Denken und Gedenken
Heute jährt sich die so genannte Reichspogromnacht zum 68. Mal. Am 9. November 1938 wurden in Deutschland durch einen von SA-Truppen angeführten Mob nahezu alle Synagogen in Brand gesetzt, mehr als 7.500 jüdische Geschäfte zerstört, Juden durch die Straßen gejagt und etwa einhundert von ihnen ermordet; 30.000 wurden darüber hinaus verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau deportiert. In vielen deutschen Städten gibt es deshalb alle Jahre wieder Gedenkkundgebungen. Daran ist grundsätzlich gewiss nichts Schlechtes, doch die Sache hat einen veritablen Haken: In Deutschland pflegt man zwar die Solidarität mit toten Juden; mit den lebenden jedoch hat man für gewöhnlich nur dann kein Problem, wenn sie als Kronzeugen gegen Israel zu gebrauchen sind. Denn das allfällige „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ richtet sich längst schon gegen den jüdischen Staat, und deshalb treibt es just heute wieder nicht zuletzt diejenigen auf die Straße, die in Israel die Reinkarnation Nazideutschlands sehen und mit ihrer Teilnahme an einer der zahlreichen Mahn- und Erinnerungsveranstaltungen das moralische Recht zu erwerben trachten, umso ungehemmter gegen „israelischen Staatsterrorismus“ und „zionistische Besatzungspolitik“ zu Felde ziehen zu können.
Wirklich neu ist das nicht: Vor genau 37 Jahren wurde im Jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße in Berlin eine Bombe deponiert, die nur wegen eines rostigen Drahtes nicht explodierte. Verantwortlich für diesen gescheiterten Anschlag war die militant linksradikale Gruppierung Schwarze Ratten/Tupamaros Westberlin, die ihr Vorhaben so rechtfertigte: „Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem US-Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“ Sprengsätze bastelt man inzwischen eher nicht mehr; das Gedankengut der Schwarzen Ratten jedoch wird mittlerweile von zwei Dritteln der Deutschen geteilt: jenen nämlich, die Israel unterstellen, einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ zu führen.
Aber auch dort, wo man das nicht so sieht oder zumindest nicht ausspricht, mag man die einzig richtige Konsequenz aus der Reichspogromnacht in der Regel nicht ziehen: die Solidarität mit Israel nämlich, dem Staat der Überlebenden der Shoa, der die zu spät gekommene Notwehr gegen den Antisemitismus ist und daher umso nachdrücklicher verteidigt werden muss. Ein Beispiel für eine solch folgenlose Erinnerung an den 9. November 1938 ist derzeit in Bonn zu beobachten, wo sich anlässlich des Jahrestages dieses Ereignisses ein Bündnis zusammengefunden hat, das eine Veranstaltungsreihe sowie eine Kundgebung organisiert. „Gedenken verteidigen“, heißt die Handlungsmaxime dieser Allianz diverser linker Kleingruppen, doch gegen – oder für – wen oder was sie ihren Abwehrkampf führt, wird bestenfalls phrasenhaft angedeutet: „Nur wenn Erinnerung wachgehalten, Opfern gedacht, TäterInnen benannt und der Widerstand gewürdigt wird, kann Antisemitismus heute wirkungsvoll entgegengetreten werden“, heißt es im Aufruf des Zusammenschlusses so pflichtschuldig wie nichtssagend, bevor man doch noch mühsam konkreter wird und sich gegen die „Relativierung [von] Verbrechen, die die Bombardierung Dresdens und deutsches ‚Vertriebenenleid’ in den Vordergrund deutscher Vergangenheitsbewältigung rückt“, ausspricht, ohne dass es den Verfassern auffallen würde, dass die Deutschen ihre nämliche Vergangenheitsbewältigung in Form von institutionalisiertem und ritualisiertem Gedenken längst zum Standortvorteil gemacht haben und deshalb die Berechtigung erworben zu haben glauben, mit dem Finger auf andere zu zeigen und sich selbst zu betrauern.
