Der Kopf-Mullah

Einer, der sie besonders laut ruft, ist Matthias Matussek, Spiegel-Kulturchef und der Mann fürs ganz besonders Grobe im deutschen Feuilleton. Während der Fußball-Weltmeisterschaft hatte er bereits entdeckt, dass „Nationalgefühl“ doch keine „überwundene Evolutionsstufe“ ist, wie man ihm immer gesagt hatte, sondern eher ein Grund, „sich um den Hals zu fallen“. Und nun schlägt er vor, nicht ständig „schaudernd in den nahen und fernen Osten zu starren und unter selbstgerechtem Triumphgeheul die Minderwertigkeiten der dortigen Gesellschaften zu beklagen“, sondern „ab und zu die Blickrichtung zu ändern“ und „uns selber so in Augenschein zu nehmen, wie gläubige Muslims es tun“. Daraus ergeben sich dann nämlich zwangsläufig Fragen: „Sind wir bereit, für unsere Werte zu sterben? Und welche wären das dann?“ Matussek hat längst die Perspektive der marodierenden und brandschatzenden Islamisten – in seinen Worten: „gläubige Muslims“ – eingenommen und bewundert an ihnen die ultimative Bereitschaft zur Selbstaufgabe, zur Entindividualisierung, zum Kampf aufs Äußerste und zum todesbereiten Aufgehen in der Masse. Nichts davon findet er im Land, in dem er lebt, sondern nur den völligen Niedergang: eine „Brutalisierung“, die „Auflösung des Schamgefühls“, den „Zerfall der Familien“ und einen „Tanz ums goldene Selbst“.
Um wie vieles besser habe es da doch der Islam, bei dem man noch antreffe, was hierzulande im Rückzug begriffen sei, zitiert Matussek Innenminister Wolfgang Schäuble: „die Wichtigkeit von Familie, den Respekt vor den Alten, ein Bewusstsein und Stolz mit Blick auf die eigene Geschichte, Kultur, Religion, Tradition, das tägliche Leben der eigenen Glaubensüberzeugung.“ Doch es gebe Hoffnung auf Besserung, denn: „Wie sehr sich unsere Gesellschaft im Grunde nach einer Rückkehr von Achtung und Respekt sehnt, wie gerne sie wieder den Proviant aufnehmen möchte, den sie in den letzten Jahrzehnten aus den Regalen gefegt hatte, zeigt ein Blick in die Bestseller-Liste“ – in der Bücher mit Titeln wie „Schluss mit lustig“ und „Lob der Disziplin“ ganz vorne rangierten. Auch eine „Renaissance des religiösen Gefühls“ sei zu verzeichnen, die sich gegen „Verhöhnung und Vulgarisierung“ zur Wehr setze. Deshalb feiert Matussek das Absetzen der Idomeneo-Inszenierung als begrüßenswerten „Schlag gegen die Blödsinn-Gesellschaft“, denn dass diese Interpretation der Mozart-Oper „genau der Stoff sein könnte, der den einen oder anderen Schläfer aufweckt und den Zünder in Gang setzen lässt“, kann er gut nachvollziehen: „In dieser ernsteren und bisweilen mörderischen Welt, die der westlichen Spaßgesellschaft so unangenehm nah gerückt ist, macht es eben einen Unterschied, ob man Heiliges verspottet, Erhabenes lästert.“

Ganz anderer Ansicht als Matussek ist Alan Posener in der Welt: „Die Freiheit der Kunst ist [...] unteilbar. Man kann sie nicht dort außer Kraft setzen wollen, wo sie einen selbst verletzt, sie aber dort einklagen, wo sie andere verletzen könnte. Hier gilt, was Voltaire über die Meinungsfreiheit sagte: ‚Ich bin nicht Ihrer Meinung, mein Herr, aber bereit dafür zu sterben, dass sie geäußert werden darf.’ Das ist nicht Relativismus oder moralische Gleichgültigkeit, wie einige konservative Kritiker behaupten.