1.12.07

Das Ende einer Ikone?

Er war die Symbolfigur der so genannten Zweiten Intifada, der zwölfjährige Mohammed al-Dura, der am 30. September 2000 während eines Feuergefechts im Gazastreifen von israelischen Soldaten erschossen worden sein soll – in den Armen seines Vaters. Der französische Fernsehsender France 2 strahlte noch am gleichen Tag einen knapp einminütigen Beitrag aus, der um die Welt gehen und den neuerlichen palästinensischen Aufstand anheizen sollte. Seine Botschaft: Skrupellose Besatzungssoldaten haben ein unschuldiges Kind ermordet. Doch schon bald kamen Zweifel an dieser Darstellung auf; in Deutschland war es vor allem die Fernsehjournalistin Esther Schapira, die die These vom kaltblütigen Mord in Zweifel zog und in einem Dokumentarfilm zu dem Ergebnis gelangte, dass der Junge mutmaßlich von palästinensischen Kugeln getroffen wurde. In Frankreich war die Diskussion noch ungleich heftiger: Philippe Karsenty etwa – Inhaber des die Medienberichterstattung kritisch kommentierenden Webportals Media Ratings – warf France 2 und vor allem dessen verantwortlichen Israel-Korrespondenten Charles Enderlin vor, den Bericht über den vermeintlichen Tod Mohammed al-Duras schlicht manipuliert zu haben.

Der Sender weigerte sich jedoch zunächst, das gesamte Filmmaterial des etwa eine Dreiviertelstunde dauernden Schusswechsels zur Untersuchung freizugeben. Die Ungereimtheiten häuften sich: Wer die Schüsse auf den palästinensischen Jungen abgegeben hatte, war in dem kurzen Fernsehbericht nämlich nicht zu sehen. Auch von Blut gab es weit und breit keine Spur, obwohl die beiden al-Duras angeblich zwanzig Minuten lang mit offenen Wunden an ihrem Ort verharrt hatten. Ein Krankenwageneinsatz war ebenfalls nicht dokumentiert, es gab keine Autopsie, und von den etwa zehn anderen am Tatort anwesenden Reportern diverser Agenturen konnte niemand das bestätigen, was der für France 2 arbeitende Kameramann Talal Abu Rahma beobachtet haben wollte. Die französischen Journalisten Denis Jeambar, Daniel Leconte und Luc Rosenzweig werteten schließlich das komplette Filmmaterial aus und fanden keinen Beleg für die Ermordung Mohammed al-Duras. Wie zuvor schon der Historiker Richard Landes kamen sie zu dem Ergebnis, die gesamte Szenerie sei von der palästinensischen Seite zum Zwecke eines propagandistischen Coups gestellt worden.

Dennoch wurde Philippe Karsenty, der sich auf diese und weitere Recherchen stützte, im Oktober 2006 wegen „Verleumdung“ zur Zahlung einer Geldbuße von 1.000 Euro verurteilt. Doch er ging in die Berufung, und so kam es Mitte November erneut zu einer Gerichtsverhandlung in Paris.* Dort wurden nun die von France 2 vorgelegten Aufnahmen gezeigt und geprüft. Nidra Poller resümierte für Contentions, das Weblog des Commentary Magazine: „Die Beschuldigung, die ‚Opfer’ seien das ‚Ziel des Beschusses der israelischen Stellungen’ gewesen, ist haltlos; entsprechende Sequenzen sind gar nicht zu sehen. Es gibt kein Kreuzfeuer, keinen Kugelhagel, keine Verletzungen, kein Blut.“ Es sei sogar mehr als zweifelhaft, dass Mohammed al-Dura überhaupt getötet wurde: „In den letzten Sekunden des Sendematerials, die schließlich herausgeschnitten wurden, hebt der Junge – dessen Tod soeben dramatisch verkündet worden war – seinen Ellenbogen, hält eine Hand über seine Augen, blickt in die Kamera und nimmt wieder die passende Bauchlage ein.“ Bernd Dahlenburg vom Weblog Castollux hat Pollers Beitrag für Lizas Welt übersetzt.


Nidra Poller

Videomaterial zu al-Dura? Gibt es nicht!


