5.2.07

Legendenhunger

Zu den zähesten Mythen rund um die Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten zählt die Behauptung, insbesondere die Bewohner des Gazastreifens müssten nächstens an Unterernährung sterben, wenn die Isolation der Hamas-Regierung nicht endlich aufgehoben werde. Einskommadrei Millionen Menschen könne „innerhalb von Tagen“ eine „Hungersnot drohen“, wusste beispielsweise am 20. März vergangenen Jahres das Handelsblatt. Zwei Wochen später hieß es neuerlich: „Palästinensern droht Hungersnot. Uno warnt vor humanitärer Katastrophe als Folge der Isolationspolitik.“ Und als es Ende April immer noch nicht so weit war, entdeckten die Gotteskrieger das Ganze sogar als revolutionäre Waffe: „Hamas droht der EU mit einer ‚Hungersnot’ unter den Palästinensern, falls diese es wagen sollte, ihre Zahlungen einzustellen.“ Inzwischen besteht die neue palästinensische Regierung annähernd ein Jahr, ohne dass es zu der beinahe täglich erwarteten Tragödie gekommen wäre. Und zumindest an einem hat es den Palästinensern in dieser Zeit definitiv nie gemangelt: an Ausrüstung nämlich, um einerseits Israel mit Krieg und Terror zu überziehen und andererseits einen Bürgerkrieg zu führen, der in den letzten Wochen an Intensität noch einmal deutlich zugenommen hat. Bankrott war und ist die Staatsadministration jedenfalls nicht; es ist jedoch ein von ihr gut gehütetes Geheimnis, wo die üppigen Gelder der Geberländer versickert sind. Alleine die Rücklagen der Autonomiebehörde dürften jedoch trotz des offiziellen Boykotts seitens der USA, Israels und der EU längst nicht aufgezehrt sein.

Abgesehen davon zeigen neueste Z
ahlen einmal mehr, wie sehr sich die Weltgemeinschaft in Wirklichkeit um ihr Lieblingskind sorgt. In einer Presseerklärung der Uno etwa hieß es vor wenigen Tagen: „Die Unterstützung der Palästinenser belief sich im letzten Jahr – nicht mitgerechnet die Zuwendungen an die Palästinensische Autonomiebehörde oder die Hamas seitens regionaler Geldgeber – auf 1,2 Milliarden Dollar, was einer Steigerung von etwa 10 Prozent gegenüber 2005 entspricht.“ Die meisten Zahlungen seien dabei an der palästinensischen Regierung vorbei geflossen, wurde versichert. Die humanitäre Hilfe in Form von Nahrungsmittel- und Arbeitsprogrammen habe sich seit 2004 sogar verdoppelt.

Zahlen wurden auch auf einem Treffen des aus den USA, der EU, der Uno und Russland bestehenden Nahostquartetts am vergangenen Wochenende verlautbart: Die Hamas habe seit ihrem Amtsantritt zwar insgesamt nur 150 Millionen Dollar an Steuern eingetrieben – so hoch ist normalerweise der Monatsbedarf der Autonomiebehörde – und weitere geschätzte 50 Millionen auf anderem Wege ins Land geschmuggelt. Auf Drängen der USA seien jedoch 400 Millionen Dollar aus arabischen Ländern direkt an Präsident Mahmud Abbas gegangen; alles in allem 700 Millionen habe es zudem an internationaler Hilfe gegeben, die unter Umgehung der Hamas der Bevölkerung zugute gekommen seien. Damit habe man der palästinensischen Bevölkerung in zwei Monaten mehr zukommen lassen als die Hamas in zehn. Russland jedoch forderte auf dem Treffen im Unterschied zum Rest des Quartetts ein Ende des Boykotts, die Wiederaufnahme der Beziehungen mit der Gotteskriegertruppe und zudem den „konstruktiven Einbezug Syriens“. Und das, obwohl Hizbollah-Führer Hassan Nasrallah mehr als deutlich gemacht hatte: „Der Iran unterstützt die Hizbollah mit Geld, Waffen und Training, motiviert durch religiöse Brüderlichkeit und ethnische Solidarität. Und diese Hilfe wird von Syrien lanciert, wie jeder weiß.“ Dass der Hamas von der Hizbollah unter die Arme gegriffen wird, dürfte ebenfalls hinlänglich bekannt sein. Eine existenzielle Bedrohung für Israel.

