9.12.06

Ständchen für einen Großen

Einmal angenommen, Sie sollten die erfolgreichsten Fußballer aller Zeiten aufzählen: Wer fiele Ihnen ein? Die üblichen Verdächtigen, darf man wohl annehmen: Diego Maradona, Pelé, Franz Beckenbauer oder Zinedine Zidane beispielsweise, allesamt elegante und spektakuläre Ballkünstler und auffällige Persönlichkeiten, keine Frage. Mit ein bisschen Nachdenken kämen sicher noch ein paar weitere Größen hinzu. Einer jedoch würde Ihnen vermutlich, wenn überhaupt, dann erst nach langem Nachdenken in den Sinn kommen – dabei zählt er zu den titelträchtigsten überhaupt: 1998 Weltmeister, 2000 Europameister, 2001 Weltpokalsieger, im gleich Jahr Gewinner der Champions League, dazu sechs Mal deutscher Meister sowie fünf Mal deutscher Pokalsieger – und damit ist die Liste längst noch nicht zu Ende. Heute wird Bixente Lizarazu, um den es hier geht, 37 Jahre alt. Zeit also für ein kleines Geburtstagsständchen.

Als Siebenjähriger begann „Liza“ seine fußballerische Laufbahn in Hendaye – einer knapp 13.000 Einwohner zählenden französischen Stadt am Golf von Biskaya, direkt an der Grenze zu Spanien – beim örtlichen Provinzverein Les Églantins. Dort kickte er bis 1988 und wechselte anschließend zum Erstligaklub Girondins Bordeaux, wo er gemeinsam mit Zinedine Zidane spielte; in der südwestfranzösischen Stadt erwarb er auch sein Sportdiplom. Acht Jahre und 246 Spiele später gastierte Lizarazu für ein Jahr bei Athletic Bilbao, bevor ihn 1997 der FC Bayern verpflichtete – es sollte der entscheidende Karrieresprung für den Linksverteidiger werden, sowohl auf Klubebene als auch in der französischen Nationalmannschaft: Mit der Équipe Tricolore wurde er ein Jahr später Weltmeister und weitere zwei Jahre danach auch Europameister; mit den Bayern gewann er in neun Jahren nicht nur insgesamt elf (!) nationale Titel in der Meisterschaft und dem DFB-Pokal, sondern als Krönung auch die Champions League und schließlich den Weltpokal.

Wie sehr ihm der Münchner Erfolgsklub in dieser Zeit ans Herz gewachsen war, zeigte sich, als Lizarazu ihn 2004 Richtung Olympique Marseille verließ. Im seinem – vorläufig – letzten Bundesligaspiel verabschiedete sich „Liza“ am Schlussspieltag der Saison 2003/04 mit einem Elfmetertor und einer emotionalen Ehrenrunde von den Fans. Ein halbes Jahr später jedoch war er wieder da: In Marseille nie glücklich geworden, klagte er Bayern-Manager Uli Hoeneß sein Leid, und der holte Lizarazu zurück, nachdem die Münchner die sportliche wie menschliche Lücke, die durch den Weggang ihres Abwehrspielers entstanden war, nie füllen konnten. Als „Liza“ bei einem Freundschaftsspiel im Januar 2005 in Köln seinen Wiedereinstand gab, feierte ihn der mitgereiste Bayern-Anhang frenetisch. Seine angestammte Rückennummer „3“ war zwischenzeitlich an Mitspieler Lúcio vergeben worden; daraufhin wählte Lizarazu die höchste, die jemals in der Bundesliga getragen wurde: die „69“ – eine Reminiszenz an sein Geburtsjahr sowie an 1,69 Meter Körpergröße und 69 Kilogramm Gewicht. Nach der vergangenen Saison beendete er schließlich seine aktive Laufbahn mit dem Gewinn des Doubles und bekam bei seinem definitiv letzten Spiel erneut einen bewegenden Abschied.

Bixente Lizarazu war kein Spieler, den es nach Interviews drängte; lange Zeit gab er sie nur auf Französisch, obwohl er längst Deutsch sprach: Er wollte sich aufs Sportliche konzentrieren und vor den Medien möglichst seine Ruhe haben. Umso entschlossener ging er auf dem Platz zu Werke. Mit seiner kraftraubenden, dynamischen und gleichzeitig eleganten Art, Fußball zu spielen, wurde er einer der besten linken Verteidiger aller Zeiten, und es gab keinen Zweikampf, den „Liza“ gescheut hätte – übrigens nicht nur bei Wettkampfspielen, sondern auch im Training: Besonders nachhaltig in Erinnerung dürfte das Lothar Matthäus sein, der den Franzosen Ende August 1999 bei einer Übungseinheit erst beschimpft hatte und ihm anschließend mit der Hand durchs Gesicht gefahren war. Lizarazu verpasste dem deutschen Rekordnationalspieler daraufhin kurzerhand eine schallende Ohrfeige. „Seine Mentalität war... Ich hatte einfach kein gutes Gefühl damit. Solche Dinge passieren ja nicht von heute auf morgen, da ist was Persönliches über Monate gewachsen. Dann habe ich es getan, danach war die Sache erledigt“, bemerkte „Liza“ später in einem Interview. Matthäus – selbst nie um Demütigungen anderer verlegen – muss diese Watsch’n vorgekommen sein wie eine Majestätsbeleidigung: Er brach das Training ab und hätte am liebsten den Mantel des Schweigens über den Vorfall ausgebreitet. Doch ein Zuschauer hatte die Szene aufgenommen; sie wurde von Fernsehstationen verbreitet und ist auch im Internet zu sehen. Harald Schmidt spottete: „Bixente Lizarazu hat Lothar Matthäus eine geknallt. Auf dem Video hört man ein Klatschen, und man weiß nicht: War es die Ohrfeige oder der Applaus von Effenberg?“

