7.3.07

Opfern adelt

Als sich die Deutschen anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Sommer massenhaft selbst feierten, durften sie sich mit Recht als Patriotismus-Weltmeister fühlen, zumal diesem Titelgewinn eine harte Qualifikation voraus gegangen war: Jahrelang hatten sie akribisch daran gearbeitet, per Vergangenheitsbewältigung das moralische Recht zu erwerben, ganz unbeschwert und unbefangen zu sich selbst kommen zu können. Wie so oft war es Matthias Matussek, der die entsprechende Absolution für den schwarz-rot-geilen Taumel erteilte: „Unser Patriotismus unterscheidet sich ja von dem der anderen Nationen dadurch, dass wir ihn erst mal sehr, sehr kompliziert und fragwürdig empfinden, eigene Widerstände überwinden müssen. Und das ist eigentlich ein ganz guter demokratischer Instinkt, den wir da haben“, ein echter Evolutionsfortschritt sozusagen, ausgehend von den nationalsozialistischen Vernichtungslagern, ohne die „wir“ heute weder das größte Mahnmal der Welt mitten in „unserer“ Hauptstadt stehen hätten noch das Deutschtum als „erst mal sehr, sehr kompliziert und fragwürdig empfinden“ würden. Und so war Auschwitz schließlich doch noch von Nutzen: für die Wiedergutwerdung der Deutschen nämlich. Daher durfte nicht nur der Matussek hoffen: „Ich glaube, was da wach gerufen wurde an Gefühlen – und auch an Bildern im Übrigen –, hat sich ins kollektive Bewusstsein gesenkt und abgelagert und wird bleiben, wird als abrufbare Erinnerung bleiben.“

Der Spiegel-Kulturchef hatte Recht, und dennoch – respektive gerade deshalb – hakt nicht nur Deutschlandfunk-Kommentator Jürgen Liminski nach: „Warum ist das Thema noch so präsent? Hat es nur mit der Geschichte oder auch mit dem Selbstverständnis und der Identitätsfindung der Deutschen zu tun? Wie realistisch, wie politisch korrekt darf man bei diesem Thema heute sein?“ Fragen über Fragen also, die aber nicht erst seit kurzem virulent seien, sondern „Leid und Schmerz als Gründungselement der Bundesrepublik Deutschland“ tangierten „und somit ein völkerpsychologisches Moment, das bleibt“, beträfen. „Das Thema“ ist dabei jedoch nicht der deutsche Eroberungs- und Vernichtungskrieg und nicht die Ermordung von sechs Millionen Juden, sondern vielmehr eines, das sich die doppelte Menge an Deutschen am vergangenen Sonntag und Montag vor der Glotze gab: Die Flucht, das deutsche Trauma also, von dem endlich einmal die Rede sein soll, gerade so, als ob darüber in den vergangenen 62 Jahren das große Schweigen geherrscht hätte. Doch wer diese Materie heutzutage mit Erfolg filmisch verarbeiten will, sollte allzu revanchistische Töne tunlichst vermeiden – also alles irgendwie erst mal sehr, sehr kompliziert und fragwürdig“ finden –, zugleich jedoch dafür sorgen, dass die Vertriebenenlobby nicht mit Getöse in diese Lücke stößt. Das funktioniert am wirkungsvollsten durch eine Entkontextualisierung der Geschichte und durch die Zurschaustellung reiner Betroffenheit, wie Hector Calvelli schreibt, der auch die Konsequenzen dieses Vorgehens zu benennen weiß:
„In der üblichen Behauptung, das eine Leiden, das deutsche nämlich, nicht mit dem anderen aufrechnen zu wollen, ist die halbe Volte der Neudeutung von Geschichte bereits gelungen: Leiden als Schicksal hier wie dort; und wo von Schicksal die Rede ist, wird nach dem Grund, nach der Bedeutung individuellen Handelns, nach kollektiver Verantwortung und individueller Schuld kaum mehr gefragt. Doch: Wo überall nur noch Opfer sind, da drängt sich die Frage auf, wer die Taten dann überhaupt beging? Mit dem auffällig penetranten Verweis auf die eigenen Zahlen – so seien über 14 Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen – desavouiert sich die Behauptung, das Leiden nicht aufrechnen zu wollen, selbst. Ob in Literatur oder filmischem Dokudrama: Schmerz und Verlust der Deutschen werden in Form individueller Tragödien gezeichnet und in den Bildern höchst emotional aufgeladen. Wird den Opfern der Shoa zunehmend die Empathie versagt – man glaubt diesbezüglich in sechzig Jahren genug geleistet zu haben – so wird sie nun den Deutschen zuteil, deren Leiden so eindringlich illustriert wird, dass nur ein Unmensch, so mag es erscheinen, kein Mitgefühl empfinden kann.“
Und so „wird aus der deutschen Tat ein banalisiertes und universalisiertes Böses“, das, „weil entkontextualisiert, auf andere Kontexte nur zu leicht übertragbar“ ist, wie derzeit deutsche Bischöfe anschaulich demonstrieren, die Ramallah mit heiligem Ernst für die Reinkarnation des Warschauer Ghettos halten. „Das Opfer-Sein wird zu einer kollektiven Kategorie aufgrund individuellen Erlebens von Schmerz und Verlust umgedeutet, ohne den geschichtlichen Hintergrund noch kritisch ausbreiten zu müssen“, konstatiert Calvelli. „Damit vermögen sich die Deutschen nunmehr als Opfer in Szene zu setzen“ – als Opfer der Alliierten und, was die Vertriebenen angeht, als „letzte Opfer Hitlers“, so, als hätte es von dieser Seite nicht ein veritables Maß an Unterstützung für die Pläne und Taten der Nationalsozialisten gegeben. Doch genau das muss bestreiten, umdrehen oder unerwähnt lassen, wem es darum zu tun ist, „sich auch in Zukunft mit allen Opfern von Krieg, Flucht und Vertreibung“ zu identifizieren, „zuvörderst mit den Palästinensern als den ‚Opfern der Opfer’“ – der Juden mithin, die gleichzeitig „aus dem Geschichtsbild verschwunden“ sind, wie Gregor Hecker im folgenden Gastbeitrag für Lizas Welt feststellt. Hecker löst dabei auch den nur scheinbaren Widerspruch auf, dass ein Fernsehdrama wie Die Flucht einerseits zu Tränen rührt und andererseits Kritik hervorruft, die jedoch, bei Lichte betrachtet, ihren Namen in der Regel nicht verdient, weil sie affirmiert, was zu destruieren wäre.


