17.5.06

Clockwork Oranje

Der Vorgang verdient nur einen Begriff, so abgedroschen er klingen und so inflationär er auch gebraucht werden mag: Skandal. Ayaan Hirsi Ali ist nun staatenlos, nachdem die niederländische Ministerin für Einwanderung und Integration, Rita Verdonk (Foto), kurzen Prozess gemacht und der Parlamentarierin und VVD-Parteikollegin die Staatsbürgerschaft entzogen hat. Der Schriftsteller Leon de Winter brachte diese Ungeheuerlichkeit auf den Punkt: „Das ist ein einmaliger Vorgang in der holländischen Geschichte. Die Ministerin hat eine ‚discretionaire bevoegdheid’, einen Ermessensspielraum, sie konnte so handeln, aber sie musste nicht.“ Nachdem ein reißerischer vierzigminütiger Fernsehbeitrag ein paar Fakten als neu verkauft hatte, die in Wirklichkeit längst bekannt waren, und darüber hinaus auch noch dreist und wahrheitswidrig behaupten zu müssen glaubte, Hirsi Ali habe nie mit ihrem kanadischen Cousin zwangsverheiratet werden sollen, sahen die Ministerin und weitere Geistesverwandte die Chance gekommen, eine Frau loszuwerden, die ihnen mit ihrer konsequenten und unbeirrbaren Kritik zunehmend lästig geworden war. Jan Feddersen bemerkt dazu in der taz treffend:
„Ihre ätzende, bisweilen beleidigende Kritik an den grünalternativ-roten Mainstreams ihres Landes, die Migranten so lange lieben, wie sie hübsche Musik machen und mit feinen Nahrungsmitteln die europäischen Speisekarten bereichern, aber lieber schweigen bei patriarchal begründeten Sitten und Gebräuchen, hat ihr viele Feindschaften eingetragen. Wie auch aus den muslimischen Communities, denen sie als selbstbewusste Nervensäge erschien. Und jene, die sie hassen, werden ab sofort abfällig spotten: Hirsi Ali hat bei ihrer Einwanderung in die Niederlande geschummelt. Sie wollte ohnehin in die USA auswandern, dort ohne Polizeischutz leben, weniger angefeindet – und seltener umgeben von Menschen, die ihr übel nehmen, lautstark und polemisch nicht die liebe, sensible Migrantin zu geben – sondern die Frau, die Kritik übte an Zuständen, denen sie entflohen war: ohne Rücksicht auf Takt und Ton des Antirassismusdiskurses.“
So hatte man sich das nämlich nicht vorgestellt mit dieser somalischen Immigrantin. Als sie von dem sozialdemokratisch-romantizistischen Multikulti Reißaus genommen hatte und zu einer liberal-konservativen Partei gewechselt war, hieß man sie bei letzterer noch willkommen – wie sich spätestens jetzt zeigt, jedoch vor allem aus taktischen Erwägungen: Dass Ayaan Hirsi Ali eine scharfe und pointierte Kritikerin des Islam ist, goutierte man bei der VVD; ihren Universalismus und ihr Eintreten für die unveräußerlichen Rechte von Frauen sah man hingegen schon weniger gerne – und dass sie schließlich zum Star der Partei aufstieg, der seinen eigenen Kopf hat und, wie Ivo Bozic in der Jungle World zu Recht feststellt, „eine Beschränkung der Einwanderung in die Niederlande ablehnt, [...] sich für die Rechte von Asylsuchenden [engagiert] und fordert, dass auch so genannte Wirtschaftsflüchtlinge aufgenommen werden“, ging schließlich gar nicht. Ayaan Hirsi Ali hatte ihre Schuldigkeit getan; als sich herausstellte, dass sie die ganze Doppelmoral und Bigotterie der niederländischen Politik entlarvt und anprangert, ohne dabei Rücksicht auf parteistrategische Erwägungen oder andere Befindlichkeiten zu nehmen, musste sie gehen. Und zwar schnell. Denn für sie war kein Platz mehr im ach so liberalen Holland, wie auch die Neue Zürcher Zeitung befindet:
„Hirsi Ali [...] bekam die Langzeitfolgen eines Engagements unter Satten und Selbstgerechten zu spüren. Sie schuf sich Feinde zuhauf und lebte fortan mitten in einer Demokratie im Untergrund. Die Muslime und Islamisten wären noch zu verkraften gewesen, welche die Schande nicht ertrugen, von einer Frau, zumal einer geborenen Muslimin, kritisiert zu werden. Schlimmer waren da schon die politischen Opponenten, Opportunisten und ruhebedürftigen Nachbarn, denen sie zunehmend lästig wurde. Sie haben sie jetzt mit einem ganzen Bündel von Vorwürfen und Gerichtsklagen in die Knie gezwungen und auch in ihrer eigenen (liberalen) Partei langsam in die Isolation getrieben.“
Auch Andrea Seibel stellt in der Welt darauf ab, dass hier jemand den Scheinfrieden in dem kleinen Land gestört hat:
„Für die niederländische Konsensgesellschaft ist eine Ikone wie Ayaan Hirsi Ali ständige Provokation, Stachel im Fleisch. Eine Missionarin wie Hirsi Ali befasst sich nicht mit Detailfragen oder sieht positive Tendenzen, sondern will mit dem Kopf durch die Wand. ‚Ich bin wirklich nicht besessen, aber ich will diese Chance nutzen, dieses Zeitfenster, das ich habe.’ Nun haben die Niederlande das Fenster lautstark geschlossen – mit kleinlichen, formalistischen Argumenten, sie hätte bei der Einwanderung ‚gemogelt’. So kann ein Land sich selbst demontieren.“
Andere deutschsprachige Zeitungen schlagen da schon einen etwas anderen Ton an. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa meint Andreas Ross: „Jene Ayaan Hirsi Ali, der ein niederländischer Pass ausgestellt wurde, gibt es gar nicht.“ Weshalb er von ihr durchgängig als „Ayaan Hirsi Magan“ schreibt und damit weniger einem neurotischen, typisch deutschen Bedürfnis nach formaler Korrektheit folgt, sondern vielmehr en passant in die gleiche Kerbe haut wie beispielsweise Rita Verdonk: Hirsi Ali ist eine Lügnerin, die sich ihre niederländische Identität erschlichen und daher kein Recht auf das „edelste Teil des Menschen“ (Brecht) hat: den Pass. Also gibt es, folgt man dieser Logik, nur eines: „Am Kragen packen und raus“, wie der deutsche Ex-Kanzler Schröder es einmal in seiner, sagen wir, unnachahmlichen Art formulierte. Glücklicherweise kommt Hirsi Ali dieser Maßnahme durch ihre Ausreise in die USA zuvor und kann ihren ehemaligen Parteifreunden und anderen Hassern und Neidern so zumindest diese schäbige Freude vermiesen.