Mit einer ganz anderen und wesentlich gefährlicheren Autorität musste sich der Teamplayer Lizarazu – „Einen Chef zu suchen, ist eine deutsche Diskussion. Die Deutschen suchen immer einen Chef“ – vom Dezember 2000 an mehrere Monate lang herumschlagen: Die baskische Terrororganisation ETA hatte einen Brief an seinen Vater geschickt, in dem sie von Bixente die Zahlung einer „Revolutionssteuer“ verlangte: „Andernfalls werden wir gegen Dich oder Deinen Besitz vorgehen.“ „Liza“ ist Baske, lehnt den bekanntlich von etlichen Basken teilweise militant befürworteten Separatismus jedoch entschieden ab: „Ich glaube nicht, dass sich die Leute heute für diese Frage interessieren. Das Baskenland fühlt sich baskisch, und es fühlt sich französisch, das ist kein Widerspruch.“ Diese Sätze und die Tatsache, dass er für die französische Nationalmannschaft spielte, waren der ETA ein Dorn im Auge: „Wir sind sehr zornig, dass Du die Farben eines feindlichen Staates trägst. Du wirst reichlich dafür bezahlt, das Trikot eines Unterdrückers zu tragen, der dem baskischen Volk und der baskischen Region Geld gestohlen hat. ETA fordert dieses Geld zurück, das wir brauchen, um unseren Kampf fortzusetzen.“ Lizarazu weigerte sich zu zahlen und wurde fortan auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet; selbst als er gemeinsam mit seinen Mitspielern vom FC Bayern nach dem Gewinn der Champions League und der deutschen Meisterschaft 2001 in einem Autokorso mit Cabrios durch München fuhr, um den Fans die Trophäen zu zeigen, saßen mehrere Bodyguards mit im Wagen.

Ein „stolzer Baske“, zu dem die Medien ihn stereotyp machten, war und ist „Liza“ also gewiss nicht, es sei denn, man will in seinem Beharren gegenüber den Behörden auf die baskische Schreibweise seines Vornamens statt des französischen „Vincent“ oder in seinem Statement, er lebe gerne an der französisch-baskischen Atlantikküste, weil es dort sei „wie in einem kleinen Paradies“, mehr sehen als eine Mischung aus vergleichsweise harmloser Herkunftsfolklore und dem Schwärmen für einen maritimen Landstrich, in dem es sich zweifellos aushalten lässt. Bei Athletic Bilbao – einem Klub, der Wert darauf legt, nur Basken im Kader zu haben – hielt es Lizarazu gerade einmal ein Jahr aus, bevor es ihm dort zu eng wurde. Jahrelang pendelte er zwischen München, seinem Elternhaus in Hendaye, seinem Sohn in Bordeaux und seiner Lebensgefährtin in Paris hin und her und war auch in Sachen Fußball ständig unterwegs. Er war ein Globetrotter und pflegt eine kosmopolitische Einstellung. Ihn als Exemplar eines völkisch-bornierten Regionalismus zu sehen, entspricht einem medialen Bedürfnis; mit der Wirklichkeit hat diese Sicht auf den erfolgreichen Kicker nichts gemein.

„Ich werde mein Meer nie mehr verlassen. Nie mehr. Es nicht sehen zu können, ist, wie einen Arm zu vermissen. Den Rest meines Lebens werde ich morgens aufwachen und das Meer sehen, die Wellen rauschen hören, seinen Geruch riechen. Erfolg zu haben, ist wichtig. Aber man darf nie vergessen: Noch wichtiger ist, das Leben zu genießen“, antwortete Bixente Lizarazu in einem seiner letzten Interviews während seiner aktiven Laufbahn auf die Frage nach seinen Plänen. Kameras braucht er immer noch nicht; nur gelegentlich betätigt er sich als Co-Kommentator bei Canal Plus. Dabei hätte er viel mehr zu sagen als andere. Doch wer würde dem „politisch sehr klug denkenden Surfer“, wie ihn der Lyriker Albert Ostermaier einmal treffend nannte, nicht la dolce vita gönnen?

Update 19. Oktober 2007: „Liza“ im Interview mit der FAZ über sein Leben nach dem Karriereende, den FC Bayern, das Surfen und seine Pläne, an den Olympischen Winterspielen teilzunehmen.