9.9.06

Vaterpflichten

Eigentlich hatte sich Jostein Gaarder ja fest vorgenommen, fürderhin zum Nahostkonflikt zu schweigen. „Die Debatte muss ohne mich weitergehen“, versprach er, nachdem Anfang August seine antisemitische Tirade „Gottes auserwähltes Volk“ in der norwegischen Zeitung Aftonbladet erschienen war„das Widerlichste, was ich seit Hitlers ‚Mein Kampf’ gelesen habe“, wie es die norwegische Schriftstellerin Mona Levin auf den Punkt brachte. Doch gute Vorsätze halten selten lang, und wie die sprichwörtliche Katze das Mausen nicht lassen kann, so drängt es den Antisemiten immer wieder danach, das hinauszuposaunen, was man hierzulande vorzugsweise für Israel-Kritik hält und also nicht als das benennt, was es ist: obsessiver Judenhass. Da außerdem die Gelegenheit gerade günstig war – Gaarder weilte beim internationalen Literaturfestival in Berlin –, nutzte er sie, um in einem Interview mit dem Deutschlandradio nachzulegen.

Der Schriftsteller gab darin erneut die penetrante Mischung aus aufsichtspflichtigem Lehrer und besorgtem Elternteil zum Besten, die schon seinen Aftonbladet-Essay ausgezeichnet hatte. „Ich habe Angst um Israel und habe deswegen diesen Artikel geschrieben – ähnlich wie ich Angst um meinen eigenen Sohn hätte, wenn ich wüsste, dass er anderen Kindern gegenüber gewalttätig ist“, mimte er im Gespräch den gramgebeugten Vater, der seinem ungezogenen Nachwuchs bloß zu dessen eigenem Vorteil die Grenzen aufzeigen will. „Es ist also für mich sehr wichtig, zu unterstreichen, dass ich Israel nur Gutes wünsche“, will Gaarder seinen Outburst als lediglich freundschaftlich gemeine Ermahnung verstanden wissen, im Rahmen eines selbst erteilten Erziehungsauftrags gewissermaßen. „Es gibt kein Zurück. Es ist an der Zeit, eine neue Lektion zu lernen: Wir erkennen nicht länger den Staat Israel an. [...] Als Gottes auserwähltes Volk zu handeln ist nicht nur dumm und arrogant, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wir nennen es Rassismus“, las sich diese Lektion bereits vor reichlich vier Wochen, vorgetragen mit erhobenem Zeigefinger, der dem renitenten Balg unmissverständlich den Weg weist: „Unsere Geduld hat Grenzen, und es gibt Grenzen unserer Toleranz. [...] Wir nennen Säuglingsmörder ‚Säuglingsmörder’ und werden nie akzeptieren, dass solche Leute ein göttliches oder historisches Mandat haben, das ihre Verbrechen entschuldigen soll. Wir sagen nur: Schande über alle Apartheid, Schande über ethnische Säuberungen und Schande über jeden terroristischen Anschlag gegen Zivilisten.“

Gaarder ließ seinerzeit etwas folgen, das das Weblog Nichtidentisches treffend als Verknüpfung von Fatalismus mit einem ödipalen Schutzreflex analysiert: „Wir sind nun am Scheideweg. Es gibt kein Zurück. Der Staat Israel hat die Anerkennung der Welt vergewaltigt und wird keinen Frieden haben, bevor er nicht seine Waffen niedergelegt hat.“ Das Blog schreibt dazu: „Das Bild der Vergewaltigung ist ein einfaches der Propaganda, jeder ‚Sohn’ wird herbeieilen, um eine Mutterimago zu schützen, sei dies Germania, die Menschheit oder Mutter Erde.“ Und die Welt, sie muss geschützt werden, bevor noch Schlimmeres geschieht, denn der Judenstaat erweist sich für Gaarder als hoffnungsloser Fall: „Seit zweitausend Jahren haben wir den Lehrplan des Humanismus eingeübt, aber Israel will nicht hören.“ Darauf steht der Ausschluss aus der Klassengemeinschaft namens Menschheit; der Antisemitismus muss, weil er im Curriculum jedenfalls nicht vorgesehen ist, zwangsläufig etwas sein, das das Land der Shoa-Überlebenden selbst verursacht hat und für das es daher in Regress zu nehmen ist. Wer eigentlich das mysteriöse „Wir“ ist, von dem der Literat immerzu schreibt, erfährt man nicht expressis verbis; die Zielgruppe dieses identitären Angebots setzt er offenbar als bekannt voraus, denn er expliziert sie nirgendwo. Er habe das Wort „natürlich nur rhetorisch verwendet“, beschied Gaarder in seiner Unterhaltung mit dem Deutschlandradio knapp, wurde also auch diesmal nicht konkreter. Doch das muss er auch gar nicht, weil die Antisemiten aller Herren Länder ihn auch so sehr gut verstehen.

