Schlagereien
Er ist ein Fest für alle Freunde der Volksmusik, dieser alljährliche Eurovision Song Contest, der nun schon seit 1956 Karriere macht und einfach nicht tot zu kriegen scheint. So manches Sternchen hat er aufgehen lassen und so manches Lied hervorgebracht, das noch heute Präsenz im Dudelfunk oder auf Partys beansprucht, mithin als echter Evergreen gelten darf: Waterloo der beiden ABBA-Pärchen beispielsweise, Gewinner des Jahres 1974, oder Save your kisses for me, mit dem die britische Gruppe Brotherhood of Man zwei Jahre später den Sieg einfuhr. Nachhaltig in Erinnerung blieben auch der Ire Johnny Logan – der den Wettbewerb als einziger gleich zwei Mal als Erster beendete, nämlich 1980 und 1987 – und der Österreicher Udo Jürgens, der sich 1966 mit Merci Chérie schadlos hielt und noch heute bei seinen Getreuen enthemmte Begeisterung zu entfachen vermag. Unvergessen zudem der einzige deutsche Beitrag, der sozusagen mit der Goldmedaille ausgezeichnet wurde: Inmitten von Pershing Zwos, Cruise Missiles und SS-20-Geschossen rührte 1982 mit der erst 18-jährigen Saarländerin Nicole Hohloch die engelsgleiche Unschuld ein Publikum zu Tränen, das in jener Zeit regelmäßig zu Abertausenden für Ein bisschen Frieden auf die Straße ging und seine neue Vorsängerin nun gleich reihenweise mit der Höchstnote zwölf bewarf. Denn Nicoles Schlager war das, was die meisten Liedchen dieser Konkurrenz über all die Jahre darstellten: ein nicht auszuhaltendes, konformistisches Zeitgeiststück.
Aber es hatte eine explizit politische Mission – und die ist, folgt man den Regeln des Contest, eigentlich gar nicht statthaft. „Lied oder Auftritt dürfen keine politische Botschaft enthalten oder dem Wettbewerbsimage schaden“, heißt es im Reglement neben anderen Verpflichtungen wie „Das Lied darf nicht länger als 3:00 Minuten dauern“, „Das Lied muss live gesungen werden“ oder „Beim Auftritt dürfen keine Tiere mitwirken“. Doch Nicoles gesungenes Gebet wurde ohnehin nicht als politische Aussage verstanden, und dies schlicht deshalb, weil ihr Gesäusel als genauso harmlos, mainstreamfähig und unpolitisch daherkam wie alle anderen Darbietungen auch. Man will halt niemandem weh tun, sondern der treuen Fangemeinde einen sorgenlosen Abend inklusive Alltagsflucht bereiten. Wehe dem also, der diese Eintracht stört oder den man auch nur im Verdacht hat, sie unterminieren zu wollen: Ihm droht schlimmstenfalls die Disqualifikation – wie aktuell dem israelischen Song, der die nationale Vorausscheidung gewann und nun eigentlich am 10. Mai in Helsinki einer internationalen Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.
Push the Button heißt er, zu Deutsch Drück den Knopf, interpretiert von der Gruppe Teapacks. „The world is full of terror, if someone makes an error, he’s gonna blow us up“ – „Die Welt ist voller Terror, wenn jemand einen Fehler macht, jagt er uns in die Luft“ – singt Koby Oz, gleichzeitig Texter der Band, zu Beginn, und dann: „There are some crazy rulers, they hide and try to fool us, with demonic, technologic willingness to harm“ – „Da sind einige verrückte Führer, die verstecken sich und versuchen uns zum Narren zu halten, mit der dämonischen technologischen Bereitschaft, Schaden anzurichten“. Aus diesen Zeilen eine Anspielung auf den Iran und seinen Präsidenten herauszuhören, sei gleichwohl eine „Missdeutung“, sagte Oz. Das sah Kjell Ekholm, einer der Organisatoren des Contest, jedoch anders; „diese Art von Aussage“ sei „absolut unangebracht für den Wettbewerb“, meinte er gegenüber der israelischen Tageszeitung Ha’aretz. Beim zuständigen finnischen Sender YLE seien inzwischen haufenweise E-Mails mit Beschwerden über das Lied eingegangen. Über eine mögliche Disqualifizierung muss nun die European Broadcasting Union (EBU) entscheiden. Die hat die Entscheidung jedoch zunächst vertagt. Der zuständige EBU-Leiter Svante Stockselius sagte, man könne keine Entscheidung vor dem 12. März treffen, dem Ende der offiziellen Bewerbungsfrist für die teilnehmenden Länder. Ausgeschlossen würden jedenfalls Songs mit beleidigenden, rassistischen oder zu politischen Themen. „Diese Prüfung betrifft aber sämtliche Einreichungen“, so Stockselius.