Den Vogel schoss jedoch einmal mehr die taz ab, die die eingangs zitierte Einschätzung von Jan Feddersen unmöglich so stehen lassen konnte und in einem Kommentar daher Ulrike Herrmann nachtreten ließ. Deren Beitrag läuft über voller Häme, und er ist ein weiteres abstoßendes Beispiel für den europäischen Kulturrelativismus und das Appeasement gegenüber dem Islam:
„Die niederländische Rechte [verliert] ihre Kronzeugin, dass der Islam eine rückständige Religion ist, die die Frauen unterdrückt. Bei weißen Männern war diese These sehr beliebt; Musliminnen hingegen konnten noch nie viel mit ihrer selbst ernannten Retterin anfangen. Die Migrantinnen erkannten ihr Leben und ihren Glauben nicht mehr wieder, wenn Hirsi Ali darüber sprach: Im Islam schien es nur Zwangsheiraten, Ehrenmorde und finsteres Mittelalter zu geben.“
Die Kritik daran, dass Hirsi Alis radikale Ablehnung des Islam nicht nur in und von ihrer eigenen Partei instrumentalisiert wurde, mutiert hier zu einer Abrechnung mit der Ausgebürgerten selbst, die dadurch von einer „schwarzen Jeanne d’Arc“ – wie Henryk M. Broder sie punktgenau charakterisiert – zu einer weltfremden und selbstsüchtigen Emanze herabgewürdigt wird:
„Nun zeigt sich, dass Hirsi Ali nicht den realen Islam beschrieb, sondern ihre Fiktion für die Einwanderungsbehörde: Weil sie angeblich von ihrem Vater zur Heirat mit einem Verwandten gedrängt wurde, war es für Hirsi Ali nur konsequent, die Zwangsehe zum muslimischen Massenphänomen zu erheben. Diese extreme Sicht teilen jedoch noch nicht einmal Musliminnen in Frauenhäusern, die vor ihren Ehemännern geflohen sind, wie Umfragen herausfanden.“
Es verschlägt einem die Sprache angesichts solcher unverfrorenen Verniedlichungen islamischer Zumutungen zu einer „Fiktion“, die einer „extremen Sicht“ folge, in der Migrantinnen ihr Leben und ihren Glauben nicht mehr wieder erkennten und mit der „nicht einmal Musliminnen in Frauenhäusern“ geholfen sei, wie nicht näher bezeichnete „Umfragen“ angeblich zeigten. Alles also frei erfunden – sogar das mit der Zwangsverheiratung! – und bloß Lug und Trug, weshalb der Entzug von Hirsi Alis niederländischer Staatsbürgerschaft und ihre baldige Emigration in die USA der deutschen Alternativpresse nachgerade als Wende zum Besseren gilt, denn:
„Die Mehrheit der Niederländer hat genug von der Einwanderungsdebatte, die mit dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn begann, der im Mai 2002 ermordet wurde. Dieser politische Schwenk zeigte sich schon bei den Kommunalwahlen im März, als die Sozialdemokraten einen Überraschungssieg errangen.“
Jene Sozialdemokraten also, die Ayaan Hirsi Ali einst verlassen hatte, weil sie deren Kulturrelativismus und Islamversteherei nicht mehr ertrug und weil man auch dort Einwanderer nur so lange begrüßt, wie sie die Füße still halten, sich demütig geben und für das sorgen, was man nicht nur in den Niederlanden für eine kulturelle Bereicherung hält.

