erspart geblieben sind:
  • Angriffskriege gegen souveräne Staaten
  • Faschistisch geprägte Diktaturen
  • Bürgerkrieg
  • Krieg gegen den Westen
  • Radikalislamische Unterdrückung
  • Realsozialismus
  • Krieg gegen, Konflikt mit oder auch „nur“ ein Boykott von Israel.
  • Und, um etwas tiefer in der Geschichte zu schwelgen: Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Türken und Juden nie gegeneinander gekämpft haben – beide zusammen jedoch gegen ihnen feindlich gesonnene arabische Staaten und Organisationen. Während die Vorgänger mancher der heutigen arabischen Regimes entweder verdeckt oder offen mit Nazideutschland sympathisierten und kollaborierten sowie Verbrechen gegen die Menschheit – die diesem Begriff erst seine volle Bedeutung verliehen – unterstützten, bot die Türkei mehr Flüchtlingen Unterschlupf als alle anderen kontinentaleuropäischen Länder. Anders als alle (!) EU-Staaten Kontinentaleuropas mussten die Bürger der Türkei darüber hinaus in den vergangenen 75 Jahren keine Veränderung ihrer Staats- und Regierungsform über sich ergehen lassen. David Ben Gurion (Foto) studierte in Istanbul dereinst Rechtswissenschaften, und erst kürzlich rühmte der türkische Präsident Ahmet Necdet Sezer vor der Knesset die „festen israelisch-türkischen Beziehungen“, die „viele schwere Prüfungen in guten wie in schlechten Zeiten überlebten“. Des weiteren betonte er, dass die Türkei bereit sei, „für ihren Freund Israel alles zu tun, um zu einem dauerhaften Frieden mit Israels Nachbarn zu gelangen“.

    Die guten Beziehungen der Türkei zu Israel haben eine jahrzehntelange Tradition; so erkannte sie vor zahlreichen europäischen Staaten Israel an – unglaubliche sechzehn Jahre beispielsweise vor der Bundesrepublik Deutschland. Darüber lohnt es sich zu reflektieren: Ein Land mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit nahm schon 1949, also unmittelbar nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitskrieges, diplomatische Beziehungen mit dem jüdischen Staat auf. Deutschland, andererseits, erkannte das Recht der Überlebenden des Holocaust – des schlimmsten Verbrechens in der langen Geschichte der Menschheit, das von Österreichern, Polen, Holländern, Litauern, Ungarn, Rumänen, Slowaken und anderen mitgetragen und erleichtert wurde, das aber von Deutschen ersonnen, erschaffen und ins Werk gesetzt wurde – auf einen Staat gewordenen Schutzraum erst mehr als eineinhalb Jahrzehnte nach der Staatsgründung Israels und nicht weniger als zwanzig Jahre nach der Befreiung der Überlebenden aus den Vernichtungslagern an. Grund genug, um Deutschland von allen Diskussionen über den EU-Beitritt der Türkei auszuschließen. Man kann die Haltung Frankreichs zur Türkei akzeptieren. Oder jene Großbritanniens. Die der Niederlande, auf jeden Fall. Die Italiens, eindeutig. Auch die Spaniens, vermutlich. Aber Deutschland? Niemals.

    Die Rolle der Türkei als Staat, der sich nicht von arabischen und radikalislamischen Interessen beeinträchtigen ließ, bestand geostrategisch gesprochen in der Absicherung der südöstlichen Flanke der NATO. Diese Absicherung wurde bemerkenswert erfolgreich vorgenommen. Und über die instrumentelle Funktion der Türkei im Kalten Krieg hinaus sei auch ihre entscheidende Rolle im Krieg um die Befreiung Kuwaits von der irakischen Okkupation 1991 sowie bei der anschließenden Kontrolle der Flugverbotszonen von 1991 bis 2003 genannt, die ohne die Türkei und insbesondere die Luftwaffenbasis Incirlik nicht möglich gewesen wäre.

    Viele Gegner eines EU-Beitritts der Türkei verweisen auf deren angeblich rückständigen und autoritären Charakter. Wenn man sie nun allerdings mit der Tatsache konfrontiert, dass neben Mustafa Kemal Atatürks Kreation die USA die einzige andere von einem General gegründete Demokratie sind, fangen viele Gegner an, den demokratischen Charakter des türkischen Staates in Frage zu stellen. Nicht wenige verweisen dazu auf den Wahlsieg der Islamischen Partei im Jahre 2002. Unverständlich bleibt dabei jedoch, warum dieser Sieg im Rahmen einer Republik, die dem Rechtsstaat verpflichtet ist, zu einer dauerhaften Verschlechterung führen soll. Vielmehr könnte der Sieg der Islamisten – der bei der türkischen Armee, der Hüterin des Laizismus und der republikanischen Werte, auf wenig Begeisterung stieß, um es vorsichtig zu formulieren – zeigen, dass der türkische Parlamentarismus auch solche Situationen übersteht, und es dürfte gewiss sein, dass die Islamische Partei nicht in der Lage ist, die Situation in der Türkei zu verbessern, weshalb ihre Abwahl bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich erscheint.

