Verkehrte Welt

Europäische Politiker, Theologen und Vertreter des Christentums machen offen Front gegen den Islam, und auch die europäische Presse läuft regelrecht Amok: In Le Monde diplomatique erscheinen nahezu täglich Artikel, in denen den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat rundweg abgesprochen wird; der Guardian rechtfertigt die antiislamischen Ausschreitungen uneingeschränkt und weist darauf hin, dass Europa von den Muslimen nun lange genug provoziert worden sei; in der taz gibt es eine breite Debatte über die Legitimität von extralegalen Maßnahmen, die über die Ausweisung aller Islamgläubigen hinausgehen. Doch die meisten Muslime reichen den Europäern, Amerikanern und Israelis weiter die Hand. Sie fordern einen Dialog der Kulturen und warnen: „Bei allen Aufrufen, den Terror zu verurteilen, darf man die Christen und Juden nicht pauschal in die Ecke drängen, halbe Terroristen zu sein“, sagt beispielsweise der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedjad.
Die arabische Presse mahnt ebenfalls zur Zurückhaltung: „Mit Recht wehren sich Juden und Christen dagegen, wenn man ihre Religion pauschal der Gewalttätigkeit zeiht, zumal die Geschichte fast aller Religionen auch eine Geschichte der Gewalt gewesen ist. Der Islam hat da ein langes Sündenregister“, findet eine der Hizbollah nahe stehende Tageszeitung. Und ein in Damaskus erscheinendes Blatt meint unter der Überschrift „Feinde haben, Feinde machen“: „Terror, das Wüten jüdischer Selbstmordattentäter in Palästina, Antiislamismus, fanatische Reden: Das alles findet statt in der christlich-jüdischen Welt. Oft genug, wie beim Streit um die Holocaust-Karikaturen, werden Lappalien grausam instrumentalisiert. In London wurde wegen der Rede eines Ayatollahs ein iranischer Imam ermordet. Doch dies alles zu brandmarken, darf nicht bedeuten, zwei der größten Religionsgemeinschaften der Welt an sich unter Generalverdacht zu stellen. Wer unsere Emanzipationserrungenschaften gegen die Lehren des Christentums und Judentums ausspielt, betreibt eine moderne, verführerische Form der Ausgrenzung.“
Organisationen der Friedensbewegung in arabischen Ländern gehen sogar noch weiter: Für sie ist die Hizbollah der Aggressor im Krieg gegen Israel; der jüdische Staat habe sich lediglich gegen die permanenten Angriffe auf seine Zivilbevölkerung gewehrt. Sprecher verschiedener Gruppen werfen ihren jeweiligen Regierungen zudem die Unterstützung der libanesischen Freiheitskämpfer vor und fordern die sofortige Einstellung der finanziellen Hilfen für sie. Auch die Hamas wird von den Friedensfreunden scharf kritisiert: Israels Regierung sei demokratisch gewählt und müsse unverzüglich anerkannt werden; die Juden hätten genauso ein Recht auf einen eigenen Staat wie die Muslime im Iran, Jordanien oder Syrien. Proteste gibt es auch gegen den Iran, dem vorgeworfen wird, mit seinem Atomprogramm die Lage nur unnötig zu verschärfen; darüber hinaus fordern Tausende von Demonstranten ein Ende der Waffenlieferungen an Syrien und die Hizbollah. Etliche Friedensinitiativen und teilweise auch Politiker islamischer Länder äußern ein gewisses Verständnis für die jüdischen suicide attacks und die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Muslime; es seien „die Reaktionen Verzweifelter“, die sich nun Bahn brächen. Israel wird zwar aufgefordert, seine atomare Bewaffnung nicht fortzusetzen; gleichzeitig betont man jedoch, das Land habe ein Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie. Auch im kulturellen Sektor zieht man immer öfter Konsequenzen: Um die religiösen Gefühle von Juden nicht zu verletzen und weil außerdem eine weitere Eskalation befürchtet wird, setzen verschiedene arabische Fernsehsender die beliebte religionskritische Serie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ ab.
Doch all dieses Entgegenkommen, das ganze Appeasement hilft nichts: Der Generalverdacht gegen Muslime will und will nicht weichen. Doch an deutliche Worte und Maßnahmen denkt man nicht – und fahndet weiter nach Europäern, Israelis und Amerikanern, die den Kritischen Dialog suchen und sich von der antiislamischen Gewalt distanzieren, während man sich bemüht, ihre weniger kooperativen Landsleute nicht weiter zu provozieren. Um so das Gespenst zu bändigen.