Gregor Hecker

Ab 21.45 Uhr wird zurückerzählt


Deutschland rüstet zum letzten Gespräch. Anlass ist das große TV-Event in der ARD: Die Flucht. Feuilleton und Zuschauer sind sich weitgehend einig: So kann man die unvorstellbare Geschichte der Vertreibung nicht erzählen. Es war nämlich noch viel schlimmer. Dass Die Flucht eine melodramatische Liebesgeschichte in schweren Zeiten ist, genauso wie Die Luftbrücke und Dresden vorher, und den Adel glorifiziert, stößt ebenfalls auf Kritik. Und auch dass die Russen nur negativ dargestellt werden, kommt beim Volk der Opfer nicht durchweg gut an. Denn die Russen haben auch gelitten und werden nun auch noch vom – amerikanischen – Raketenschutzschild in Tschechien und Polen bedroht, stellt sich ein besorgter Fernsehzuschauer in einem Kommentar auf sueddeutsche.de schützend vor die ehemaligen Gegner. Dass Hauptdarstellerin „Die Gräfin“ Maria Furtwängler mit Hilfe von BILD den russischen Präsidenten zu einer Entschuldigung aufruft, kann man da getrost als Tipp unter Freunden verstehen: Schuld anzuerkennen – möglichst ohne Konsequenzen –, ist die beste Möglichkeit, auf der Welle der Geschichte gegen Amerika zu reiten. Europa einig Opferland gegen die Täter von heute.

Das vereinigte Europa wurde schließlich, das zeigt Die Flucht eindringlich, schon auf dem Gut der Familie von Mahlenberg in Ostpreußen geboren. Hier finden die gute Gräfin und der aufrechte französische Zwangsarbeiter zusammen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Damals gegen die Nazis und heute gegen die USA. Kein Wunder, dass die emanzipierte Frau den tatkräftigen französischen Demokraten dem nationalsozialistischen Scharfrichter vorzieht: Immerhin hat der sie ja getäuscht, weil er während des Nationalsozialismus doch ein Nazi war. Ein Rädchen zwar nur, aber eben bei „den Anderen“ und damit nicht Teil der neu geborenen postnazistischen Gemeinschaft. Die zieht gemeinsam übers Haff. Die Klassengrenzen sind eingerissen, die Großgrundbesitzer (alias Unternehmer) sind keine Ausbeuter, sondern opfern sich selbst für „ihre Leute“ auf. Der alte Herr hat sich mit der alten Ordnung und seinen Hunden selbst erschossen, bevor die Russen kommen (Erinnerungen an ein anderes Geschichtsdrama, Der Untergang, sind nicht zufällig).

