25.2.07

Lübkes Erbe

Was man an so manchen Politikern hat, merkt man bisweilen erst, wenn sie von der Bildfläche verschwunden sind. Nicht selten hinterlassen jedenfalls einige von denen, die man Zeit ihres aktiven Wirkens verflucht hat, nachgerade schmerzliche Lücken – weniger deshalb, weil sie Großes und Bleibendes vollbracht hätten, sondern hauptsächlich, weil ihre Demissionen den Unterhaltungswert der politischen Bühne doch arg minderten. Noch zu Kohls Zeiten standen haufenweise Kabarettisten in Lohn und Brot, die den Dicken besser parodieren konnten als er sich selbst, und auch eingefleischte CDU-Parteigänger übten sich in Nachmachereien, wenn sie unter Ihresgleichen waren. Dass heute einer gänzlich humorfreien Gesundheitsministerin und ihrem kleinen Sprachfehler komödiantische Sendungen gewidmet werden, zeigt die ganze Not, die inzwischen herrscht. Es gibt einfach kaum noch jemanden, den aufs Korn zu nehmen sich lohnte. Und das lässt Rückschlüsse zu auf die Qualität der Berufspolitik und ihre Protagonisten: Das meiste ist – und die meisten sind – ziemlich austauschbar, konturlos und langweilig, mithin noch nicht einmal satiretauglich.

Muss man da nicht eigentlich dankbar sein für einen wie den Edmund Rüdiger Stoiber (Foto), geboren kurz nach dem Beginn des Wehrmachts-Überfalls auf die Sowjetunion als Sohn eines Oberpfälzers und einer Rheinländerin (!), verheiratet – und damit dem Zeitgeist widerstehend – seit 1968, noch dazu mit einer Heimatvertriebenen, Wehrdienst bei den, sagen wir, traditionsbewussten Gebirgsjägern in Mittenwald, promovierter Jurist und, nun ja, Polit-Profi seit Menschengedenken? Versorgt er ein geneigtes Publikum nicht seit Jahren regelmäßig mit Zoten und Grotesken, von denen man noch lange spricht? Von wie vielen seiner Kolleginnen und Kollegen kann man das sonst noch sagen? Wer hat heute noch die Nonchalance, mit derart mangelhaften, jederzeit peinlichkeitsgefährdeten rhetorischen Fähigkeiten zum – meist erfolgreichen – Sturm auf die höchsten Ämter zu blasen? Und wer würde es noch schaffen, nicht nur Amigo-Affären behände zu trotzen, sondern sogar die dreiste Observation einer parteiinternen Widersacherin noch in eine feurige Anklage gegen letztere zu verwandeln – die in der Forderung nach deren Ausschluss wegen „parteischädigenden Verhaltens“ gipfelte – und sich für diesen Aufruf zur Geschlossenheit auch noch feiern zu lassen? „Der Hausfriedensbruch im Lichte aktueller Probleme“ war seinerzeit das Thema von Stoibers Dissertation, und in Verbindung mit der Causa Pauli ist das schon richtig großes Kino.