An einem solch traurigen Tag ist es gut zu erfahren, dass Hirsi Ali sich nicht um solche Frechheiten schert und sich auch durch ihre Ausbürgerung nicht bremsen lässt:
„Ich werde fortfahren, unbequeme Fragen zu stellen, trotz des offensichtlichen Widerstands, den sie auslösen. Ich fühle, dass ich anderen Menschen dabei helfen sollte, in Freiheit zu leben, so wie viele Menschen mir geholfen haben. Ich persönlich habe einen langen und manchmal schmerzhaften Prozess persönlicher Entwicklung in diesem Land durchgemacht. Er begann damit, dass ich lernte, mir selbst die Wahrheit zu sagen und dann die Wahrheit über mich: Ich bin nun bestrebt, auch die Wahrheit über die Gesellschaft zu sagen, so wie ich sie sehe. [...] Nur klares Denken und starkes Handeln können zu wirklichen Veränderungen führen und viele Menschen in unserer Gesellschaft aus dem geistigen Käfig der Unterwerfung befreien. Die Vorstellung, dass ich zu ihrer Freiheit beitragen kann – ob in den Niederlanden oder in einem anderen Land – erfüllt mich mit tiefer Befriedigung.“

Update: Nach mehrstündiger Debatte hat das niederländische Parlament Ministerin Verdonk aufgefordert, die Causa Hirsi Ali „zu überprüfen“. Dafür habe sie nun sechs Wochen Zeit. Die Abgeordneten forderten ein „neues Einbürgerungsverfahren“, sollte Hirsi Ali „die Staatsbürgerschaft tatsächlich zu Unrecht erhalten haben“. Ministerpräsident Jan Peter Balkenende kritisierte die Eile, mit der Verdonk die Entscheidung traf.

Nein, das ist keine gute Nachricht, sondern der durchsichtige, halbgare und untaugliche Versuch einer Begrenzung des Schadens – aber nicht des Schadens für Ayaan Hirsi Ali, sondern des eigenen im Oberstübchen. Wie wenig da allerdings noch zu retten ist, zeigt a) der Unfug mit dem erneuten Einbürgerungsverfahren, b) die Tatsache, dass Verdonk satte anderthalb Monate (!) Bedenkzeit bekommt, und c) die Kritik der Geschwindigkeit der Ausbürgerung, nicht aber des Entzugs der Staatsbürgerschaft als solcher.

Übersetzung aus der Trouw: Liza, Hattips: Monika Rieboldt & Doro