28.7.09

„Juden raus“ heißt „judenrein“



Derzeit vergeht einmal mehr kaum ein Tag, ohne dass irgendjemand lauthals ein „Ende des israelischen Siedlungsbaus“ verlangt. Vor allem seit US-Präsident Barack Obama diese Forderung auf seine Nahost-Agenda gesetzt hat, glauben in seinem Windschatten auch hierzulande Politiker und Medien, in allerlei Stellungnahmen und Kommentaren verstärkt die Beseitigung dieses vorgeblichen Haupthindernisses für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern anmahnen zu sollen. Bundesaußenminister Steinmeier beispielsweise ließ während seiner Nahostreise Anfang des Monats verlautbaren, es werde „keinen Fortschritt für eine Zweistaatenlösung geben, wenn sich beim Siedlungsbau nicht etwas bewegt“, und Ruprecht Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, äußerte kürzlich gar die Ansicht, Israel laufe Gefahr, mit seiner Siedlungspolitik „als demokratischer Staat schrittweise Selbstmord zu begehen“. Der mediale Flankenschutz folgte sogleich: In der Süddeutschen Zeitung etwa fand Thorsten Schmitz, Israels Premierminister Benjamin Netanyahu sei in Bezug auf die Siedlungen „unverändert halsstarrig“ und „trotzig“, während Andreas Rinke im Handelsblatt in schönstem Antiimp-Deutsch unter anderem den „Schaden in anderen Teilen der Welt“ beklagte, der entstehe, „wenn Deutschland mit dem steten Hinweis auf bedingungslose Solidarität als Erfüllungsgehilfe einer international geächteten Politik angesehen wird“.

Es ist zwar nicht neu, aber immer wieder bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass der jüdische Staat nur seine Enklaven, Außenposten und Grenzdörfer jenseits der „grünen Linie“ auflösen muss, um fortan in Frieden mit seinen Nachbarn leben zu können. Dabei zeigt schon die jüngere Vergangenheit, dass diese Gleichung nicht aufgeht, schon gar nicht zwangsläufig: Als Ehud Barak vor neun Jahren während der Verhandlungen von Camp David anbot, einen Großteil der Siedlungen zu räumen und die verbleibenden durch einen Gebietsaustausch abzugelten, lehnte die palästinensische Seite dieses beispiellos weitgehende Angebot ab, um stattdessen zur „Intifada“ zu blasen. Und als Ariel Sharon im Jahre 2005 die israelischen Siedlungen im Gazastreifen räumen ließ, bedankten sich die Hamas und andere palästinensische Terrorgruppen dafür mit einem Raketenhagel, der erst infolge der israelischen Operation Gegossenes Blei zu Beginn dieses Jahres signifikant nachließ. Das heißt: Israel ist einem Dilemma ausgesetzt. Hält es die Siedlungen aufrecht, zieht es sich den Zorn der restlichen Welt zu; baut es Siedlungen ab (oder bietet es diesen Schritt auch nur an), sehen nicht unerhebliche Teile der arabischen Welt darin ein Zeichen von Schwäche und eine Gelegenheit zur „Befreiung ganz Palästinas“ – von den Juden nämlich.

Dieser prinzipielle Unwille, Israel anzuerkennen, ist der Kern des arabisch-israelischen Konflikts – und eben nicht die Siedlungsfrage. Selbst wenn der jüdische Staat nur das Stadtgebiet von Tel Aviv umfassen würde, wäre er seinen Feinden noch zu groß. Denn deren Ziel ist nicht eine Zweistaaten-, sondern nach wie vor eine Kein-Staat-Israel-Lösung. Um es mit Yaacov Lozowick zu sagen: „Seit 1967 übte Israel die Herrschaft über einen großen Teil der palästinensischen Bevölkerung aus, und sein Verhalten kann in vieler Hinsicht kritisiert werden. Dennoch könnte nur ein Narr behaupten, dass sich die Palästinenser in der umgekehrten Situation mit den Maßnahmen, wie sie die Israelis getroffen haben, zufrieden geben würden. Sollten die Palästinenser jemals Herrschaft über die Juden erlangen, wird Palästina ebenso judenrein werden, wie es der größte Teil Europas heute ist: eine kleine Gemeinde hier und dort und Gespenster überall. Um es so deutlich wie möglich zu sagen: Israel blockiert lediglich die nationalen Ambitionen der Palästinenser (beziehungsweise hat das früher getan), die Palästinenser hingegen bedrohen die nackte Existenz der Juden.“