Bei Tisch wurden schon immer Hitlerwitze gemacht, erinnern sich die Großmütter heute. Und man war eben als Soldat „irgendwo“ an der Front. Das Familiengespräch bekommt durch den TV-Event einen neuen Drall. Egal wie schlecht, egal wie trivial, egal wie unausgewogen: Die Flucht ist das Signal zum letzten Gespräch. Alle Omas und Opas, vertrieben oder nicht, sollen gefälligst nochmal erzählen: von Kälte und Schrecken, vom bösen Krieg und wie sie Opfer wurden. Die Opfer der Deutschen spielen mittlerweile noch nicht einmal mehr eine Nebenrolle. Zumindest nicht die jüdischen. „Das wissen wir ja alles“, sagt die Erzählgemeinschaft und setzt munter das fort, was sie die letzten sechzig Jahre über getrieben hat: erzählen und erzählen von den eigenen Opfern. Nur kann man dies heute mit reinem Gewissen, denn dank der Fernsehserie Holocaust, dem Krieg gegen Jugoslawien und der Wehrmachtsaustellung hat man jetzt ja die Vergangenheit bewältigt, und Bewältigung heißt eben dies: Erledigung. Wen interessieren die ersten Opfer von Flucht und Vertreibung, die deutschen Juden? Wen interessiert das Schicksal derer, die unter tatkräftiger Mithilfe einer klassenlosen nationalsozialistisch-deutschen Volksgemeinschaft aus eben dieser erst ausgegrenzt und dann der Vernichtung preisgegeben wurden? Das hat man doch alles schon in Schindlers Liste gesehen.

Mit Die Flucht hat man zwar keinen neuen Oscar-Kandidaten, aber einen Grund, sich ganz unvoreingenommen dem eigenen „Schicksal“ zuzuwenden, das von Generation zu Generation weitergegeben wird wie ein kostbares Erbe. „Du bist auch ein Vertriebener!“, und du bist Deutschland. Seit sechs Jahrzehnten wird dabei stets auf das Tabu verwiesen: Wir dürfen ja nicht Opfer sein. Dass es weder politisch noch kulturell jemals ein solches Tabu gab, dass kaum ein Thema mehr präsent war als „Flucht und Vertreibung“, ist der Erzählgemeinschaft der Opfer gleichgültig. Jeder noch so schlechte Anlass zum Familiengespräch wird genutzt: Lebte doch die Oma noch! Die könnte erzählen, wie es wirklich war auf dem Haff. Die Enkel können zufrieden sein: Endlich haben sie konkrete Bilder für die Vorstellungen, die sie sich bei den aufregenden Erzählungen der Großeltern gemacht haben. Freudig entdecken sie wieder, was sie in der Vergangenheit vermuteten: Babys, die im Pferdewagen geboren werden, Menschen, die im Eis versinken, tote Kinder in den Armen ihrer wahnsinnig gewordenen Mütter. Dass sie gerade ihre eigenen Fantasien betrachten, kommt ihnen nicht in den Sinn, denn wie schlecht auch immer: Das Ereignis Geschichtsfernsehen ist dann authentisch, wenn es sich mit den eigenen, durch die Familie vermittelten Erinnerungen deckt.

Die Flucht ist eine Ouvertüre zum letzten (Familien-) Gespräch. In geballter Form und ohne die Last der Ausgewogenheit kann nun ganz ohne Vorbehalte weitergegeben werden, was sich an traumatischer Erinnerung über die Jahre konserviert hat. Damit man sich auch in Zukunft mit allen Opfern von Krieg, Flucht und Vertreibung identifiziert, zuvörderst mit den Palästinensern als den „Opfern der Opfer“, der Juden also. Letztere sind aus dem Geschichtsbild verschwunden. Ein letztes Mal schwang sich die Erinnerungsgemeinschaft 2005 zum obligatorischen Gedenkritual auf. Nun ist vollzogen, was der Bewältigungs-Kanzler Schröder bereits 2004 anlässlich seines Besuches bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestages der alliierten Landung in Frankreich freudig verkündete: Die Nachkriegsordnung ist zu Ende.

Hattip: barbarashm