Contentions, 21. November 2007

Am 14. November 2007 führte ein dreiköpfiges Richtergremium vor einem überfüllten Gerichtssaal (und Dutzenden Schaulustigen draußen) das Filmmaterial vor, das ihm für diesen Berufungsprozess von Charles Enderlin (France 2) – dem Kläger in der Verleumdungssache gegen Philippe Karsenty, Direktor von Media-Ratings – ausgehändigt worden war. Nachdem Karsenty im Oktober 2006 für seine Erklärung, der Bericht zu al-Dura sei ein skandalöser Schwindel gewesen, verurteilt worden war, führte er eine energische Gegenattacke, die in Frankreich auf merkwürdiges Schweigen und in angesehenen internationalen Medien auf starken Widerhall stieß. Während der seit sieben Jahren andauernden Auseinandersetzung hatten sich Charles Enderlin und France 2 beständig geweigert, das Videomaterial vorzuführen, das vom für France 2 tätigen freien Korrespondenten Talal Abu Rahma an der Netzarim-Kreuzung im Gazastreifen aufgenommen worden war – am 30. September 2000 nämlich, dem Tag, als der zwölfjährige Mohammed al-Dura angeblich von israelischen Soldaten kaltblütig erschossen wurde.

Der Kameramann sagte drei Tage nach dem Vorfall unter Eid aus, er habe – mit Unterbrechungen – 27 Minuten des 45 Minuten dauernden Kampfes gefilmt. An anderer Stelle behauptete er, dass er an jenem Tag einen sechsminütigen Zusammenschnitt übermittelt und anschließend seinen Produzenten zwei bespielte Kassetten ausgehändigt habe. Enderlin sagte, er habe jene Teile der „Agonie“ des Jungen herausgeschnitten, die er den Zuschauern nicht zumuten wollte. Statt des unredigierten Filmmaterials jenes Tages gab France 2 nur eine 18 Minuten lange „beglaubigte Kopie“ frei. In jenen 27 Minuten standen nicht Jamal al-Dura und seinen Sohn Mohammed im Mittelpunkt; vielmehr bestand das Dokument aus verschiedenen Szenen, drei kurzen Interviews und weniger als einer Minute zu dem Vorfall um die al-Duras. Die Beschuldigung, die „Opfer“ seien das „Ziel des Beschusses der israelischen Stellungen“ gewesen, ist haltlos; entsprechende Sequenzen sind gar nicht zu sehen. Es gibt kein Kreuzfeuer, keinen Kugelhagel, keine Verletzungen, kein Blut. In den letzten Sekunden des Sendematerials von France 2, die schließlich herausgeschnitten wurden, hebt der Junge – dessen Tod soeben dramatisch verkündet worden war – seinen Ellenbogen, hält eine Hand über seine Augen, blickt in die Kamera und nimmt wieder die passende Bauchlage ein.

Berichte vom Tod des Jungen hallten im September 2000 wider, als die Al-Aqsa-Intifada auf Touren kam. Der angebliche Kindesmord befeuerte die „spontane“ Wut, die zu einer beispiellosen Welle mörderischen Judenhasses führte. Die Wiederauferstehung des vermeintlichen Zeugen israelischer Aggression ist noch nicht welterschütternd, hat aber in angesehenen Medien zu einer intensiven Berichterstattung geführt. (Meinen Beitrag zur Filmvorführung finden Sie zusammen mit weiteren Quellen hier.) Doch weder die knappe Erklärung von Agence France Press (AFP) noch die internationale Aufregung konnte die französische Medien-Firewall durchdringen. Man stelle sich vor, der Vorfall um Dan Rather wäre überall durchgesickert, nur nicht in den Vereinigten Staaten. Man stelle sich vor, Dan Rather gälte sieben Jahre nach seiner Fälschung immer noch als vertrauenswürdiger Reporter. Über den Schaden hinaus, der durch den verleumderischen Bericht zu al-Dura verursacht wurde, werden nun weit reichende Fragen zur Ethik der Medien gestellt. Und sie betreffen alle Medien in der freien Welt.

