Der ehrenwerte (Anti-) Semit
Zum Stand der deutsch-jüdischen „Normalisierung“, oder: Warum jüdische „Israelkritiker“ hierzulande inzwischen ein Anachronismus sind.
VON GEORG L. STRAUCH
Was geschieht im Hirn eines zeitgenössischen Antisemiten, wenn er von einem Herrn Namens Kaufmann hört, der als in etablierten Medien publizierender Journalist sich nicht die leiseste Mühe gibt, den „israelkritischen“ Gesinnungstest zu bestehen? Es werden die wenigen Synapsen auf Kurzschluss geschaltet: Der Kaufmann muss ein Jude sein! Ein Antisemit nämlich kann sich nur schwer vorstellen, dass auch ein rheinischer Christ den jüdischen Staat zu verteidigen bereit ist. „Wer Jude ist, bestimme ich“, hieß es schon bei Karl Lueger, dem Wiener Bürgermeister, der dem modernen Judenhass im ausgehenden 19. Jahrhundert Namen und Programm gab (und der noch heute in Österreichs Hauptstadt mit eigenem Denkmal und eigener Kirche geehrt wird).
Und dieser vermeintliche Jude Kaufmann ist – der Wahn hat seine Binnenlogik – ein ganz spezieller: ein Hofjude nämlich. Denn der Antisemit versteht sich seit je als Gegner derer „da oben“, denen echte und vermeintliche Juden als „Hofjuden“ zugeschlagen werden und an denen sich die Rage recht konformistisch ausagieren darf. Alsdann fragt der Antisemit, ob denn die Zeitung, in dem der „journalistische Hofjude“ schreibt, zum Propagandaorgan Israels geworden sei. Eine rhetorische Frage, denn man (in concreto: jeder Antisemit) weiß doch, dass der „Einfluss auf die Massen bei uns in den Händen der Juden [und] der größte Teil der Presse in ihren Händen [ist]“ (Karl Lueger). Weil man sich auch sonst von jüdischen „Blogwarten“, „Schreibtischtätern“ und anderen „einfältigen und fanatischen Zionisten“ bedroht und verfolgt fühlt, wird die Anrufung des deutschen Volkszornes zur Pflichtübung: „Wie lange soll er noch für den Kölner Stadt-Anzeiger schreiben, dieser aufgebrachte zionistische Jude mit seinem Schaum vor dem Mund.“ Kein Fragzeichen am Ende, sondern ein ganz ehrlicher Punkt.
Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass auch Juden Antisemiten sein können, so hätte ihn jüngst der notorische Abraham Melzer in seiner wiederauferstandenen Zeitschrift Semit geliefert. Von ihm nämlich stammen diese – auch hinsichtlich ihrer Orthografie und Grammatik bemerkenswerten – Invektiven gegen den zum Juden geadelten Tobias Kaufmann. (Nur ein veritabler Antisemit kann in dieser Zuschreibung eine Beleidigung sehen.) Der erwähnte Beweis aber ist inzwischen so überflüssig wie Melzers Zeitschrift. Zwar wähnt man sich dort noch als Wegbereiter des koscheren Antisemitismus; von Hajo Mayer über Judith Bernstein bis Rolf Verleger sind fast alle entsprechenden Koryphäen vertreten. Allein: Diese Dienstleistung am modernisierten Antisemitismus wird gar nicht mehr benötigt.
Lange versteckte man sich als Otto Normalvergaser (Eike Geisel) postnazistisch verunsichert hinter solchen jüdischen Proponenten: Sie sind doch Juden, sie dürfen das sagen, sie können keine Antisemiten sein, und wenn selbst Juden das sagen, dann muss es doch stimmen, dann dürfen wir doch auch... Aber die Verunsicherung wie das Versteckspiel sind zunehmend obsolet geworden. Die Vergabepolitik der Bundesrepublik, das Verdienstkreuz betreffend, illustriert das: Vor Unzeiten versuchte man sich noch in deutsch-jüdischer Versöhnung; der Preis wurde deshalb beispielsweise Ralph Giordano zugesprochen (der ihn, trotz kurzzeitigen Wankens, nun doch zu behalten beabsichtigt, um sich seiner Lebensleistung wie seiner Lebenslüge nicht zu berauben). Anfang 2008 bekam es dann schon Deidre Berger, Büroleiterin des American Jewish Committee in Berlin. Ihre Aufgabe, jede Aufregung um den zeitgenössischen deutschen Antisemitismus herunterzuspielen und in diplomatischen Kaminzimmergesprächen aufzulösen, hat sie ganz zur bundesrepublikanischen Zufriedenheit erfüllt.
Und nun, quasi als Höhepunkt und Abschluss der deutschen-jüdischen Normalisierung (und die deutsche Normalität besteht seit je darin, einen Antisemitismus auf der Höhe der Zeit zu pflegen), hat ihn stellvertretend und aus Dankbarkeit für das Geleistete die Palästina-Aktivistin und Exil-Israelin Felicia Langer erhalten. Bei der Preisverleihung durch den baden-württembergischen Staatssekretär Hubert Wicker sprach dieser vom Engagement Langers gegen die „Deportationen“ von Palästinensern und die „sippenhaftähnlichen Bestrafungen“ durch die Israelis; in dieser Terminologie analogisierte der Vertreter des Ministerpräsidenten Oettinger die israelische Politik mit der nationalsozialistischen.* Inzwischen bestellt man als Wortführer der „Israelkritik“ also längst keine Juden mehr; ein Staatssekretär ist so gut wie ein ehemaliger Minister (Norbert Blüm) oder willige Intellektuelle (Henning Mankell, Günter Grass et al.), und auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, warnt Israel mittlerweile davor, „als demokratischer Staat schrittweise Selbstmord“ zu begehen. Die Ranküne kleidet sich nur zu durchsichtig als Sorge um den vorgeblichen Freund.
Die antizionistischen Juden haben derweil ihre Schuldigkeit getan. Der Hegelsche Reiter der Geschichte ist über sie hinweggaloppiert, die nichtjüdischen „Israelkritiker“ haben die Zügel längst übernommen. Melzer und die Seinen stellen heute ein erbarmungswürdiges Grüppchen dar; sie missverstehen sich noch als Avantgarde und sind doch längst ein Anachronismus: Denn für unverhohlen Antisemitisches braucht es in Deutschland längst keinen Semiten mehr.
* Ausführlich dazu John Rosenthal: Why did Germany honor an Israel-basher?, Pajamas Media, 14. August 2009.
Zum Bild: Die ehrenwerte Gesellschaft trifft sich beim Ball der Stadt Wien. Links im Vordergrund, mit dem Hut in der Hand: Karl Lueger. Aquarell und Öl auf Leinwand, Wilhelm Gause, 1904.