    Andere werden einwenden, dass die Macht in diesem Staat noch immer nicht bei der Regierung, sondern bei der Armee liege. Der Einfluss der Streitkräfte sei zu groß, um die Türkei als vollständiges „Mitglied Europas“ akzeptieren zu können. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit, auch wenn Hilmi Özkok (Foto), der Generalstabschef der türkischen Armee, Marine und Luftwaffe, überrascht sein wird, dass er der mächtigste Mann im Land sein soll. Gleichwohl ist es nicht zuletzt diese in der Verfassung verankerte Macht des Militärs, die den Laizismus der Türkei – und somit eine der beachtlichsten Erfolgsgeschichten der letzten Jahrzehnte – gesichert hat. Das einzige andere Land in Europa mit einer ähnlich strikten Trennung zwischen Staat und Religion ist Frankreich. Alle anderen EU-Länder sollten sich besser nicht beklagen – zumindest solange nicht, bis die automatische Einbehaltung von Kirchensteuer in Ländern wie Deutschland oder Österreich abgeschafft ist.

    Eine Kernfrage, die keiner der antitürkischen Kreuzfahrer bisher zur Kenntnis genommen hat, ist die nach den Alternativen, vor denen die Türkei steht. Sie könnte nach Osten schauen oder nach Süden, was bedeuten würde: Muslimbruderschaft oder Itbach al-yahud auf Türkisch. Und das wäre es dann. Doch es geht hier um mehr als nur um ein Land, ganz gleich, wie wichtig es ist. Wie, so wäre zu fragen, kann man im Westen ernsthaft behaupten, dass Bemühungen, ein Land auf westliche zivilisatorische Standards zu orientieren, gefördert und belohnt werden, wenn das westlichste und zivilisierteste Land der muslimischen Welt – ein Land, das seit fast sechzig Jahren Teil der bedeutendsten westlichen Allianz sowie ein zuverlässiger Alliierter der USA und Israels ist – ausgestoßen und abgelehnt würde? Wie könnte man es danach überhaupt begründen, den Irak – oder Malaysia und Marokko, vom Iran oder dem Sudan ganz zu schweigen – zu einer West-Verankerung zu motivieren?

    Nun, diese Kritiker werden darauf hinweisen, dass die Türkei zwar kein gänzlich islamischer Staat sei, aber doch der erste EU-Staat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit wäre. Darauf folgt unweigerlich das Argument, dass Islam und Demokratie sich gegenseitig ausschlössen und dass kein mehrheitlich muslimisches Land das Recht habe, zur EU zu gehören. Doch was sagen diese Kritiker zu den wachsenden muslimischen Minderheiten in den meisten – wenn nicht allen – EU-Ländern, und wie gehen sie mit ihnen um? Nehmen wir dennoch an, dass diese Kritiker Recht haben. Warum zeigt sich dann eine nichtchristliche – oder, genau genommen, eine post-christliche – Organisation wie die EU besorgt um Muslime in einem potenziellen Mitgliedsland, aber nicht, so scheint es zumindest, um ihre eigenen, radikalisierten und antiwestlichen muslimischen Einwanderergemeinschaften? Glaubt jemand ernsthaft, dass die Türken Istanbuls, Ankaras und Izmirs, aus welchem Grund auch immer, weniger bereit sind, sich dem einundzwanzigsten Jahrhundert anzupassen, als die Muslime Lyons, Madrids oder Kopenhagens? Wenn ja, warum? Und zudem: Was tun mit dieser Einschätzung?

    Es wäre noch zu erwähnen, dass die Türkei in den vergangenen Jahren auch eine bedeutendere und entscheidendere diplomatische Rolle zu spielen begonnen hat – und ihre Bereitschaft und Entschlossenheit, beispielsweise Israels Akzeptanz in der Welt zu befördern, sind bemerkenswert. Der Zustand der EU hingegen könnte kaum schlechter sein: eine sklerotische Gemeinschaft aussterbender Ehemaliger aus der Ersten Welt, zusammen mit geografischen Zufällen. Somit hat sie ihre Daseinsberechtigung schon lange überschritten, und die so oft beschworenen „gemeinsamen Werte“ sind keine, die die Türkei – oder irgendein anderes Land – imitieren und implementieren sollte. Die Türkei stand konsequent und geschlossen gegen die Zumutungen des Realsozialismus, gegen den Ba’thismus und auf der Seite des Krieges gegen den Terror. Es wäre Zeit für eine ernsthafte Gegenleistung.

    * Der Beitrag ist zuerst in englischer Sprache erschienen und wurde für Lizas Welt überarbeitet.