Die Vorführung des Filmmaterials bewies, dass der France 2-Bericht zu al-Dura jeglicher Grundlage entbehrte. Dennoch behauptete Charles Enderlin sieben Jahre lang, das Rohmaterial zeige, dass der Beitrag genau, authentisch, verifiziert und nachprüfbar sei. Und dann stellte er sich vor die drei Richter und trug ein monotones Märchen über die Intifada vor, während die Bilder liefen. Wie ist es möglich, dass niemand sich daran erinnerte, was auf der Kassette war? 18 oder 27 Minuten – das ist nicht die Frage. Man dachte, es sei das Filmmaterial zu dem Leidensweg al-Duras, das nach Angaben des Kameramanns und des Vaters – den beiden einzigen lebenden Zeugen – 45 Minuten umfasste. Talal Abu Rahma erklärte drei Tage nach dem Vorfall unter Eid, dass er sich an jenem Tag seit 7 Uhr morgens nahe der Netzarim-Kreuzung befunden, die Schießerei um 15 Uhr begonnen und er mit Unterbrechungen – „um den Akku zu schonen“ – insgesamt 27 Minuten des schrecklichen Geschehens gefilmt habe.

Doch der für France 2 tätige freie Korrespondent filmte den ganzen Tag über. Die 18 Minuten, die im Pariser Gerichtssaal gezeigt wurden, sind nicht das Rohmaterial jenes Tages, und auch nicht die 27 Minuten, die er selbst unmissverständlich beschrieb. Während der angesehene, in Jerusalem arbeitende französische Journalist Charles Enderlin möglicherweise in großer Eile handelte, als er das Videomaterial schnitt, in die Hauptnachrichten jenes Abends brachte und seine Nachricht den Medien weltweit kostenlos zur Verfügung stellte, musste er am nächsten Tag – als er die Kassetten des Kameramanns erhielt – feststellen, dass das komplette Rohmaterial zur Szene mit al-Dura fehlte. Daraus folgt: Nichts, was zu dem Vorfall gesagt wurde, kann man in den 55 Sekunden des einzigen existierenden Films sehen. Kein Kreuzfeuer, keine Schüsse, die den Mann oder den Jungen treffen, und nicht die Dauer der Qualen. Es gibt kein Filmmaterial, das den Bericht oder die damit verbundene Rahmengeschichte untermauert.

Ist das verantwortungsvoller Journalismus? Ist diese Praxis schon so weit verbreitet, dass Fachleute – speziell französische Medien – dies nicht für kritikabel halten? Gibt es keinen Unterschied zwischen einem Bericht, der auf hinreichend nachprüfbaren Fakten beruht, und einem Beitrag, der sich auf nicht beweiskräftige Schnipsel einer ungeschickt inszenierten Szene von einer Minute bezieht? Wie ist es möglich, dass sich alle dem ungeschriebenen Gesetz fügen, nach dem niemand bei den französischen Medien aus der Reihe tanzt und die Fakten zu dieser umstrittenen Angelegenheit liefert? Eine Woche vor dem heiklen Treffen in Annapolis ist die Affäre al-Dura ein schlagkräftiges Beispiel für das große Geschäft medialer Sabotage. Das Schicksal der freien Welt hängt von unserem Vermögen ab, eine freie Presse zu bewahren. Informierte Bürger müssen Entscheidungen über Leben und Tod treffen – für sich selbst und für die Angelegenheiten ihrer Nation. Wie ist es möglich, dass eine palästinensische Interessengruppe (oder Einzelperson oder Instanz – wir wissen es nicht) falsche Nachrichten produzieren und sie direkt in die internationalen Medien einspeisen konnte, ohne auch nur auf geringsten Widerstand zu stoßen, während der Verfasser des Exposés, das zeigt, dass der Bericht keinerlei normale journalistischen Kriterien erfüllt, mit dem Kopf gegen die Wand rennt und die Öffentlichkeit nicht erreichen kann?

Dies erklärt die gewinnende Leidenschaft der Aufklärer im Fall al-Dura, die sich oft nachteilig für sie (und uns) auswirkt. Das Thema ist brandheiß, und die Flammen breiten sich noch immer aus. Sie könnten durch intelligente internationale Untersuchungen gelöscht werden. Vielleicht erfordert dies eine brillante Strategie, die noch nicht ersonnen worden ist.

* Das Urteil wird voraussichtlich am 27. Februar 2008 gesprochen.
Hattip: barbarashm