Ausgesprochen spendabel zeigt sich derweil die Europäische Union, die im vergangenen September „über den zeitlich befristeten internationalen Mechanismus (‚Temporary International Mechanism’ – TIM) die Auszahlung von Sozialhilfeleistungen an die 40.000 bedürftigsten palästinensischen Familien“ begonnen hatte, „die zusätzlich zu den bisherigen Leistungen für Gesundheitshelfer, Personen mit erheblichen Einkommenseinbußen und Rentner“ gezahlt werden. 270 Euro gibt es als Sozialhilfe von der EU; empfangsberechtigt sind „Familien, die normalerweise Sozialhilfe von der Palästinensischen Autonomiebehörde erhalten, aber seit Februar 2006 aufgrund der aktuellen Finanzkrise keine regelmäßigen Sozialhilfeleistungen mehr empfangen haben“. Der TIM wurde von der Europäischen Kommission im Juni letzten Jahres auf Initiative des Nahost-Quartetts und des Europäischen Rates eingerichtet, „um die palästinensische Bevölkerung mit dem Notwendigsten versorgen zu können“, wie es heißt; das Projekt wurde nun verlängert und läuft noch mindestens bis zum kommenden März.

Über dessen Ergebnisse bis Ende September 2006 berichteten seine Verantwortlichen weiter: „1,3 Millionen Menschen im Gazastreifen haben dank des TIM Zugang zu Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und sanitären Anlagen. Über 600.000 Menschen erhalten Sozialhilfe im Rahmen des TIM, darunter 12.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens, 55.000 gering bezahlte Erbringer öffentlicher Dienstleistungen und Rentner sowie 40.000 besonders bedürftige Familien. Es wurden mehr als 2 Millionen Liter Treibstoff geliefert, um die Stromversorgung insbesondere der Krankenhäuser und der Wasserversorgungswerke und Kläranlagen im Gazastreifen, wo im Juli das Elektrizitätswerk zerstört wurde, zu gewährleisten. Zahlungen weiterer Leistungen hängen von den Zusagen anderer Geber ab.“ 651 Millionen Euro – das ist der Löwenanteil des internationalen Supports – seien im vergangenen Jahr den Palästinensern zugegangen, teilte die Europäische Kommission nun wiederum mit; dies sei eine Steigerung um 27 Prozent gegenüber 2005. Und man sei entschlossen, dieses hohe Niveau an Unterstützung beizubehalten. Erst kürzlich übersandte zudem Israel 100 Millionen Dollar aus eingefrorenen Zoll- und Steuereinnahmen an Mahmud Abbas.

Und was bedeutet das alles? Dies zum Beispiel: „Die Palästinenser sind pro Kopf die größten Empfänger ausländischer Hilfe weltweit.“ Die Regierung, die sie gewählt haben, leistet sich gleichzeitig vom angeblich nicht vorhandenen Geld eine veritable Aufrüstung nach innen und außen, klagt kooperationsunwillige Staaten an, der Schwanz des amerikanischen Hundes“ zu sein, hätte gerne einen um(ma)fassenden islamischen Staat in einem judenfreien Nahen Osten und begehrt also die Auslöschung Israels oder doch wenigstens dessen Transfer nach Übersee. Angesichts dessen und eingedenk der vorliegenden Zahlen ist es schon bemerkenswert, ja verräterisch, wenn sich das Märchen von den der Verhungerung nahen Palästinensern so hartnäckig hält. Aber sein Plot ist eben so unwiderstehlich romatizistisch und gleichzeitig eine aggressive Geste gegen den jüdischen Staat. Wen interessiert da schon die Wirklichkeit?

Übersetzungen: Lizas Welt – Hattip: Sonja Wanner