Was Gaarder im Interview schließlich ausführte, perfektioniert seine einen Monat zuvor niedergeschriebenen Invektiven. Denn er verbindet die in seinem Aufsatz vorgenommene „Modernisierung des weitgehend vom modernen Antisemitismus abgelöst gewähnten, religiös argumentierenden Antijudaismus, der den modernen jüdischen Staat nur in missverstandenen biblischen Kriterien fassen kann“ und in Israel die Verkörperung des „Wiedererstarkens der archaischen, überholten Religion“ sieht (Nichtidentisches), mit einem Antisemitismus auf der Höhe der Zeit: der so genannten Israel-Kritik nämlich, die dem jüdischen Staat selbstverständlich nur wohlmeinende Ratschläge erteilen will, deren – erwartete und erhoffte – Nichtbefolgung dessen Untergang herbeiführe, den die Kritiker schließlich tatkräftig zu befördern sich gezwungen sehen – man hatte schließlich gewarnt. Also sprach der Schriftsteller von Kana, von UN-Resolutionen – die Israel missachte, obwohl sie nur zu seinem Besten seien –, von der Notwendigkeit des Boykotts israelischer Produkte „wegen der Opfer in der palästinensischen Zivilbevölkerung“ und davon, dass es „gefährlich“ sei, die Israel-Kritiker des Antisemitismus zu zeihen, „weil auf diese Weise der Antisemitismus verharmlost wird“. Schließlich sei „Antisemitismus das Schlimmste, was es gibt“. Nämlich „so ähnlich, wie wenn man pädophil ist“, also Schutzbefohlene missbraucht. Und wer wüsste das besser als Jostein Gaarder, der Pädagoge, der sorgenzerfurchte Vater der nicht erwachsen werden wollenden Juden, der „wegen der Pogrome, wegen des Holocausts“ nicht verstehen kann, warum sein Sohn „anderen Kindern gegenüber gewalttätig ist“, statt die Besserungsanstalt Auschwitz mit Auszeichnung verlassen zu haben?

Es bedarf daher weiterhin der Aufsicht durch die Erziehungsberechtigten – denn wie hatte es der Dichter noch in der norwegischen Zeitung formuliert? „Der Staat Israel existiert nicht. Es ist jetzt ohne Schutz, ohne Haut.“ Und wenn schon die Rute aufs entblößte Fleisch nichts nützt, „möge die Welt Mitleid haben mit der zivilen Bevölkerung; denn unsere Prophezeiungen des Verhängnisses zielen nicht auf zivile Individuen.“ Dass Israel sich gegen seine Feinde, die es vernichten wollen, mit allem Recht dieser Welt verteidigt, kommt jedenfalls nicht in die Tüte, wie Nichtidentisches feststellt: „Der Antisemit kann die Juden als Kastrierte dulden, als willfährige Flüchtlinge, nackt wie Schnecken, wie in Gaarders Bild. Nicht aber als nach 2000 Jahren wieder ‚Erstarkte’, Kastrierende. Die halluzinierte Macht der Juden im Antisemitismus wird durch reale militärische Macht möglicherweise eher irritiert als erweitert. Die antisemitische Imago vom Juden schließt dessen Gegenwehr aus. Der Jude als antisemitische Imago bedarf magischer Attribute wie Kinderblut und Gold und instrumentalisiert notfalls sein eigenes Volk, aber er geht nicht mit der Waffe in der Hand los. Der gewöhnliche Jude ist dann der gute Jude, der mächtige ist die persona non grata, der erste kann bekehrt werden, der letztere muss als halluzinierte Konfliktursache beseitigt werden.“

Bis es soweit ist, geht Papa Jostein mit seinem neuen Buch – das passenderweise „Schachmatt“ heißt – auf Tour. Und trifft dort auf Kinder, die sich noch zu benehmen wissen: „Das war toll! Vor allem, dass er deutsch gelesen hat“, applaudierten ihm in Berlin zwei Neunjährige öffentlich. Einige Gäste seiner Lesung jedoch wollten von Gaarder anderes hören als belanglose Erlebnisse aus Sofies Welt – und wurden darob väterlich zurecht gewiesen: „Er war empört über die Umgangsformen der Zwischenrufer, die ihn als Antisemiten bezeichneten, und verglich ihr ungehöriges Verhalten mit Vorgängen vor 60 Jahren. Letztendlich war das Publikum im Saal an der Diskussion desinteressiert, und Jostein Gaarder kann nach dem Abend beruhigt sein: Wenn sich überhaupt jemand noch an seinem Artikel stört, werden dies nur Juden sein“, berichtete Ariel Cukierman, der die Lesung besucht hatte und schließlich gemeinsam mit vier weiteren Besuchern aus dem Saal geworfen wurde. Aber sie können sich trösten: Es war gewiss nur zu ihrem Besten.

Hattip: barbarashm