Die Teapacks kommen aus dem südisraelischen Sderot an der Grenze zum Gaza-Streifen, einer Stadt also, die permanent den Beschuss durch die Kassam-Raketen palästinensischer Terrortruppen ertragen muss. Im israelische Rundfunk hieß es, die Textzeile „Missiles are flying and falling on me“ – „Raketen fliegen und fallen auf mich“ – könne darauf anspielen. Und in der Tat wird es wohl auch so gemeint sein, wenngleich nicht wenige andere Teile des in englischer, französischer und hebräischer Sprache gesungenen Stücks noch andeutungsvoller und strapazierfähiger sind. Zeilen wie „Hardliners become more extreme and officers more serious” – „Die Hardliner werden immer extremer und die Offiziere ernster” – oder das nachfolgende „The naive become more moderate, waiting for the data and reply that everyone is helpless” – „Die Naiven werden moderater, sie warten auf die Daten und antworten, dass jeder hilflos ist” – lassen durchaus Spielraum für Interpretationen; auch die „crazy rulers“ werden nicht näher expliziert. Doch man wird alles in allem davon ausgehen können, dass es Sänger Koby Oz nicht ganz ernst damit war, sich gegen den erwähnten Deutungsversuch zu verwahren; eine Positionierung gegen die iranischen Vernichtungsdrohungen sowie „Kritik an palästinensischen Attacken“, wie Spiegel Online vermutet, dürften vielmehr tatsächlich das Anliegen der Band sein.
Na und?, fragt Claudio Casula zu Recht: „Was wäre so falsch daran, die wahllose Ermordung von Zivilisten in Cafés und Linienbussen zu ‚kritisieren’? So viel Sensibilität wie in dieser Posse würde man sich von den Europäern sonst gern wünschen.“ Doch die haben es eher mit der Friedhofsruhe und schließen den israelischen Beitrag daher womöglich vom Eurovision Song Contest aus. Für diesen Fall hat Casula bereits einen probaten Vorschlag: „Dann könnte, als Mittelmeeranrainerstaat, Ägypten in die Bresche springen und Schlagerstar Shaaban Abd al-Rahim schicken. Dessen Husarenstück führte vor Jahren wochenlang die Hitlisten seines Landes an. Titel: ‚Ich hasse Israel.’ Und wer die Befindlichkeit der Europäer kennt, muss zugeben: Der Song hätte sogar Chancen auf den Gesamtsieg.“ Falls man es bei den Verantwortlichen jedoch gar zu eng sehen sollte und Ägypten lieber nicht am Rennen beteiligen will, bliebe noch die Reaktivierung von Nicole. Die würde auch heute, inzwischen 42-jährig, ihre Frau stehen und trotz gesunkenen Niedlichkeits- und Unschuldsfaktors immer noch ihre in Europa gern gehörte Message rüberbringen, also den Mainstream bedienen. Und der ist, ja doch, gegen Israel. Deshalb bekommt er möglicherweise auch nicht den Song zu hören, der im Vergleich mit der Konkurrenz auch noch musikalisch ambitioniert ist. Dabei müsste das Stück ein echter Anwärter auf den insgesamt vierten israelischen Sieg in dieser Ausscheidung sein, ginge es mit rechten Dingen zu.
Hattip: Sonja Wanner