Ganz bewusst benutzt Lozowick hier ein Wort – übrigens nicht nur in der 2006 erschienenen deutschen Übersetzung seines Buches Israels Existenzkampf, sondern auch im englischen Original –, das in den letzten Wochen auch Benjamin Netanyahu und Avigdor Lieberman mehrfach verwendet haben: „judenrein“. Dieser Begriff wurde von deutschen Antisemiten Ende des 19. Jahrhunderts kreiert; später gebrauchten ihn die Nationalsozialisten – neben dem Terminus „judenfrei“ – als Euphemismus für die Massenvernichtung. Wenn er jetzt sowohl von einem israelischen Historiker als auch vom israelischen Premier- und seinem Außenminister beansprucht wird, dann vor allem deshalb, weil jenseits der Grenzen Israels kaum jemand einen Gedanken daran verschwendet, was die Gründung eines palästinensischen Staates für die auf seinem Territorium lebenden Juden bedeuten würde. Von Israel wird selbstverständlich verlangt, ein multinationaler Staat zu sein, in dem Araber als gleichberechtigte Bürger ihren Platz haben. Fast niemand hingegen – erst recht kein palästinensischer Politiker – erhebt die nicht minder selbstverständliche Forderung, dass in einem zukünftigen Palästina auch Juden leben können müssen, wenn sie es wollen, und zwar nicht bloß als geduldete „Dhimmis“.

Im Gegenteil implizieren nahezu alle Appelle an die israelischen Regierungen, die Siedlungen aufzulösen, dass Juden auf palästinensischem Boden prinzipiell nichts verloren haben. Denn die obligatorische völkerrechtliche Argumentation für einen Abzug der Siedler als angeblich unabdingbare Voraussetzung für die Gründung eines palästinensischen Staates geht praktisch nie mit der Versicherung einher, dass ein prospektives Palästina selbstredend eine jüdische Minderheit zu akzeptieren hat. Eine solche Klarstellung mag für überflüssig halten, wer sich auf die Begründung zurückzieht, die Siedlungstätigkeit sei nun mal als Teil einer illegalen Besatzungspraxis zu betrachten, weshalb jüdisches Leben in den besetzten Gebieten und einem späteren palästinensischen Staat nicht grundsätzlich in Frage stehe. Doch dieser Standpunkt blendet aus, dass es sich bei der Westbank genau genommen nicht um ein besetztes, sondern um ein umstrittenes Gebiet handelt – schließlich wurde es 1948 von Jordanien völkerrechtswidrig annektiert und gelangte erst infolge des israelischen Verteidigungskrieges im Juni 1967 unter israelische Kontrolle. Noch im selben Jahr bot Israel Verhandlungen über die Abtretung der Gebiete an; die arabischen Staaten lehnten jedoch auf der Konferenz von Khartum mit einem „dreifachen Nein“ ab: Nein zum Frieden mit Israel, nein zur Anerkennung Israels, nein zu Verhandlungen mit Israel. Es war dies „die alte Position des berüchtigten Muftis von Jerusalem“, wie Tilman Tarach in einem Beitrag für die Zeitschrift konkret schrieb:No inch des heiligen musli­mischen Bodens für einen souveränen jüdischen Staat.“ Und am besten auch no inch für Juden überhaupt.

Es mag auf den ersten Blick befremdlich undiplomatisch wirken, dass Netanyahu und Lieberman nun zu einem NS-Vergleich greifen. Aber diese drastische Methode ist vermutlich die einzige, die einigermaßen plastisch vor Augen führt, welche Konsequenz sich aus der geradezu rituell wiederholten Forderung nach einem Stopp und Abbau der israelischen Siedlungen ergibt – zumal angesichts der fortgesetzten Weigerung palästinensischer Funktionäre und Organisationen, im arabisch-islamischen Raum jüdisches Leben im Allgemeinen und einen jüdischen Staat im Besonderen zu akzeptieren. Erst wenn diese Weigerung glaubhaft nicht mehr existiert, ist die Gründung eines palästinensischen Staates denkbar und sinnvoll. Und genau das ist auch der Standpunkt der israelischen Regierung, die in diesem Zusammenhang auf die Roadmap verweist – und damit auf jenen Fahrplan, an den sich offenbar weder die europäischen Regierungen noch die amerikanische Führung erinnern wollen.

Zum Foto: Bundesaußenminister Steinmeier bei der Raumplanung auf dem Mount Scopus. Jerusalem, Juli 2009.