Schlagereien

Aber es hatte eine explizit politische Mission – und die ist, folgt man den Regeln des Contest, eigentlich gar nicht statthaft. „Lied oder Auftritt dürfen keine politische Botschaft enthalten oder dem Wettbewerbsimage schaden“, heißt es im Reglement neben anderen Verpflichtungen wie „Das Lied darf nicht länger als 3:00 Minuten dauern“, „Das Lied muss live gesungen werden“ oder „Beim Auftritt dürfen keine Tiere mitwirken“. Doch Nicoles gesungenes Gebet wurde ohnehin nicht als politische Aussage verstanden, und dies schlicht deshalb, weil ihr Gesäusel als genauso harmlos, mainstreamfähig und unpolitisch daherkam wie alle anderen Darbietungen auch. Man will halt niemandem weh tun, sondern der treuen Fangemeinde einen sorgenlosen Abend inklusive Alltagsflucht bereiten. Wehe dem also, der diese Eintracht stört oder den man auch nur im Verdacht hat, sie unterminieren zu wollen: Ihm droht schlimmstenfalls die Disqualifikation – wie aktuell dem israelischen Song, der die nationale Vorausscheidung gewann und nun eigentlich am 10. Mai in Helsinki einer internationalen Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.

Die Teapacks kommen aus dem südisraelischen Sderot an der Grenze zum Gaza-Streifen, einer Stadt also, die permanent den Beschuss durch die Kassam-Raketen palästinensischer Terrortruppen ertragen muss. Im israelische Rundfunk hieß es, die Textzeile „Missiles are flying and falling on me“ – „Raketen fliegen und fallen auf mich“ – könne darauf anspielen. Und in der Tat wird es wohl auch so gemeint sein, wenngleich nicht wenige andere Teile des in englischer, französischer und hebräischer Sprache gesungenen Stücks noch andeutungsvoller und strapazierfähiger sind. Zeilen wie „Hardliners become more extreme and officers more serious” – „Die Hardliner werden immer extremer und die Offiziere ernster” – oder das nachfolgende „The naive become more moderate, waiting for the data and reply that everyone is helpless” – „Die Naiven werden moderater, sie warten auf die Daten und antworten, dass jeder hilflos ist” – lassen durchaus Spielraum für Interpretationen; auch die „crazy rulers“ werden nicht näher expliziert. Doch man wird alles in allem davon ausgehen können, dass es Sänger Koby Oz nicht ganz ernst damit war, sich gegen den erwähnten Deutungsversuch zu verwahren; eine Positionierung gegen die iranischen Vernichtungsdrohungen sowie „Kritik an palästinensischen Attacken“, wie Spiegel Online vermutet, dürften vielmehr tatsächlich das Anliegen der Band sein.
Na und?, fragt Claudio Casula zu Recht: „Was wäre so falsch daran, die wahllose Ermordung von Zivilisten in Cafés und Linienbussen zu ‚kritisieren’? So viel Sensibilität wie in dieser Posse würde man sich von den Europäern sonst gern wünschen.“ Doch die haben es eher mit der Friedhofsruhe und schließen den israelischen Beitrag daher womöglich vom Eurovision Song Contest aus. Für diesen Fall hat Casula bereits einen probaten Vorschlag: „Dann könnte, als Mittelmeeranrainerstaat, Ägypten in die Bresche springen und Schlagerstar Shaaban Abd al-Rahim schicken. Dessen Husarenstück führte vor Jahren wochenlang die Hitlisten seines Landes an. Titel: ‚Ich hasse Israel.’ Und wer die Befindlichkeit der Europäer kennt, muss zugeben: Der Song hätte sogar Chancen auf den Gesamtsieg.“ Falls man es bei den Verantwortlichen jedoch gar zu eng sehen sollte und Ägypten lieber nicht am Rennen beteiligen will, bliebe noch die Reaktivierung von Nicole. Die würde auch heute, inzwischen 42-jährig, ihre Frau stehen und trotz gesunkenen Niedlichkeits- und Unschuldsfaktors immer noch ihre in Europa gern gehörte Message rüberbringen, also den Mainstream bedienen. Und der ist, ja doch, gegen Israel. Deshalb bekommt er möglicherweise auch nicht den Song zu hören, der im Vergleich mit der Konkurrenz auch noch musikalisch ambitioniert ist. Dabei müsste das Stück ein echter Anwärter auf den insgesamt vierten israelischen Sieg in dieser Ausscheidung sein, ginge es mit rechten Dingen zu.
Hattip: Sonja Wanner