„Noch 61 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager werden TäterInnen geehrt, Widerstandsgruppen hingegen als kriminelle Banden diffamiert und Opfern ein angemessenes Gedenken verweigert“, behaupten die Bonner darüber hinaus – und übergehen dabei geflissentlich beispielsweise die Rede des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, in der er sagte: „Der Tod der Millionen, das Leid der Überlebenden, die Qualen der Opfer – sie begründen unseren Auftrag, eine bessere Zukunft zu schaffen. [...] Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, an Krieg, Völkermord und Verbrechen ist Teil unserer nationalen Identität geworden. Daraus folgt eine bleibende moralische und politische Verpflichtung.“ Schröder hat also keineswegs Widerstandsgruppen „als kriminelle Banden diffamiert“ und den Opfern ein „Gedenken verweigert“ – er hat sie bloß als moralisches Kapital vereinnahmt, um im Kosovo ein „neues Auschwitz“ entdecken und in Bagdad die Wiederkehr von Dresden sehen zu dürfen. Das hätte unter anderem Gegenstand der Kritik zu sein – doch das ist nicht gemeint, wenn die Bündnisbonner „Gedenken verteidigen“ fordern und bei ihnen „in Vorträgen, [einem] Konzert, [einer] Ausstellung und einer Kundgebung am 9. November 2006 [der] Opfer gedacht, Erinnerung wachgehalten und Antisemitismus angeprangert“ wird. Denn Hauptsache ist, es tut niemandem weh.
Was die eigentlichen Schlussfolgerungen aus dem 9. November vor 68 Jahren zu sein hätten und was es sonst noch an der Veranstaltungsreihe des Bündnisses zu kritisieren gibt, weiß eine Antifa-Gruppe aus der ehemaligen Bundeshauptstadt, die sich Never Again nennt und in einem Flugblatt Stellung bezieht. Ihr Papier, das noch nicht im Web zu lesen ist, sei daher im Folgenden dokumentiert.
Never Again, Bonn
Israel verteidigen!
Anmerkungen zum 9. November
Der 9. November 1938 war wie ein Schicksalstag für all jene deutsche und europäische Juden, die sich bis dahin und in der Folgezeit nicht den Fängen des nationalsozialistischen Terrors hatten entziehen können. Denn er markierte nicht nur den vorläufigen Höhepunkt volksgemeinschaftlicher Selbstfindung, sondern gleichzeitig einen qualitativen Sprung des allgegenwärtigen Antisemitismus: Dessen eliminatorisches Wesen hatte sich bis 1933 vor allem anhand von Pogromen offenbart, als mehr oder weniger spontaner Ausdruck eines irrationalen Volkszorns gegen die Juden, den personifizierten Inbegriff des Anderen, des Feindes, des Ritualmörders, des Wucherers und Zersetzers, des Kommunisten und Kapitalisten in einer Gestalt. Aber bereits die umfassende Klassifizierung, Entrechtung und gesellschaftliche Marginalisierung der deutschen Juden in der Frühphase des Nationalsozialismus ließ erahnen, dass der zum deutschen Selbstverständnis geronnene Antisemitismus alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Die reichsweiten Novemberpogrome stehen symbolisch für den Wandel und die Modernisierung der massenmörderischen deutschen Raserei – vom richtungslosen, emotionalen Judenhass zum geregelten und bürokratisierten „Antisemitismus der Vernunft“. Statt als Schutzherr oder Nutznießer des Volkszorns trat der Staat nun als maßgeblicher Akteur und Vollstrecker der Vernichtung auf. Der 9. November 1938 war die quasi-plebiszitäre Legitimationsgrundlage der mit dem deutschen Überfall auf Polen begonnenen und ab 1942 minutiös durchgeführten Ermordung der europäischen Juden.
Auschwitz hätte – jenseits von allen Versuchen, dem Unsäglichen einen Sinn zu geben – einige elementare linke Gewissheiten begründen müssen: Nämlich Antisemitismus nicht länger als einen „Antikapitalismus der dummen Kerle“ (August Bebel) zu verharmlosen, ihm somit gar noch einen eigentlich positiven Kern zuzusprechen, dem nur durch genug Agitprop zur Entfaltung verholfen werden muss, sondern nüchtern zu konstatieren, dass das, was in den Vernichtungslagern sich unendlich grausam vollzog, schon im geschmacklosen Witz und im haltlosen Ressentiment gegenwärtig ist: der gleichzeitige Wunsch und Wille, die Juden, alles Jüdische zu beseitigen. Aus diesen Gewissheiten hätte folgen müssen, dass die geschichtsphilosophischen Parolen des Klassenkampfes zusammen mit den Opfern des nationalsozialistischen Wahns zu Grabe getragen worden waren und dass es nie wieder einen positiven Begriff des Volkes oder sonstiger kollektiver, das Individuum restlos absorbierender Identitäten geben darf. Stattdessen stand schon bald die gedankenlose, dafür umso pathetischere Identifikation mit all jenen an der Tagesordnung, die sich im Kampfe opfern – warum und wofür war dabei erst einmal nebensächlich, denn das Mittel heiligte den Zweck. Dass grade die antisemitischen Banden panarabischer oder islamischer Couleur dem prototypischen deutschen und europäischen Nachkriegslinken bis in die Gegenwart als Projektionsfläche dienen, zeugt also von einer bruchlosen ideologischen Abdichtung gegen jede Erfahrung.
