Existenzielle Courage
Jagdszenen in der französischen Hauptstadt am vergangenen Donnerstag: Ein schwarzer Polizist schützt jüdische Fußballfans vor einem mehr als 150 Menschen starken Mob, der daraufhin zur Lynchjustiz bläst. Als mehrere Vorwarnungen und selbst Tränengas nichts helfen, erschießt der Beamte einen der Angreifer; ein weiterer wird schwer verletzt. Sowohl ein Journalist, der Augenzeuge des Geschehens wird, als auch die französische Polizeigewerkschaft UNSA sprechen von legitimer Notwehr; die Staatsanwaltschaft, die zunächst wegen des Verdachts der „vorsätzlichen Tötung“ gegen den Polizisten ermittelt, scheint diese Einschätzung inzwischen zu teilen. Der Innenminister und der Pariser Bürgermeister plädieren für ein drakonisches Vorgehen gegen Antisemitismus und Rassismus, während sich die Situation in Frankreich zuspitzt.
Bereits während des UEFA-Pokal-Spiels von Paris Saint-Germain (PSG) gegen Hapoel Tel Aviv, das das Team aus Israel mit 4:2 gewann, waren Spieler und Fans der Gäste einer ausgesprochen feindseligen Stimmung ausgesetzt. „Wir haben die Gesänge der Franzosen gehört, die in keiner Weise etwas mit Fußball zu tun hatten“, kommentierte Hapoels Pressesprecher Amir Lubin gegenüber Galei Zahal Radio mit vornehmer Zurückhaltung die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil des Publikums antisemitische Hassparolen gegrölt hatte. Jean-Philippe D’Hallivillée, Leiter des Sicherheitsdienstes des Pariser Klubs, sagte, seine Mitarbeiter hätten die Partie überwacht und rechtsradikale Aktivitäten wie das Zeigen des Hitlergrußes aufgezeichnet. Dutzende von Zuschauern seien festgenommen und verhört worden. Die meisten der rund 1.500 Hapoel-Fans mussten nach dem Spielende zunächst unter Polizeischutz im Stadion ausharren.
Auf einige Anhänger des Gastvereins, die die Arena bereits verlassen hatten, eröffnete eine zunächst dreißig- bis vierzigköpfige Gruppe die Jagd. Philippe Broussard, Reporter des Nachrichtenmagazins L’Express, wurde zum Beobachter dieser Hatz. Seinem Bericht zufolge rief die Menge antisemitische Parolen und verfolgte schließlich Janniv Hazout und drei weitere Hapoel-Supporter. Den Bedrohten zu Hilfe eilte Antoine Granomort, ein 32-jähriger Polizist in Zivil. „Bleib hinter mir! Bleib verdammt noch mal hinter mir!“, versuchte er Hazout zu schützen. Den Angreifern gab er sich als Polizist zu erkennen, doch die Meute wuchs rasch auf mindestens 150 Personen an, nahm nun auch Granomort ins Visier und ging mit Rufen wie „dreckiger Jude“, „dreckiger Neger, dich bringen wir um“, „Le Pen Präsident“ und „Frankreich den Franzosen“ auf ihn los: Er wurde zu Boden geworfen und in den Bauch getreten. Granomort setzte sich zunächst mit Tränengas zu Wehr, doch der Mob setzte ihm erneut zu. Daraufhin fiel ein Schuss: Er traf den 25-jährigen Julien Quemere tödlich und verletzte anschließend den ein Jahr älteren Mounir Bouchaer schwer. „Er ist von 150 aufgeheizten Typen angegangen worden, und wenn er nicht geschossen hätte, wäre er dabei draufgegangen“, sprach Frédéric Lagache, der Leiter der Polizeigewerkschaft UNSA, von einer eindeutigen Notwehrsituation für Granomort, der schließlich in einem nahe gelegenen Schnellrestaurant Schutz suchte und selbst dort noch attackiert wurde.
Der Getötete gehörte den Boulogne Boys an, einer Organisation von PSG-Fans, aus deren Gesinnung Aymeric de Saint Hilaire, einer ihrer Anführer, in einem Interview mit einer befreundeten Ultra-Gruppierung von Rapid Wien keinen Hehl machte: „Seit 1978 ist die ‚Boulogne’ die historische Tribüne der PSG-Anhängerschaft, genannt ‚KOB’“ – deren Teil die Boulogne Boys sind – „und in extrem rechter Orientierung. Viele von uns sind Nationalisten und stolze Franzosen.“ Die es nicht bei Hassparolen belassen, sondern sie regelmäßig auch in die Tat umsetzen; bereits 1998 hatte es beim Spiel gegen den israelischen Verein Maccabi Haifa blutige antisemitische Ausschreitungen gegeben. Und auch rassistische Schmähungen und Übergriffe sind beim harten Kern des PSG-Publikums nichts Neues: Schwarze Spieler der gegnerischen Teams beispielsweise werden regelmäßig mit Affenlauten bedacht, und erst vor knapp zwei Wochen verurteilte ein Gericht zwei PSG-Hooligans zu Gefängnisstrafen. Die beiden hatten einen dunkelhäutigen Franzosen angegriffen.