“ Man könne zwar fragen, „weshalb es in manchen Künstlerkreisen als Ausweis besonderer Fortschrittlichkeit gilt, das inzwischen ideologisch subkulturelle, demografisch bedrängte und politisch entmachtete Christentum zu provozieren. [...] In Deutschland [...] gehört kein Mut mehr dazu, die Kirchen mit Klischees von gestern aufs Korn zu nehmen“. Doch wichtiger ist Posener etwas anderes: „So wenig der Mullah (oder der Kardinal) im Kopf bestimmen darf, was hier gesagt, gedruckt, gespielt, gesungen oder gemalt wird, so wichtig wäre es für die Kunst, die Muslime stärker im Kopf zu haben. Damit auch die deutschen Muslime weniger Mullahs und mehr Aufklärung im Kopf haben.“
Mit diesen wenigen Sätzen ist im Grunde das Wesentliche über die wünschenswerten Konsequenzen aus der Absetzung von Idomeneo und anderen Maßnahmen der (Selbst-) Zensur gesagt. Aber einer wie Matussek ist noch lange nicht fertig: „Deshalb noch einmal zum ‚abendländischen Kulturverständnis’, das ausgerechnet von [Idomeneo-] Regisseur Neuenfels beschworen wird. Es ist wohl eher auf der Seite des Respekts zu finden. Es ist eher [...] Friedrichs des Großen Toleranz-Episteln und die ausdrückliche Einladung an den Islam, als der abgeschlagene Kopf des Propheten.“ Wenn’s also schon den alten Fritz nicht mehr gibt, möge man sich wenigstens an den preußischen Tugenden der Moslems orientieren – schöner hat selten jemand auf den Punkt gebracht, dass es auch in Zeiten wirtschaftlicher Not wirkliche Exportschlager gibt: die deutsche Ideologie, die Borniertheit also gegenüber der Aufklärung; den Idealismus und das immer währende Streben danach, die Dinge um ihrer selbst willen zu tun. Immer wieder werden deshalb per se „Respekt“ und „Achtung“ insbesondere vor „religiösen Gefühlen“ eingefordert – Kategorien, die sich selbst Zweck sein sollen und daher weder definiert noch hinterfragt werden dürfen, etwa mit Blick darauf, welche Berechtigung und welchen Nutzen sie für wen eigentlich haben und von welcher Qualität Gefühle sind, die beim kleinsten Anlass zur mörderischen Attacke wider den Verstand blasen.
In Zeiten vermeintlicher oder tatsächlicher gesellschaftlicher Zerrüttungen die Besinnung auf wahrhaft deutsche Tugenden einzuklagen, ist nichts Ungewöhnliches. Katastrophal war das jedoch schon immer. Der konservative Kulturpessimismus hat stets auf Familie, Volk und Nation beharrt, weil ihm individuelle Freiheiten, das Beharren auf unterschiedlichen Interessen und die Emanzipation von Zwangsgemeinschaften eine Bedrohung waren. In dieser Sichtweise sind ihm Unruhen wie 1968 pp. und die von Matussek so genannte „Blödsinn-Gesellschaft“ eins – nicht zuletzt, weil die einen als die Voraussetzung der anderen erscheinen. Als quasi-natürlicher Bündnispartner erscheinen ihm daher heute die, die ebenfalls „Schluss mit lustig“ fordern und das „Lob der Disziplin“ aussprechen; die sich noch gegen den „Zerfall“ wehren, keine Narzissten sind und für „ihre Werte“ sich und andere in den Tod stürzen – worin, scheint’s, die eigentliche Erfüllung besteht. In diesem Zusammenhang von Appeasement gegenüber dem Islamismus zu sprechen, ist bei Lichte betrachtet also falsch – es ist eine Kongruenz, die sich hier zeigt; eine Islamophilie, die das gemeinsame antiwestliche Ressentiment bedient; nicht Angst, sondern Angriffslust. Dem zu widerstehen, ist eine Herausforderung. Und die ist nicht leicht.
Hattip: barbarashm