Die konsequente Befolgung des politischen Testaments des Nationalsozialismus wird heute in widerspruchsfreier Reinheit von Seiten der islamistischen Bewegungen vollzogen. Hier hat das Leben keinen individuellen Wert und Zweck, sondern einen höheren Sinn, der sich im Zweifelsfall darin offenbart, sich inmitten von Zivilisten in die Luft zu sprengen. Der Islamismus in Gestalt von Hamas und Hizbollah, der ägyptischen Muslimbrüder und des iranischen Präsidenten ist die Sakralisierung nationalsozialistischer Sinngebung und das Selbstmordattentat die zeitgemäße Form des antisemitischen Vernichtungswillens: Denn wenn auch der Djihad im Irak täglich dutzende Muslime tötet, so gilt er doch einer halluzinierten zionistischen Weltverschwörung und deren angeblichen Agenten, als welche sich die verschiedenen muslimischen Gruppen wechselseitig denunzieren. Das bedeutet, dass heute sowohl die Idee als auch die Praxis des „Antisemitismus der Vernunft“, der nicht weniger verlangt als die Vernichtung der Juden, sich hauptsächlich gegen Israel und den Zionismus richten, der Kampf gegen Antisemitismus sich also maßgeblich als Existenzkampf Israels vollzieht.
Ruft aber in Bonn ein linkes Bündnis unter dem Motto „Gedenken verteidigen“ zum 9. November auf, so erwähnt es diesen Existenzkampf selbstverständlich mit keiner Silbe. Angesichts der Tatsache, dass die gesellschaftlichen Bedingungen des Antisemitismus nicht beseitigt werden konnten, dass weiterhin die klaffenden Widersprüche zwischen den objektiven Möglichkeiten menschlichen Daseins und deren oft viel weniger als armselige Verwirklichung im Kapitalismus sich in der pathischen Projektion auf den verschworenen und mächtigen Juden – IsraÖL und USraÖL – ausdrückt, und dass zudem ein im positiven Sinne revolutionärer Zustand nicht absehbar ist, muss aber das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einher gehen mit dem Bekenntnis zu Israel, dem Staat gewordenen Garanten jüdischer Existenz und Selbstbestimmung. All die Parolen gegen Antisemitismus, die anlässlich symbolträchtiger Daten wie dem 9. November inflationäre Verwendung finden, sind vollkommen inhaltsleer und nutzlos, wenn sie von einer Solidarisierung mit dem tatsächlichen und tagtäglichen Kampf des israelischen Staates um sein Überleben absehen – und sind zudem unglaubwürdig, wenn sie, wie in Bonn, etwa von den Freidenkern kommen, die zusammen mit den Nationalbolschewisten vom Initiativ e.V. und der jungen Welt zur antizionistischen Avantgarde der hiesigen Linken gehören. Darüber hinaus verkennt der Anspruch einer Verteidigung dieses vorgeblich richtigen Gedenkens, dass eben das formelle, wirkungslose Lippenbekenntnis zur deutschen Vergangenheit heute zum Standardrepertoire einer sich antifaschistisch gerierenden Berliner Republik gehört. Die Verteidiger des konsequenzlosen Gedenkens tun letztendlich nichts anderes als die betroffen dreinschauenden und mahnenden Exponenten deutscher Politik: an die Vergangenheit erinnern, um dann moralisch gestärkt zum Alltagsgeschäft überzugehen – was nicht zuletzt heißt, einerseits als „Friedensmacht“ Urteile über die in den USA und Israel ausgemachten Kriegstreiber zu fällen und im Gegenzug Selbstmordattentate als Widerstand zu verharmlosen.
„Gedenken verteidigen“ muss implizieren, Israel zu verteidigen, vor allem gegen den permanenten Versuch der internationalen antizionistischen Querfront, dem jüdischen Staat seine Legitimität abzusprechen. Denn ein Gedenken an die Opfer des Antisemitismus ist sinnlos, wenn es nicht die Verteidigung objektiv notwendiger Schutzmaßnahmen für alle faktischen und potenziellen Opfer dieses gewalttätigen Wahns mit einschließt, zu denen letztendlich nur Israel gewillt ist.
Oberes Foto: Brennende Alte Synagoge in Essen, 9. November 1938