Empörte Anwohner forderten nach den Attacken auf die israelischen Fans und den Polizisten die Auflösung des französischen Erstligaklubs Paris-Saint Germain; dessen Vorsitzender Alain Cayzac sprach von der „düstersten Stunde“ seines Vereins und erklärte, er werde die „Geißel des Rassismus und Antisemitismus beim PSG“ bekämpfen. Wenn er das nicht schaffe, werde er die Konsequenzen ziehen. Auch der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoe betonte, es sei „absolut notwendig“, Antisemitismus und Rassismus im Umfeld der Fußballanhänger „mit allen Mitteln“ zu bekämpfen. Innenminister Nicolas Sarkozy kündigte nach einer Krisensitzung mit Fußballvereinen und Pariser Fanklubs an, „die rassistischen Elemente aus den Stadien zu fegen“: „Wir wollen keine Nazi-Grüße und keine Affenschreie, wenn schwarze Spieler den Ball berühren.“ Und auch keine antijüdischen Hassgesänge und Hetzjagden, darf man wohl annehmen.
Derlei Entschlossenheit ist so begrüßenswert wie verspätet. Denn der Antisemitismus nimmt in Frankreich bereits seit geraumer Zeit dramatisch zu und sorgt dafür, dass immer mehr französische Juden über eine Auswanderung nach Israel nachdenken oder diesen Schritt bereits vollzogen haben. Eine Studie der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) hatte bereits vor drei Jahren festgestellt, dass für den rasanten Anstieg antijüdischer Straftaten in der EU – insbesondere in Frankreich – hauptsächlich Jugendliche aus islamischen Einwandererfamilien verantwortlich sind.* Die teilweise aggressive Politik der französischen Regierung gegenüber Israel heizt die Situation zusätzlich an. Hinzu kommt, dass der Front National des Jean-Marie Le Pen weit weniger als in früheren Jahren gegen Muslime zu Felde zieht, sondern den unter diesen verbreiteten Antisemitismus längst als tertium comparationis und ideologisches Scharnier entdeckt hat. Eine entsprechende Arbeitsteilung war auch am vergangenen Donnerstag im Prinzenparkstadion zu beobachten, als auf der einen Tribünenseite die Boulogne Boys ihre antisemitischen Tiraden schmetterten, während auf der anderen palästinensische und libanesische Fahnen geschwenkt und „Es lebe Palästina“-Parolen gerufen wurden. Denkbar, dass auch die anschließende Jagd auf Hapoel-Fans und den Polizisten als Allianz von Nazis und Islamisten stattfand.
Antoine Granomort wiederum hat – daran kann nach den Augenzeugenberichten kein Zweifel bestehen – gezeigt, was in Sonntagsreden gemeinhin als Courage bezeichnet wird, und das in einer für ihn existenziellen Situation: Er hat bedrohte jüdische Fußballfans vor einem antisemitischen Lynchmob geschützt, der dadurch Zuwachs bekam, ihm selbst nach dem Leben trachtete und sich dabei auch von Warnungen bis hin zu einem Tränengaseinsatz nicht beeindrucken ließ. Nun ist es an anderen, dafür zu sorgen, dass solche Dramen gar nicht erst entstehen.
* Die Untersuchung wurde zunächst unter Verschluss gehalten, weil man bei der EUMC fürchtete, ihre Veröffentlichung könnte zu Ausschreitungen durch Muslime führen. Diese Erkenntnis, die also die Resultate der Studie untermauerte, führte dazu, dass die genannte Gruppe in der offiziellen Endfassung nicht mehr als für antisemitische Straftaten hauptverantwortliche auftauchte.
Zu den Fotos: Oben: Das Schnellrestaurant, in das sich der französische Polizist flüchtete, nach dem Angriff des Lynchmobs. Unten: Spieler von Hapoel Tel Aviv feiern den 4:2-Erfolg ihrer Mannschaft mit ihren Fans.
Hattips: Franklin D. Rosenfeld, Olaf Kistenmacher, Spirit of Entebbe