Der Noch-Ministerpräsident hatte aber – wenn auch gewiss völlig unfreiwillig – noch ganz andere Humoresken in petto. Und er ist in dieser Hinsicht auf den politischen Brettern der legitime Nachfolger Heinrich Lübkes, Bundespräsident von 1959 bis 1969. Stoibers Gestammelte Werke findet man inzwischen auf zahllosen Internetseiten – Spiegel Online hat einige der Perlen nun sogar in einem Best of zusammengestellt –, und ein Vergleich mit Lübkes Schätzen, von denen nicht wenige ebenfalls im Netz aufbewahrt sind, unterstreicht die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Was Lübke beispielsweise die Tiefkühlketten waren, ist Stoiber der Transrapid. Der Bundespräsident wusste damals sorgfältig abzuwägen zwischen gefrorenen und frischen Fischen:
„Ich habe in Frankfurt ein Essen, ein Fischessen mitgemacht, wo also die Fische aus den Truhen sofort in die Küche kamen. Und die waren dann von den zuständigen Köchen oder Hausfrauen waren die entsprechend behandelt. Und ich kann nur sagen, es ist zwischen dem und den nicht in, durch die Truhen und die Tiefkühlketten herangebrachten frischen Fische, ’s ist gar nicht zu vergleichen. Man behauptet nun, die Hausfrauen beziehungsweise die Fischesser hätten sich an die etwas angegangenen, oder äh, Hautgout ausgegangenen Fische besser gewöhnt, sie wären das gewohnt und liebten das, die, dieses mehr als die Frischen. Ich muss nur sagen, wer das sich nebeneinander hält, der kann überhaupt keine andere Wahl, Wahl, wählen, das. Ohne die, ohne die Tiefkühlketten werden wir uns späterhin nicht mehr die Ernährung verbessern können.“
Das bayerische Freistaatsoberhaupt wiederum brachte prägnant und unmissverständlich auf den Punkt, was die Vorzüge der Schnellbahn in der süddeutschen Metropole sind und inwieweit sich letztere ergo von anderen Fleckchen der Erde abhebt:
„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten, ohne dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen, am ... am Hauptbahnhof in München starten Sie ihren Flug zehn Minuten – schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an, wenn Sie in Heathrow in London oder sonstwo meine ’s Charles de Gaulle in, äh, Frankreich oder in, äh, in... in Rom, wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen, dann werden Sie feststellen, dass zehn Minuten Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen, um ihr Gate zu finden. Wenn Sie vom Flug – äh vom Hauptbahnhof starten Sie, steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen, in, an den Flughafen Franz-Josef Strauß, dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München – das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern, an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“
Die Schnittmenge erweitert sich noch, wenn man Lübkes Ansprache in Madagaskar aus dem Februar 1966 Stoibers neuester Überraschung gegenüberstellt: Während der Sauerländer (Foto) das Präsidenten-Ehepaar Tsiranana als „Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Tananarive“ adressierte, ihm also kurzerhand den Namen der Hauptstadt ihres Landes verpasste, exhumierte der in Wolfratshausen lebende Oberpfälzer pünktlich zum Karnevalsende ein früheres sowjetisches Staatsoberhaupt und machte es mal eben zu dem der Vereinigten Staaten: „Ich habe es für wohltuend empfunden, dass die Bundeskanzlerin gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Breschnew Guantanamo kritisiert hat und nicht mit dem Rechtsstaat in Übereinklang beurteilt hat.“ (Es ist wohl keine allzu gewagte Annahme, dass Stoiber hier einen durchaus profunden Einblick in seine Assoziationswelten gewährt hat: Vermutlich hat er bei „Guantanamo“ an „Gulag“ gedacht, und für den Rest war dann Freud zuständig.) Bemerkenswert darüber hinaus die Kenntnis der beiden Staatsmänner in Sachen Fußball. Wo Lübke nach dem Wembley-Tor 1966 kurz und knackig wusste: „Der Ball war drin“ – die Niederlage der Deutschen gegen England im WM-Finale also neidlos anerkannte –, verschlug es Stoiber angesichts der Überlegenheit eines anderen Gegners um ein Haar sowohl die Sprache als auch die Arithmetik:
„Wer ein Trio vorne hat wie Ronaldo, Ronaldinho und, äh... die and’ren Brasilianer, Carlo... äh, Roberto Carlos, das ist, äh, das ist, äh, Rivaldo dazu noch, Rivaldo, äh, äh, – äh, äh... Rivaldo und, äh, Ronaldinho und Ro... und Ronaldo also, das dann verloren zu haben, das ist zwar bitter, aber nicht so bitter.“
Doch auch jenseits dieser auffälligen Parallelen ist beiden gemein, dass sie immer wieder mit unvergesslichen semantischen und syntaktischen Sottisen aufwarten konnten respektive können: Lübke etwa mit seinem Gedächtnisverlust im Zonenrandgebiet, seiner Expedition nach Kanada auf den Spuren Karl Mays oder seinem etwas lückenhaften Gartenschau-Märchen; Stoiber nicht zuletzt mit Problembruno, hingerichteten Blumen und einem Gärtner als Bock oder echten gynäkologischen Sensationen. In einem Punkt gibt es jedoch gravierende Unterschiede: Als dem Bundespräsidenten allmählich immer mehr Hohn entgegenschlug, entschied der Bayerische Rundfunk, die entsprechenden Vorstellungen der Münchner Lach- und Schießgesellschaft nicht länger live zu übertragen. Ein solches Spaßverbot ist im digitalen Zeitalter schlicht nicht zu bewerkstelligen; Harald Schmidts Spottkübel etwa sind bundesweit zu empfangen. Und auf Originaltöne ihres Ministerpräsidenten wollen die Vorälpler ohnehin nicht verzichten.

Wenn der nun geht, wird die Welt auch nicht besser. Aber definitiv weniger komisch. In dem, was gewöhnlich als Sachfragen daherkommt, wird sich Stoibers Nachfolger nicht von seinem Vorgänger unterscheiden. Doch er wird nicht das Talent haben, mit schrägen Volten ein ums andere Mal für annehmbare Unterhaltung zu sorgen. Und das ist dann, ja doch, ein herber Verlust.